Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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14

Als Daniel nach Hause kam, war es spät. Trotzdem setzte er sich in seinem Zimmer noch zur Lampe und las im Titan von Jean Paul. Nach einer Weile befreiten sich seine Gedanken von dem Buch und zogen ihre eigenen Wege. Er stand auf, ging zum Klavier, öffnete den Deckel und schlug leise einen Akkord an. Er lauschte mit geschlossenen Augen. Ihn dünkte, es rief ihn jemand. Die Nacht war schwül, die Stille unheimlich.

Noch einmal den Akkord; Glocken aus der Unterwelt. Und wenn sich die in ihrer Zartheit hinaufschwangen, durch grüngraue Nebel hinauf, und jeder Ton entsandte seine dienende Schar wie Funken, die aus einer Rakete stieben, und Gleichgeartete trafen aufeinander, und was fremd war, fiel zurück, und oben, ganz unerreichbar, berückend deutlich, doch fern wie eine Todesvision der Vollendung, die Melodie der Liebe, die Melodie von Lenore . . .

Ja, es rief ihn jemand; aber aus welchem Winkel der Welt? Sein Weib? Die Ferne, die Düstere, die Wartende? Er ließ den Klavierdeckel fallen, so daß das Echo des Geräuschs von der Kirchenmauer drüben durch das offene Fenster zurückkehrte.

Er löschte die Lampe aus, betrat ohne Licht das Schlafzimmer und entkleidete sich beim Schein des Mondes. Der Rand des Vorhangs war mit schwarzen Mäandrinen gegiert, und diese zeichneten sich auf dem Boden des Raumes ab; gezackte Pfade und ziellos; alle die vielen Linien bestanden im Grunde nur aus einer einzigen.

Er lag im Bett, und sein Herz fing an zu klopfen. Plötzlich wußte er, ohne hingesehen zu haben, daß Gertrud nicht schlief, sondern so wie er nach oben, ins Leere, starrte. »Gertrud!« rief er.

Aus dem leisen Rascheln des Kissens schloß er, daß sie ihm das Gesicht zuwandte.

»Hörst du mich?«

»Ja, Daniel.«

»Du mußt mir raten; du mußt mir helfen. Hilf mir und deiner Schwester, sonst weiß ich nicht, was geschieht.«

Er hielt inne, um zu lauschen, doch es regte sich nichts.

»Man kann aus Rücksicht lange schweigen,« fuhr er fort; »schweigt man zu lang, so wird Lug und Trug daraus. Was soll aber die Offenheit, wenn man dem andern dadurch, nur um freie Bahn zu bekommen, das Messer in die Brust stößt? Was hilfts, zu gestehen, wenn der andere nicht begreift? Zwei verbluten schon; und der dritte soll auch verbluten, bloß damit geredet ist? Wird ohnehin zu viel geredet. Die Worte, die schauderhaften, schamlosen Worte, vor denen die unschuldige Nacht der Sinne vergeht! Und muß man denn verbluten, wenn einem immer klarer und klarer wird: das, wogegen du dich aufbäumst, sind ja nicht die ewigen Gesetze, wie kann ich Zwerg den ewigen Gesetzen etwas anhaben? Nein, es sind die gebrechlichen und wandelbaren Einrichtungen der Menschen –? Hörst du mich, Gertrud?«

Ein Ja wie ein Vogelton aus weiter Ferne antwortete ihm.

»Nun kann ich aber nimmer schweigen. Ohne dich geht der Weg nicht weiter. Ich will den Mund nicht voll nehmen, nicht von Leidenschaft und Nichtanderskönnen sprechen. Möglich, daß man immer noch anders kann, wenn man beizeiten anfängt. Aber wer die Zeit wüßte! Und Leidenschaft? Es gibt gar vielerlei von der Sorte. Jeder Schwengel nennt sein Gelüstchen so. Ich hatte von keiner was gespürt, an der ein Weib die Schuld getragen. Jetzt hats mich gepackt mit Haut und Haaren. Hab mir eingebildet, ich könnte mich und dich darüber wegbringen. Verlorene Müh. Es brennt, Gertrud, es verbrennt mich, ich bin nicht mehr da, wo ich bin, mein ganzer Mensch ist umgewandelt, und wenn nicht Rat geschafft wird, geh ich zugrund.«

Eine Zeitlang blieb es totenstill; dann begann er wieder.

»Wie aber Rat schaffen? Es ist so wunderlich; seitdem das geschehen ist, weiß ich erst, was uns beide, mich und dich, zusammenhält. Da spinnen sich eben Fäden hinüber und herüber, an die keine Hand greifen darf, ohne zu verdorren, wie's in der Schrift heißt. Da ist ein Geheimnis, ein heiliges Geheimnis, und verletzt' ich's, so wär mir's, als würgt ich nicht nur das Kind in deinem Leib, sondern auch all die ungeborenen Lieder in meiner Brust. Es gibt im Leben jedes Mannes eine Frau, in der ihm die Mutter wieder jung wird, an die ihn eine unsichtbare, unzerreißbare Nabelschnur bindet, und der gegenüber seine Liebe, groß oder klein, sein Haß sogar, seine Gleichgültigkeit zum Phantom wird, wie alles, was wir austeilen, zum Phantom wird an dem, was uns ausgeteilt wird. Und es gibt eine andere Frau, die ist mein Geschöpf, die Frucht meiner Träume, die ist mein Bild, die hab ich aus meinem Blut gezeugt, die ist in mir gelegen wie der Samen in der Blüte, und die muß mein sein, wenn sie sich enthüllt hat, oder ich sterbe vor Einsamkeit und Sehnsuchtswut.«

Der maßlose Mensch drückte sein Gesicht in das Kissen und stöhnte: »Die muß mein sein, oder ich steh nimmer auf vom Bett. Aber trät ich über dich hinweg, Gertrud, so müßt ich rufen wie Faust: o, wär ich nie geboren.«

Gertrud gab keinen Laut von sich. Als nun Minute auf Minute verfloß und Daniel, ruhiger werdend, ins Zimmer horchte und das Schweigen der Frau ihn mit Angst erfüllte, richtete er sich empor. Der Mond war untergegangen, es war stockfinster geworden. Daniel tastete nach Zündhölzern und machte Licht. Die brennende Kerze in der Hand, beugte er sich zu Gertrud hinüber. Sie war totenbleich. Mit weiten Augen schaute sie in die Höhe.

»Lösch das Licht aus, Daniel,« flüsterte sie, »ich muß dir was sagen.«

Er blies das Licht aus und stellte den Leuchter weg.

»Gib mir die Hand, Daniel.«

Er suchte ihre Hand, ergriff sie, die eiskalt war, und legte sie auf seine Brust.

»Darf ich bei dir bleiben, Daniel? Willst du mich bei dir dulden?«

»Dulden, Gertrud, wie denn dulden?« fragte er tonlos; »du bist mein Weib; vor Gott mein Weib,« fügte er hinzu, in dumpfer Erinnerung des Wortes einer andern.

»So will ich auch deine junggewordene Mutter sein. Wie du es willst.«

»Ja, wie denn Gertrud, wie?«

»Ich will euch helfen, dir und Lenore. An mir sollt ihr nicht verbluten. Nur laß mich da sein.«

»Das sagt sich leicht, Gertrud, aber es ist schwer.« Er schmiegte sich dicht an sie, schloß sie in seine Arme und schluchzte mit unerwarteter Heftigkeit.

»Es ist schwer. Ja, es ist schwer. Aber du darfst nicht an mir verbluten.«

Sein Kopf lag an ihrer Brust; Krämpfe schüttelten ihn, bis der Tag heraufdämmerte.

Da kam es plötzlich wie ein Schrei von Gertruds Lippen: »Ich bin ja auch eine Kreatur!«

Als er sie dann fest umschlang, murmelte sie: »Es ist schwer, aber sei nur getrost, Daniel, sei nur getrost.«


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