Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Der Inspektor hatte Gertrud am Arm nach Hause geführt und es rücksichtsvoll vermieden, sie durch irgendwelche Frage zu beunruhigen. In der Wohnstube zündete er die Lampe an, hierauf war er dem Mädchen beim Ausziehen der Jacke behilflich.

»Wie geht's?« forschte er freundlich, »schon besser?«

Gertrud wandte sich ab und setzte sich auf einen Stuhl.

»Jetzt werden wir einen heißen Tee kochen,« fuhr der alte Mann fort, »dann wird sich das Kind ins Bett legen, und morgen früh sind wir wieder wohlauf. Gelt?«

Gertrud erhob sich. »Vater!« preßte sie hervor und suchte mit der Hand das Tischbrett zur Stütze.

»Gertrud! was hast du?« rief Jordan entsetzt.

Sie machte eine eigentümlich schleifende Bewegung mit dem Oberkörper und ein kraftloses Lächeln zuckte über ihr Gesicht. Auf einmal brach sie in ein Schluchzen aus und lief in ihre Kammer. Der Inspektor vernahm, wie sie zuriegelte, schaute versorgt vor sich hin und schlich nach einer Weile auf den Fußspitzen zur Türe.

Er hatte die Hände unter dem Kinn verschränkt und hörte, wie Gertrud weinte. Es war ein gleichmäßiges und rührendes, nicht so sehr schmerzerfülltes, als ausatmendes Weinen.

Indem der Inspektor das einsame, unfrohe und undurchdringliche Leben dieser Tochter an seinem Geiste vorüberziehen ließ, wurde er sich mit einigem Erstaunen bewußt, daß sie heute zum erstenmal wirkliche Musik gehört habe. Ist denn das möglich? fragte er sich, entsann sich aber keines Falles, der ihn an dieser Tatsache zweifeln ließ.

Er sagte sich ungefähr: gewiß hat die ihr völlig unbekannte Süßigkeit und Kraft, die im Zusammenspiel der Geigen enthalten ist, der Wohlklang des Orchesters und die Schönheit der Melodie mit einer so verhängnisvollen Unmittelbarkeit auf sie gewirkt wie das Sonnenlicht auf einen Menschen, dem der Star gestochen ist. Ihre Seele hat Hunger gelitten, so muß es wohl sein; sie hat zu viel um das Unbegreifliche und Ungreifbare gerungen.

Man muß sie weinen lassen, riet ihm der Instinkt der Liebe; es ist gut, daß sie weint, es wird ihr wohl tun. Er rückte einen Stuhl in die Nähe der Türe, setzte sich hin und wartete. Als sie endlich still wurde, war ihm das Herz leichter.


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