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Daniel wußte, daß Benda zurückgekehrt war. Philippine hatte es in der Zeitung gelesen und ihm gesagt. Dorothea, die es von ihrem Vater erfahren, hatte gleichfalls darüber gesprochen. Auch andere Leute hörte er davon reden.
Die erste Kunde hatte ihn erbeben gemacht. Ihm war, als müsse er hineilen, hinfliehen zu dem Freund. Dann kam die nämliche Furcht über ihn, von der Benda beseelt war: Ist es noch zwischen uns wie einst? kann es noch so werden, wie es einst gewesen? Und der Gedanke an die Begegnung erweckte eine Scham in ihm, der sich Bitterkeit beimischte, als Tag um Tag verging, ohne daß Benda etwas von sich hören ließ. Es ist vorbei, dachte er, er hat vergessen. Da wollte auch er vergessen, und er konnte es, denn sein Geist wandelte ruhlos in der Irre.
Als er an einen. Regenabend über den Platz schritt, sah er, daß die Fenster seiner Wohnung strahlend erleuchtet waren. Er trat in die Küche, wo Agnes an der Anricht saß und Zwetschgen auskernte.
»Wer ist denn wieder da?« fragte er. Lautes Sprechen und Lachen drang aus der Wohnstube.
Agnes, kaum aufblickend, leierte Namen her: »Der Hofrat Finkeldey, der Herr von Ginsterberg, der Herr Samuelsky, der Herr Hahn, noch ein fremder Herr, die Kommerzienrätin Feistmantel und ihre Schwester.«
Daniel schwieg eine Weile. Dann ging er zu Agnes, faßte sie mit der Hand unter dem Kinn, hob ihren Kopf und murmelte: »Und du? und du?«
Agnes zog die Brauen zusammen und war fast ängstlich bemüht, seinem Auge nicht zu begegnen. Plötzlich sagte sie: »Heut ist Mutters Sterbetag,« und heftete einen stechenden Blick auf ihn.
»So?« erwiderte Daniel, setzte sich an die schmale Seite der Anricht und stützte den Kopf in die Hand. Drinnen in der Stube spielte jemand Klavier; Dorothea hatte sich, da Daniel den Flügel oben in seiner Kammer hatte, aus einer Leihanstalt ein Pianino kommen lassen. Man hörte das rhythmische Schlürfen von Tanzpaaren.
»Möcht fort aus dem Haus,« begann Agnes wieder und warf eine wurmige Zwetschge in den Blechkübel; »in der Beckschlagergasse wohnt eine Weißnäherin, die will mich's Nähen lehren.«
»Geh nur fort,« antwortete Daniel, »ist ganz vernünftig. Aber wird's auch der Philippine recht sein?«
»Ja, der Philippine ist's recht, wenn ich nur am Abend und alle Sonntag bei ihr bin.«
Es läutete am Gatter, und Agnes ging hinaus. Jemand fragte nach Daniel. Zögernd trat Daniel auf die Schwelle, zuckte zurück, ergriff mit bebender Hand das Küchenlämpchen, um zu sehen, ob ihn die Halbdunkelheit nicht trog; aber es war kein Zweifel, es war Benda.
Sie blickten einander erschüttert an. Benda streckte zuerst die Hand hin, Daniel gab die seine, es löste sich etwas in ihm, ein Schwindel befiel ihn, seine starr aufrechte Gestalt wankte, und er stürzte dem Freund, den er siebzehn Jahre lang entbehrt hatte, an die Brust.
Benda war auf eine so schreckliche Bewegung nicht gefaßt und konnte kein Wort hervorbringen. Alsbald machte sich Daniel los, strich die wirren Haare aus der Stirn und sagte hastig: »Komm mit mir hinauf; droben sind wir ungestört.«
Nachdem Daniel in seiner Kammer die Lampe angezündet hatte, sah er nach, ob der alte Jordan daheim sei. Aber es war finster in dessen Stube; er schloß die Tür wieder und setzte sich Benda tiefaufatmend gegenüber.
Was bedeuten nach solchem Wiedersehen erste Fragen und Antworten? Wie geht's dir? wie lange bleibst du? du lebst also noch in der alten Weise? nun mußt du aber erzählen. Was können solche Wendungen bedeuten? Es soll nichts gesagt werden; man gräbt die verschütteten Wege auf, will neue Brücken an Stelle der zerbrochenen schlagen.
Benda war noch dicker geworden. Sein Gesicht war braungelb wie altes Leder, und die tiefgehöhlten Furchen um den Mund und auf der Stirn sprachen von erduldeten Leiden und Strapazen. Sein Auge hatte einen völlig veränderten Ausdruck; es besaß den starken, lebhaften, dabei ruhigen Blick der Jäger und der Bauern.
»Du kannst dir denken, daß ich schon hundertmal und immer auf dieselbe Weise meine Abenteuer zum besten gegeben habe,« sagte Benda. »Es ist alles niedergeschrieben, und in kurzer Zeit kannst du's lesen. Es war eine Kette von Mühsalen, oft war ich dem Tod so nah wie hier der Wand. Chinin hab ich vertilgt, so viel, daß man einen Frachtwagen damit füllen könnte, und trotzdem Fieber, immer wieder Fieber, sechs Monate im Jahr. Meine Gesundheit hab ich vertan, lang wird's das Herz nicht mehr aushalten, fürchte ich. Und das ewige Aufderhutsein, der unablässige Kampf um den Pfad, um Nahrung, um Wasser; die Sonne eine Plage, der Regen eine Plage, ohne Bequemlichkeit, oft ohne Bett, niemals eine Ansprache, nirgends Sicherheit. Aber schau ich jetzt zurück, so möcht ich doch keine Stunde von allen im Gedächtnis missen. Ich habe Großes erreicht, wichtige Entdeckungen gemacht, Arbeit für Jahre mitgebracht, sechsunddreißig Kisten mit Pflanzenpräparaten, obgleich mir die Ausbeute der sieben ersten Jahre in einem Zelt bei den Nembos verbrannt ist. Aber außerdem hat es so etwas unendlich Wahres und Feierliches, ein solches Leben, nur mit dem Himmel über sich und den wilden Menschen um sich. Diese Wilden, sie sind wie Kinder. Freilich wird's bald anders werden, Europa haucht schon seine Pest ins Paradies; ihre Unarten, Schwächen und Laster haben das Rührende wie beim Tier. Einen Knaben hatt ich mir mitgenommen, einen Zwerg aus dem ungeheuern Urwald nördlich vom Kongo. Er war mir ergeben auf den Wink, und ich hab ihn liebgehabt, das kann ich ruhig sagen. Als wir zu den italienischen Seen kamen, wo ich des klimatischen Übergangs wegen eine Weile bleiben wollte, eh ich nach England fuhr, ergriff ihn beim Anblick der schneebedeckten Berge eine lähmende Angst, er bekam Heimweh, und nach ein paar Tagen starb er mir an einer Lungenentzündung.«
»Wieso hat man so lange nichts von dir gehört?« fragte Daniel mit einer Schüchternheit, die Benda weh tat.
»Das ist eine weitläufige Geschichte,« antwortete er. »Hat es doch zwei Jahre gedauert, bis ich durch jenen fürchterlichen Wald gekommen war, an einen See, der Albert-Njansa heißt. Von dort wollt ich nach Ägypten durchdringen, aber das Land war noch immer in Aufruhr und von den Kriegern des Mahdi besetzt. Ich wurde nach Nordwesten gedrängt, in weglose Wildnisse, und war fünf Jahre in Gefangenschaft bei einem Stamm der Wadai. Die Niam-Niam, die mit ihnen Krieg führten, befreiten mich; ich konnte ziemlich nach meinem Gefallen unter ihnen leben, doch aus ihrem Lande ließen sie mich nicht fort, denn sie schätzten mich als Medizinmann und fürchteten, ich könne sie verzaubern, wenn sie meiner Person nicht mehr versichert waren; ich hatte auch keine Leute mehr, kein Geld, um Träger anzuwerben. Was ich brauchte, um mit meiner verfeinerten Beschaffenheit nicht zu verkommen, ließ mir der Häuptling durch die arabischen Händler bringen, vor denen er mich verborgen hielt, aber endlich gelang es mir doch, mich mit einem der Scheichs zu verständigen, und es war die höchste Zeit, ich hätte kein Jahr mehr überlebt.«
Daniel schwieg. Es war so seltsam; er konnte sich in Bendas Art und Stimme kaum finden. Die Erinnerung versagte; die Sphäre, aus der jener trat, hatte etwas Allzufremdes, und was er selber fühlte, mußte dort ohne Gewicht sein, ja fast ohne Sinn. Mit düsterm Trotz lockte er das Gespenst der Enttäuschung zu sich heran, und sein Gemüt war von nächtiger Schwärze bedrückt wie das Glas des Fensters.
»Nun genieß ich die Heimat,« sagte Benda versonnen, »freu mich am milderen Licht, am geordneten Wesen. Ich habe Deutschland als Gestalt begriffen, als Gebilde lieben gelernt. Die Natur, die wirkliche große Natur, die meiner Sehnsucht einst kaum erreichbar schien, die mir Idee und Ahnung der Vollkommenheit war, die ist mir nun Erfahrung geworden; sie hat mich gelockt, hat mich belehrt und beinahe zerstört. Alle menschliche Organisation hat sich mir dagegen mehr und mehr zur Idee entwickelt. In Stunden, die so voll vom Gefühl der Dinge waren, wie das Herz voll von Blut ist, hab ich die Schalen mit den Gewichten zweier Welten schwanken sehen. Die Einsamkeit, die Nacht, der nächtliche Himmel, der Wald, die Wüste haben mir ihre wahren Gesichter gezeigt, und das Grauen, das bisweilen von ihnen ausgeht, hat kein Gleichnis in irgendeinem andern Zustand des Daseins. Da hab ich erst das Gesetz begriffen, das Familien, Völker und Staaten zusammenhält. Da hab ich alle Rebellion abgeschworen und nur mitzuwirken beschlossen, nichts andres als mitzuwirken. Ich will dir etwas gestehen: ich habe früher nichts vom Rhythmus des Lebens gewußt. Ich hatte gewußt, wie langsam ein Baum wächst, wie viele Metamorphosen eine Pflanze hinter sich haben muß, um das zu sein, als was sie sich darstellt, aber die Anwendung auf unser Leben zu machen, war mir nie in den Sinn gekommen. Ich hatte zu viel gefordert und alles zu rasch. Egoistische Ungeduld hatte mir falsches Maß und Gewicht in die Hand gespielt. Was ich in der schweren Schule vieler Jahre gelernt habe, ist Geduld. Es geht alles so sehr, sehr langsam. Die Menschheit ist noch ein Kind, und wir verlangen schon Gerechtigkeit von ihr. Gerechtigkeit! wie weit ist es noch bis dahin! So weit wie vom Urwald zum Garten. Wir müssen Geduld üben für viele Generationen, die nach uns kommen.«
Daniel erhob sich und ging auf und ab. Nach einer Stille, die Benda marterte, sagte er gepreßt: »Laß uns fortgehen, in ein Wirtshaus oder auf den Gassen herum, wohin du willst. Oder wenn ich dir lästig bin, begleit ich dich ein Stück und bleib dann allein. Nur hier kann ich nicht länger sein.«
»Mir lästig, Daniel?« erwiderte Benda vorwurfsvoll. Das war der Ton von ehemals, der Blick von ehemals. Und Daniel spürte plötzlich, daß er seinerseits nicht nötig hatte, viel zu erzählen; diesem Ton und Blick entnahm er, daß Benda vieles wußte, alles ahnte. Es wurde ihm leichter ums Herz.
Sie gingen hinunter.