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Ein paar Tage später geschah es, daß sie bei strömendem Regen ziellos in den Straßen herumlief. Jeden Augenblick fürchtete, hoffte sie, umzufallen und nichts mehr von sich und der Welt zu wissen. An zwei Kirchen war sie vorüber gekommen; die Tore waren versperrt gewesen. Es dämmerte schon, da kam sie zur Pflaumschen Apotheke. Sie schaute durch die Glastüre in den Laden. Der Provisor Seelenfromm stand an dem langen Tisch und rieb eine Mixtur in einem Mörser. Endlich ging sie hinein und fragte den Provisor, ob er ihr kein Schlafmittel verkaufen könne. Er antwortete, ja, das könne er und was es denn sein solle. »Eines, bei dem man halt recht lang nicht mehr aufwacht,« sagte sie und lächelte ihm zu, um ihn ihrer Bitte geneigt zu machen. Es war das erste Lächeln, das seit vielen Tagen ihr abgehärmtes Gesicht verschönte. Der Provisor wollte ihr eben ein Mittel vorschlagen und setzte sich hierzu in eine etwas eitle Positur, da er die Gelegenheit benutzen wollte, um ein wenig mit der von ihm bewunderten Frau zu scharmuzieren, da kam der Apotheker selbst, und als er vernommen hatte, worum es sich handelte, warf er einen durchdringenden Blick auf Gertrud und sagte: »Gehen Sie nur erst zum Doktor, liebe Frau, und lassen Sie sich was verschreiben. Ich habe mit solchen Sachen schon mancherlei Unannehmlichkeiten gehabt.«
Als Gertrud sich endlich bis nach Hause geschleppt hatte, saß Philippine an der Wiege der kleinen Agnes und schaukelte die Wiege unter leisem Gesumm. »Wo ist denn Lenore?« fragte Gertrud.
»Wo soll sie sein,« erwiderte Philippine gehässig, »bei deinem Mann droben.«
Gertrud hörte, daß Daniel Klavier spielte. Sie hob lauschend den Kopf.
»Sie hat gesagt, ich soll sie nach Glaishammer begleiten,« fuhr Philippine fort, »sie will zu einer Waschfrau gehn, die soll für euch waschen.«
»Ach, wozu brauchen wir denn eine Waschfrau,« antwortete Gertrud müde, »dazu sind wir ja zu arm. Das kostet ja alles Geld. Alles ein Stück Herzblut von Daniel. Nein, laß das nur. Geh nicht nach Glaishammer. Ich will selber waschen.«
In derselben Sekunde wußte sie aber schon, daß sie nie mehr waschen werde. Die Lampe brannte so traurig, das Kindergesichtchen lugte so blaß aus dem Linnen, Philippine kauerte so unheilvoll auf der Erde, aber das war nur jetzt, nur jetzt, sie konnte das alles mit hinauftragen in eine bessere Welt.
Sie beugte sich über das schlafende Kind und küßte es lange, lange, mit heißen Lippen, inbrünstig. Eine lauernde Unruhe malte sich in Philippines Zügen. »Du, Gertrud, du kommst mir aber spanisch vor,« sagte sie.
Gertrud ging in Lenores Stube hinüber; zitternd stand sie im Finstern und überlegte. Manchmal zuckte sie zusammen, weil sie Schritte vernahm und das Öffnen der Tür erwartete. Die Ungeduld, die sie fühlte, war kaum mehr auszuhalten. Da erinnerte sie sich des Dachbodens und wie still es neulich droben gewesen war. Dort konnte sie keiner stören. Sie beschloß hinaufzugehen, und auf dem Weg ging sie noch in die Küche und nahm eine dicke Schnur mit, die von einem Zuckerhut stammte.
Als sie an Daniels Zimmer vorbeikam, sah sie, daß die Tür halb offen war. Er spielte noch, zwei Kerzen standen auf dem Klavier, Lenore war an der Seite hingelehnt, hatte den Kopf auf den Arm gestützt und trug ein Kleid von kargem Blau, welches an ihrer schönen Gestalt ruhig herabfloß.
Mit großen Augen betrachtete Gertrud dieses Bild. Ein unsägliches Drängen, ein Emporlangen und schmerzliches Zurücksinken lag in Daniels Spiel. Gertrud ging unhörbar weiter, ins Dunkel hinauf, und tastend fand sie sich zurecht.