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Lenore hatte ihrem Vater verschwiegen, aus welchem Grund sie ihre Stellung bei Alfons Diruf verlassen hatte. Der Inspektor erkundigte sich auch nicht weiter darnach, als er bemerkt hatte, daß es Lenore unangenehm war, davon zu sprechen. Ihm ahnte nichts Gutes, und wenn er schwieg, geschah es auch aus Furcht vor seinem eigenen Zorn und Schmerz.
Indes hatte Lenore Beschäftigung gefunden. Eine Schulkameradin, die sie ehedem gut leiden gemocht, Martha Degen, die Tochter des Zuckerbäckers, hatte den Notar Rübsam geheiratet, einen alten Mann übrigens. Lenore kam einigemal ins Haus, da der Inspektor auch seit langen Jahren mit dem Notar befreundet war, und im Gespräch ergab es sich, daß der Notar eine Hilfskraft für Schreibarbeiten brauchte. Da in der Kanzlei des Notars kein Platz war, durfte sie die Schreibereien zu Hause besorgen.
Außerdem war sie durch Friedrich Benda an den Archivrat Bock empfohlen worden, welcher ein weitläufiges Werk über nürnbergische Geschichte abfaßte, und sie sollte nun die verhudelten Handschriften des Archivrats ins Reine bringen.
Ein mühevolles Ding, aber dabei erfuhr sie doch mancherlei, ihr durstiger Geist saugte Nahrung auch aus dürrem Boden.
Ihr Verlangen wurde wach, das Stückwissen zu ergänzen, sie bat Benda um dies und jenes Buch, und wenn sie den Tag über fleißig die Feder geführt hatte, las sie oftmals bis in die späte Nacht.
Es blieb aber nichts außen hängen an ihr, so daß sie es mühselig mitschleppen mußte. Es wurde ihr alles zum Wesen.
Lange hatte sich Daniel nicht sehen lassen. Er hatte bei den Proben zu tun, die von Wurzelmann geleitet wurden. Professor Döderlein sollte nur das eingeübte Orchester übernehmen. Außer Daniels Kompositionen stand die dritte Leonoren-Ouvertüre auf dem Programm und Wurzelmann nannte dies einen guten Vorspann.
Häufig wurde Daniel auch vom Impresario Dörmaul gerufen; die Wanderoper sollte im März ihre Reisen antreten und es war vieles zu besprechen. Der Vertrag, den er dann unterschrieb, verpflichtete ihn für drei Jahre gegen ein Gehalt von sechshundert Mark für das Jahr.
Ein paar Tage vor der Generalprobe kam er zu Jordans und brachte drei Karten, eine für den Inspektor und zwei für die Schwestern. Die Generalprobe war wie ein Konzertabend für sich, und es waren über hundert Personen dazu geladen worden.
Der Inspektor war eben im Begriff auszugehen. »Das ist aber fein,« sagte er, »das ist riesig fein, daß ich wieder mal Musik hören kann. Da freu ich mich ja ganz außerordentlich drauf. Als junger Bursche, ja, da bin ich manchmal ins Konzert gegangen. Das ist lang her und wenn man's denkt, spürt man erst, wie alt man geworden ist. Die Jahre hängen wie Mühlsteine an einem. Nun, ich dank Ihnen, Daniel, dank Ihnen wärmstens.«
Auch Lenores Freude war groß. Als ihr Vater fort war, bemerkte sie, daß Daniels Augen Gertrud suchten, die bei seinem Kommen das Zimmer verlassen hatte. Sie öffnete die Tür und rief hinaus: »Gertrud, komm schnell! eine Überraschung!«
Nach einer kleinen Weile kam Gertrud.
»Ein Billett für dich, für Daniels Konzert,« sagte Lenore strahlend und hielt ihr die grüne Karte hin.
Gertrud schaute Lenore an und wollte auch Daniel anschauen, aber ihr schwerer Blick, von unten emportauchend, streifte ihn nur und kehrte wie gepeinigt wieder zurück. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte langsam: »Ein Konzertbillett? Für mich? Für mich, Lenore? Ist das dein Ernst?« Abermals schüttelte sie den Kopf, erstaunt und unwillig. Hierauf ging sie zum Fenster, lehnte den Arm ans Kreuz und preßte die Stirn dagegen.
Daniel verfolgte sie mit Blicken voll glühendem Zorn. »Man kann Schafe zu einer Schlachtbank treiben,« sagte er, »man kann Räuber und Diebe in eine Fronfeste sperren, man kann Aussätzige ins Lazarett transportieren, aber man kann einen fühlenden Menschen nicht zum Anhören von Musik zwingen.«
Er schwieg und es blieb still. Gequält durch die Empfindung, daß Daniels Blick an ihrem Rücken haftete, kehrte sich Gertrud um, ging zum Ofen, setzte sich dort hin und legte die Wange an die Kacheln.
Mit zwei Schritten stand Daniel dicht vor ihr und stieß heraus: »Wenn ich es aber fordere, daß Sie gehen? Wenn zum Beispiel meine Ruhe davon abhängt, oder etwas, was vielleicht für die Welt wichtig ist? Trost, Befreiung, Besserung? Und wenn ich es deshalb fordere, was dann?«
Aus Gertruds Zügen war alle Farbe gewichen. Eine Sekunde lang weilte ihr Blick auf seinem Gesicht, hierauf wandte sie den Kopf zur Seite, zog wie frierend die Schultern in die Höhe und stammelte: »Dann . . . dann gehe ich. Ja, dann gehe ich. Obwohl ich's bereuen werde . . . sicher bereuen werde.«
Mit großen, immer größer werdenden Augen hatte Lenore alles dies vernommen. Als sie Daniel anschaute, lag eine gütige, schmelzende Feuchtigkeit in ihrem Blick und sie lächelte.
Daniel war aber auf einmal verdrießlich geworden. Er murmelte einen Gruß und ging. Lenore trat ans Fenster und sah ihm nach, wie er über den Platz rannte, den Hut mit beiden Händen vor dem Sturmwind schützend.
»Komischer Kerl,« sagte sie leise, »komischer Kerl.«
Dann erhob sie das Auge zu den Wolken, deren eilige Flucht über das Kirchendach ihr gefiel.