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In Müllenhoffs Rechtschreibung.
Wie sehr man auch bei uns sich der Vernachlässigung und Verachtung der mündlichen Überlieferungen des Volkes schuldig gemacht hat, beweist hinreichend die geringe Ausbeute, die die Literatur für diese Sammlung ergab. Das Verdienst zuerst den Vorsatz ausgesprochen zu haben, diese Schuld zu tilgen, gebürt meinen Freunden, dem Dr. jur. Theodor Mommsen aus Oldesloe und dem Adv. Theodor Woldsen-Storm in Husum. Sie theilten im Herbste des Jahres 1842 im ersten Jahrgange des Biernatzkischen Volksbuches aus ihrer Sammlung einige ansprechende Proben mit, kündigten ihr Unternehmen an und baten um Unterstützung und Förderung desselben. Geleitet von poetischem und patriotischem Sinn, war jeder schon in seinem Kreise thätig gewesen, und es war gelungen namentlich eine ansehnliche Reihe schöner Zwergsagen zusammen zu bringen. Zu gleicher Zeit hatte der jetzige Herausgeber in Ditmarschen zu sammeln begonnen, auch bereits mit der Durchsicht der Literatur zu jenem Zwecke angefangen, und stand eben im Begriff eine ähnliche Bitte auszusprechen, als die Freunde ihm unversehens zuvorkamen. Durch die freundlichste Bereitwilligkeit von ihrer Seite war leicht eine Verbindung zu gemeinsamer, eifriger Thätigkeit geschlossen und noch im Herbst desselben Jahrs eine neue Aufforderung zahlreich in alle Theile des Landes an solche Männer versandt, auf deren Theilnahme wir glaubten rechnen zu dürfen. Es war ein glücklicher Zeitpunkt getroffen. Bald giengen uns reichliche Mittheilungen zu, und wenn auch nicht überall unsre Bitte gleiches Gehör fand und gleichen Erfolg bewirkte, so ward unsre Erwartung doch fast übertroffen. Ohne Arndts unermüdliche Thätigkeit, ohne die Bereitwilligkeit Klanders und Herrn Schullehrer Hansens, mit der sie uns ihre eignen Sammlungen übergaben, ohne die gütige Förderung vieler anderer Männer, die durch zahlreiche Mitteilungen oder durch Aufmunterung anderer oder durch stets auf unsre Anfragen und Erkundigungen bereitwillig gegebene Auskunft uns beistanden, ohne solche vielfältige, aufopfernde Theilnahme wäre die Sammlung nicht so rasch gediehen. Ich freue mich, dafür allen, die mit geholfen haben und deren Namen ich nicht verschwiegen, hier öffentlich meinen wärmsten Dank sagen zu können. Was an feindseligen Stimmen vor und nach dem Erscheinen der Sammlung gegen dieselbe laut ward, als verbreite sie von neuem den alten Aberglauben, den man längst glaubte ausgerottet zu haben, und werde nun in den Augen der aufgeklärten und gebildeten Welt unserm Land und seinen Geistlichen nur Schande machen; ferner daß sie Gotteslästerung enthalte (Nr. 244), ein unchristliches, heidnisches Werk, kurzum »das aller verderblichste Buch sei, das je unter uns erschienen,« obwohl diese Stimmen, man weiß wohl von welcher Seite, sich zahlreich und selbst öffentlich so aussprachen, so will ich sie doch gerne auch ferner anhören, froh der Theilnahme, die dies Buch seit seinem Entstehen fand, und weil ich weiß, daß sie ihm nicht gar viel geschadet haben, und ich im stillen auch die Hoffnung hege, solche Meinungen und ähnliche nächstens bei einer neuen Auflage schon als Sagen benutzen zu können. Sie zu widerlegen, würde noch vergeblicher und nutzloser sein, als die Ausrottung des Aberglaubens.
Unterdes verließ uns Mommsen im vorigen Jahre und gieng mit königlicher Reiseunterstützung nach Italien; dadurch schied er von der fernern Theilnahme an der begonnenen Arbeit ab. Auch Storm trennte sich jetzt und so fiel der gesammelte Schatz mir allein zu. Je schmerzlicher ihnen der Rücktritt von einem so lieben Werke wird gewesen sein, je mehr ihnen dieses verdankt und ich ihre Hilfe entbehren muste, je mehr fühle ich mich ihnen verpflichtet. Was die jetzt vorliegende Arbeit an Tadel treffen mag, kann allein meine Schuld sein; die dabei befolgten Grundsätze sind diese gewesen.
Nur kurze Zeit konnte mir Mommsen bei der Durchsicht unserer vaterländischen Literatur helfen; die wenig erfreuliche Arbeit habe ich zum grösten Theile allein beschafft; ich möchte glauben, daß mir nichts bedeutendes entgangen ist. Mirakel und Heiligengeschichten aus Albert Kranzens Metropolis etc., wie sie sich freilich in andern Sammlungen finden, wurden meist bei Seite gelegt, ebenso für das, was an Zauber- und Spukgeschichten die mündliche Überlieferung bot, Beschränkung eingehalten; es wurden nur die nothwendigen Beispiele zur Übersicht des ganzen großen Reichs des eigentlichen Aberglaubens gegeben. Nachgiebiger fast, wie ich aber glaube mit gutem Grunde, war ich in der Aufnahme historischer Stücke, besonders aus dem Presbyter brem. Gleichwohl weiß ich, daß entstellte Geschichte noch keine Sage ist. Die späteren Chronisten schrieben ihn fast alle aus, und klüger besserten sie seine chronologischen Fehler. So giengen seine Nachrichten zum Theil in unsre Landesgeschichten über, und man hat sich vielleicht gewundert, jetzt manches als Sage vorzufinden, was bisher für Geschichte galt oder doch stillschweigend dafür passierte. Je unhistorischer der Presbyter ist, ich muste nur ihm folgen, mag er »der schwarzen Margaret auch allzuviel in die Schuhe schieben« und dieser wegen die Jahreszahl über Nr. 12. falsch sein. Ferner beim Beowulf werden Kundige nicht die Erwähnung des Ortes Bau bei Flensburg vermissen, oder nach einer Sage von den Dannebrogschiffen bei Gienner suchen, oder nach der Hertha bei Herrested, nach dem Gott Flins bei Flintbek und Flensburg etc. Man findet das und manches ähnliche zwar in vielen und neuen Büchern, die immer wieder von einander abschrieben, als Sage angegeben. Aber jenen Ort und den Helden hat erst der sel. Pastor Outzen in Brecklum vor ungefähr dreißig Jahren nach seiner Weise zusammengebracht, die ganze Geschichte von den Dannebrog oder (nach Major) Dannebodschiffen, die freilich Thiele Danm. Folkes. I. 31. auch für eine Sage hielt, ist ja nur eine Phantasie Arnkiels Cimbrischen Heidenrel. IV. 340 b., und die Gelehrten, die die falsche Lesart im Tacitus als Göttin in Nordschleswig verehren ließen, einen Flins erfanden, mögen das vor ihrem eignen Gewissen verantworten. Ich führe diese Dinge hier nur an, weil man sie hin und wieder hier zu Lande noch für was rechtes zu halten scheint. Ich habe sie und ähnliche Erfindungen natürlich absichtlich ausgelassen.
Man wird nicht sagen, daß diese Sammlung ohne Bewußtsein des großen Ganzen, dem wir angehören, gemacht sei. Doch schien mir ein streng provinzieller Charakter für sie die erste Forderung, so auch für die folgende Abhandlung. Dies Buch sollte zunächst ein Buch für unser Land sein, und wenn es diese seine Aufgabe recht erfüllt, glaube ich, wird es auch dem großen Vaterlande und der Wissenschaft seine völlige Pflicht zu leisten im Stande sein. Ich nahm daher sowohl die allerverbreitetsten und bekanntesten Sagen auf, die wohl hundert Mal schon aus anderen Gegenden mitgetheilt wurden, als auch die unseres Landes, die in Grimms deutschen Sagen sich fanden. Ich habe seine politischen Grenzen aber eingehalten, so gerne ich auch Hamburgs und Lübecks Sagen eingeschlossen hätte, und so sehr diese herzu gehören, weil es bald für sie an Raum gebrach. Es war anfangs Absicht, nicht über die Grenzen der deutschen Nationalität hinaus zu gehen, aber die Unmöglichkeit leuchtete bald hierfür ein, und das freundlichste Entgegenkommen von Seiten unserer nordschleswigschen Bundesgenossen verbot die Absicht zu verfolgen. Nur Aröes Sagen glaubte ich ausschließen zu dürfen, zumal da sie, von Dr. Hübertz fleißig gesammelt, in Etatsrath Thieles trefflicher Sammlung der dänischen Volkssagen schon mitgeteilt wurden. Es ist lehrreich den Übergang und die Berührung zweier Nationalitäten auch in den Sagen zu verfolgen. In Nordfriesland zeigt nicht nur die Sprache, sondern auch der eigentliche Aberglaube starke Einwirkung des dänischen. Südlich der Schlei und der Trene ist es zwar in einzelnen Ortsnamen zu spüren, aber ich wüste keine Spur desselben sonst anzugeben; in Angeln aber treten dänische Reime neben niederdeutschen auf (Nr. 58. 119. 579), bei Flensburg jagt König Wollmer wie auf Seeland (Nr. 562), es wird Ballerune gespielt (Nr. 580 Anm.). Nordschleswig endlich nahm nicht nur ehedem Theil an dem dänischen Volksgesang im Ausgange des Mittelalters, das erste Auftreten reiner Elbensage (Nr. 526), der wunderbar fest ausgebildete Glaube an die schwarze Schule und Cyprianus Bücher, der nach Angeln und Friesland hinüber reicht, und manches andre beweisen eben so entschieden als die Sprache, daß die deutsche Nationalität hier ihre Grenze gefunden hat. Man könnte darnach für die Anlage der Sammlung die Form einer Districtseintheilung, wie bei den märkischen Sagen verlangen, doch habe ich eine freiere Anordnung, deren Faden ein aufmerksamer und nachdenkender Leser schon finden wird, vorgezogen, indem die Vortheile jener dadurch eingeholt wurden, daß genauer, als in manchen andern Sammlungen geschieht, die Heimat jeder Sage, der Ort ihrer Quelle und zugleich in den Anmerkungen ihre Verbreitung im Lande angegeben ward; endlich ist auch in dem angehängten Inhaltsverzeichnis die ungefähr angenommene Districtseintheilung neben jeder Nummer bezeichnet worden. Einzelne Irrthümer, die sich, wie begreiflich, leicht einschlichen, sind im Anhange, so weit sie bemerkt wurden, verbessert. Schwerlich möchten sie sich auch zahlreicher finden. Sonst bitte ich um Berichtigung.
In der Behandlung und Bearbeitung des gesammelten Stoffs war es das erste Bestreben, jedem Stücke eine ihm gemäße einfache Gestalt zu geben, in der sein thatsächlicher Inhalt frei und unverhüllt hervortrete. Das sogenannte volksmäßige suchte ich nicht, Provinzialismen aber ließ ich gerne einfließen; mit dem armseligen Plunder des »Modekleides der Novelle« mag man andre Stoffe, die dessen bedürfen, behangen. Mit Bedauern spreche ich es aus, daß Lübecks und Hamburgs schöne Sagen durch die Literatur auf diese Weise zu Schanden gemacht werden, und leider auch an andern Orten. Ich verhehle meinen Abscheu vor einer solchen Behandlungsweise nicht. Das mag mich zwar, besonders anfänglich, zu einer allzugroßen Strenge verleitet haben, mein Wunsch war nur so zu erzählen, wie man es schlichtweg mündlich thut. Was mir schriftlich mitgetheilt ward, war glücklicher Weise fast immer frei von jenem verschönernden Bestreben, und unsre Bitte um treue und einfache Aufzeichnung ist durchweg erfüllt worden. Daß aber dennoch selten ganz wörtlich wieder abgedruckt ward, wird hoffentlich keiner verübeln; es sollte diese Sammlung kein Itzehoer Wochenblatt und keine Sammlung von Stilproben werden. Nur wenn die Aufzeichnung genau die Worte aus dem Munde des Volkes und in seiner Sprache wiedergab, brauchte und durfte wenig geändert werden. Ich selbst konnte bisher fast nur in Ditmarschen unmittelbar aus dem Munde des Volkes schöpfen. Sonst stellte ich mich allen schriftlichen Mittheilungen so gegenüber, als hätte ich sie von dem gütigen Einsender mündlich empfangen, und erzählte dann nach meinem Sinn. Ich glaubte damit nur im Interesse der Sammlung zu handeln, und bin überzeugt, jeder, der eine so vielfältige bunte Masse vor sich gehabt hätte, würde dieselbe Pflicht empfunden haben.
Dieses Buch ist in viele und verschiedene Hände gekommen. Ich weiß, daß es in manche Häuser Eingang fand, wohin sonst selten Bücher gelangen, daß es da mit Freude aufgenommen und, von Hand zu Hand gehend, fast eher schon zerlesen ward, als es vollendet ist. Die Geschichten sind ja schnell gelesen und schnell wieder vergessen und ergötzen darum immer wieder von neuem; dies Lob hörte ich aussprechen. Die Sage bewährt also auch schwarz auf weiß ihre unverjährte Kraft gerade in dem Kreise, dem sie von Anfang angehörte, wo von Geschlecht zu Geschlecht sie ihre Pflege, ihren Schutz und ihre Freunde fand. Ich möchte diesem Buche lauter solche Leser wünschen. Für sie bedarf es keiner gelehrten Einleitung und Auslegung; ich habe diese versprochen, aber wahrlich dabei nicht an die gewöhnliche, hochdeutsche Lesewelt gedacht, für diese möchte ich keinen Federstrich gethan haben, sondern ich weiß, daß es Männer gibt, denen weder der einfache Sinn für die Sage mangelt, noch auch der vaterländische Geist, der Erkenntnis des Heimischen fordert, dem darum nicht die Vergangenheit, auch die fernste nicht, um der Gegenwart willen gleichgiltig ist, sondern welcher meint, daß diese nur durch jene recht begriffen wird und inniger geliebt werden kann. Diesen Männern liegt es am Herzen die Kluft, die Bildung, Sprache und Eitelkeit in unser Leben gebracht haben, wieder zusammen zu fügen. Wenn dazu dieses Buch schon mitgewirkt hätte und ferner wirken könnte, so löste es seinen höchsten Zweck. Die Gebildeten müssen einsehen lernen, daß in vieler Hinsicht die, über welche sie sich erhaben wähnen, ihnen voraus und überlegen sind, und daß sie mit aller ihrer Bildung nur das erstreben, was diesen gegeben ist, ein fest ausgeprägtes, in allem Wechsel beharrliches Wesen.
Wenn nun auch der Reichthum und die Vielseitigkeit des Volkslebens, so weit dieses in Sage und Poesie Sprache gewann, sich auf wenigen Blättern nicht darlegen läßt, so folge ich doch mit Freuden den Erinnerungen und Ermahnungen mancher Freunde, eine Seite desselben, wozu die Sammlung besonders Anlaß gibt, aufzudecken. Ich will den Versuch einer Geschichte unseres Volksgesanges geben; zwar muß ich da die allgemeine Geschichte desselben im gesamten Vaterlande herzuziehen, aber wir sind ja auch nur ein Theil des Ganzen, und dies eben darzuthun und zu sehen ist eine Lust. Anhängen will ich dann noch einige Bemerkungen, um darauf aufmerksam zu machen, wie vielseitige Betrachtung und wie zahlreiche Resultate eine jede solcher Sammlungen gewährt, zunächst für das Land aus dem sie hervorgieng. Das Feld ist fast unbegrenzt und so leicht nicht ausgebeutet.
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Bei ihrem Eintritt in die Geschichte besaßen die Deutschen schon alte Lieder, die von den Göttern und den göttlichen Ahnen des Volkes und seiner Stämme handelten. Der Stamm der Ingävonen, der unsre Halbinsel ganz hinauf bis Skagen inne hatte, die Sachsen, Angeln und Jüten werden nicht allein von den ihrigen geschwiegen haben. Der ganze Haufe, wenn er in die Schlacht zog oder beim fröhlichen Opfermahle war, sang; die Lieder waren also von epischem Inhalt und hymnisch-chorischer Art, ganz an die Verehrung der Götter geknüpft, und man kann daher über die directen Zeugnisse hinaus mit aller Sicherheit schließen, daß, was von den Mythen der Götter in umittelbarem Zusammenhange stand mit den jährlichen heiligen Festen, und Werken, wie vor allem die Schlacht, bei denen man die Götter gegenwärtig glaubte, daß so viel auch in Liedern vorhanden war. Aber dagegen darf man fast mit völliger Gewisheit (ein Zeugnis nur scheint zu widersprechen) das Dasein eines historischen Gesanges leugnen. Dieser setzt schon einen erhöhteren Bildungszustand voraus, nicht nur eine größere Freiheit und Ungebundenheit der Poesie, die wieder eine gewisse Behaglichkeit des Lebens fordert, sondern auch das Erwachen eines historischen Sinnes, was wir beides den halbnackten Deutschen, die die Römer schildern, nicht zuschreiben möchten. Beide Bedingungen aber traten ein in der Zeit der großen Wanderungen und Eroberungen unseres Volkes. Da sind einzelne Sänger da, die den Stoff wählen konnten und nun zur Lust und Erhebung der Helden und Edlinge den Gesang übten; das Lied war frei geworden und ward nicht mehr ausschließlich nur von Schaaren angestimmt, und war nicht mehr ein von altersher überliefertes, sondern ward neu geschaffen. Wie an den Höfen der fränkischen und gothischen Könige, so erzählen angelsächsische Gedichte, waren auch an dem Hofe eines holsteinischen Königs zwei Sänger, die »oft in schöner Rede vor ihrem Siegfürsten den Sang erhuben und hell zur Harfe den Hall erklingen ließen.« So ist auch im Beowulf ein Sänger, der beim Mahle und gleich nach der Heldenthat den Gesang zur Harfe beginnt. Da der thatsächliche epische Inhalt, das Wort Hauptsache ist, war das Singen jedoch mehr ein Sagen, als Gesang in unserm Sinne, beide Ausdrücke werden in der alten Kunstsprache verbunden und sind fast gleichbedeutend; die Harfe aber begleitete das feierlich Gesagte, ganz so wie im Homer die Phorminx. Der Sänger hieß Scôp Hochdeutsch Scôf oder Scuof von schaffen, und nicht Barde, wovon noch kürzlich unter uns erschienene Bücher reden. Man sollte auch hier längst gewust haben, daß Barden nur den Galliern angehörten., und entweder war er bei einem Könige oder Edeling in festem Dienst, oder zog mit seiner Kunst, wie einer jener holsteinischen Sänger, an fremden Höfen umher, stets Lohn empfangend. Aber darum war er nicht weniger als irgend ein anderer Mann eines Königs; Könige und Helden dieser Zeit übten selbst den Gesang, und dieser stand mit dem gesammten Heldenleben im nächsten Zusammenhange. Indem nicht nur die alten Götter und Heroenmythen Gegenstand des Gesanges waren, sondern dieser auch unmittelbar die Gegenwart und ihre großen Ereignisse ergriff, sammelte sich ein großer Schatz nationaler Heldensage, worauf der ganze spätere Volksgesang sich gründet. Was die Angelsachsen an alten Erinnerungen bewahrt haben, dürfen wir um so mehr unserem Lande zusprechen, weil hier die Heimat ihrer Helden und der Spielraum ihrer Thaten ist. Eine große Reihe nennt ein altes Lied bei den Völkern an Ost- und Westsee Nordalb. Studien. I. 148.. Skeaf, Beowulf und Offa (Nr. 1. 3. 4) gehören hierher. Sagen und Gedichte melden ferner von der Freundschaft und Feindschaft der alten Holsteiner und ihrer südlichen Nachbaren jenseits der Elbe, der Langobarden, von den Kämpfen der Angeln und Dänen, der Dänen und Friesen, der Angeln und Holsteiner (Nr. 3), der Jüten und Schweden und anderer mehr; sie melden von Hygelacs und seines Helden Beowulf Zuge gegen die Franken und Friesen am Rhein, und von ihrer Freundschaft mit dem Dänenkönig Hrodgar (Nr. 406). Und an diesem Reichthum heimischer Stoffe war es nicht genug; zum Theil sind sichere Zeugnisse vorhanden, daß die Thaten und die Helden anderer deutscher Völker auch hier ihre Sänger fanden. Die Sagen von den Nibelungen und Welsungen, und von dem König Ermanrich, die der Norden aus Deutschland empfieng und in seinen Eddaliedern aufbewahrte, möchten ihre Wanderung doch am ersten durch unser Land gemacht haben. Die Namen der Hauptpersonen, wie Jakob Grimm nachwies, zeigen nicht alle die rein nordische Form, sondern verrathen ihren Durchzug durch Altsachsen. Das Schicksal hat es nicht gewollt, daß einheimische Lieder oder Nachrichten uns erhalten wären. Nachdem im sechsten Jahrhundert die Auswanderung zu Ende war und der gröste Theil der Halbinsel den Dänen zufiel, nahm das Volk die Sprache der Sieger an und seine alten Helden traten in die Reihe der dänischen, so der jütische Amleth, der anglische Offa und der gleichfalls anglische Frowin, deren Sagen Saxo in das dritte und vierte Buch seiner dänischen Geschichte aufnahm. In England hegte man, wie wir sahen, zwar die alten Erinnerungen, wenigstens während zweier Jahrhunderte. Aber früh verschmolz der mythische Göttersohn Beowulf mit dem historischen gleiches Namen, eine Erscheinung, die sich im deutschen Epos ähnlich überall wiederholt; Offa, der Kämpe auf der Eiderinsel, ward mit Offa II. von Mercien verwechselt und nun in England lokalisiert, und die schöne Sage von seiner Gemahlin (Nr. 4), die augenscheinlich auf dem ältesten Grunde ruht, ward legendenartig, durch Einmischung des Christlichen, umgebildet. Zwar Holstein bewahrte seine deutsche Nationalität, aber dennoch werden auch hier die einheimischen Sagenstoffe allmählich eingeschwunden sein, nachdem für sie der Halt des alten Volkskönigthums dahin war und endlich des Landes schönste Hälfte den Wenden zufiel. Als dieses wieder gewonnen ward, waren es nicht die alten Bewohner, die es von meuem bevölkerten, und zugleich die Marschen, sondern Einwanderer.
Den Untergang seiner alten landschaftlichen Heldenpoesie, um sie so zu bezeichnen, so reich auch der angesammelte Stoff war, hat fast jedes deutsche Land zu beklagen. Er war im achten und neunten Jahrhundert schon entschieden, wenn auch nicht vollendet. Denn wie nach der Zeit der Wanderung die deutschen Völkerschaften sich enger in größere Stämme zusammenschlossen und daraus endlich ein deutsches Reich erwuchs, so drängte auch die Poesie in denselben Jahrhunderten nach einem großen, umfassenden Ganzen hin, das allen deutschen Stämmen Gemeingut ward. Es gibt in der Zeit der Völkerwanderung keine wunderbarere Erscheinungen als das Reich des Attila und die zweimalige Größe des mächtigen Gothenvolks unter Ermanrich und Theodorich; ihr Sturz und Untergang war eben so jäh, als ihr Aufsteigen plötzlich und überraschend. Von hier aus fließt nun der große Strom der deutschen Heldensage, der in seinen Zug schnell eine Masse altheidnischer Heroenmythen aufnahm, und manche Trümmer der historischen Sage einzelner Landschaften mit sich fortriß, und bald hier, bald dort hin seinen Lauf wendend, erst nach einem Jahrtausend versiegt war; seine letzten Tropfen mögen wir noch aus unsern Volkssagen sammeln. Seine gröste Breite aber nahm er ohne Zweifel im achten und neunten Jahrhundert ein. Damals hatte die Dichtkunst nicht mehr den nahen Zusammenhang mit dem Heldenleben, dies war selbst vorüber, das Volk in Stände schärfer geschieden, die obern neigten sich mit den Geistlichen einer fremden Bildung zu und waren nur mit halbem Sinne mehr der alten Poesie zugewandt, deren Muse nunmehr erst recht die Mnemosyne war. Zwar kam sie zu Zeiten auch in die Häuser der Vornehmen und ward ehrenvoll empfangen und gerne angehört, Kaiser Karl selbst sammelte Lieder, und sein Sohn hatte in seiner Jugend sie auswendig gelernt; aber ihre Pflege und rechte Heimat hatte die Dichtkunst nur unter dem Landvolk. Aus diesem giengen die sagenkundigen Sänger dieser Zeit, wie auch der folgenden, hervor. Nur diese können es auch gewesen sein, die damals der ganzen großen Masse des Epos denjenigen Gedanken unterlegten und einprägten, den die spätern Jahrhunderte weiter auszuführen und zu verfolgen suchten; es kann nur in dieser Zeit das Streben begonnen haben den Untergang des Heldenalters darzustellen in einer Verknüpfung der drei großen Sagenkreise Ermanrichs, Etzels und Dietrichs zu einem gewaltigen Ganzen. In keiner Zeit kann der Schmerz über den Untergang der ruhmvollen Vergangenheit im Volke lebendiger gewesen sein, und keine Zeit war auch fähiger ihn dem Stoff mitzutheilen und dieser ihn zu empfangen. Fast alle deutsche Helden sind tragische Charaktere, ja das ganze Epos sollte eine große tragische Handlung werden, die nach wunderbarer Schicksalsverkettung aller mit dem Tode oder dem Verschwinden der letzten und grösten Helden endete. Kein Epos sonst hat so tiefsinnige Ideen wie das deutsche ausgesprochen, keins hat eine großartigere Anlage und so gewaltige Charaktere im Guten wie im Bösen. Zum völligen Abschluß kam jedoch die Durchführung der Idee im Ganzen nie, eben so wenig als das deutsche Reich vollendet ward; wie sie aber verfolgt und auszuführen versucht ward, hat die Geschichte unsers Epos darzustellen.
Nicht alle deutsche Landschaften werden an der Blüthe des Epos damals gleichmäßig thätigen Antheil genommen habe», eben so wenig als in den spätern Epochen; denn nicht alle sind gleich fähig. Aber man kann mit Sicherheit annehmen, daß jede damals ein gleiches Theil empfieng und auch dessen sich erfreute, wie in den jüngern Zeiten. Kein Zeugnis deutet direct auf unser Land, aber in England und im Norden selbst war der Ruhm der deutschen Helden verbreitet und ward in Liedern gefeiert. Doch wird von norddeutschen Markmannen erzählt, daß sie ihre Gedichte, Zaubersprüche und Weissagungen mit Runen ausschrieben. Wilhelm Grimm Über deutsche Runen, S. 149. erklärte sie für Nordalbinge und Lachmann Histor. philol. Abhandlungen der Berlin. Acad. 1833, S. 128. nannte die niederdeutschen Verse, die dem Runenalphabet in einer sangallischen Handschrift beigeschrieben sind, nordalbingisch. Aber es ist nur alte Weiber- und Kinderpoesie, jedoch in alter stabreimender Form. Alles dies räth einen Blick zu werfen auf unfre heute gesammelten Segen und Sprüche (Nr. 632).
Offenbar sind die meisten, z. B. 20. 27. 34. 17 etc., wenn nicht alle, ihrer Grundlage nach heidnisch und vom höchsten Alterthum. Das beweist nicht nur die Verbreitung vieler über ganz Deutschland, sondern auch die Vergleichung mit nordischen und englischen Sprüchen ähnlicher Art. Ich habe alle, auch die zerrüttetsten aufgenommen, eben um diese Vergleichung möglich zu machen und Zeugnis zu geben, wie langlebig und zäh diese Sprüche im Volke haften. 11. 31. 34 sind schon fast gleichlautend aus Handschriften des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts in Grimms Mythologie mitgetheilt. Ganz alterthümliche Form hat auch 22, verglichen mit dem einen Merseburger Zauberspruch von Wodan und Balder. Ebenfalls die Räthsel sind theilweise höchst alterthümlich und weit verbreitet, z. B. die Räthsel vom Ei (Enteputente etc.); ich habe nur ausgewählt. In einer nordischen Saga Hervarar saga S. 174. 170. 144. gibt Odin dem König Heidrek unter andern dieses Räthsel auf: »Wer sind die zwei, die zum Thing eilen? Zusammen haben beide drei Augen, zehn Füße und einen Schwanz und so fahren sie über Land;« Heidrek antwortet, daß das der einäugige Odin auf seinem achtfüßigen Pferde sei. Man vergleiche damit, der Form und dem Inhalt nach, die Räthsel unter Nr. 651, besonders 22. 23. Ein zweites Beispiel noch größerer Übereinstimmung ist das Räthsel von der Kuh, das Odin auch dort aufgibt: »Vier wandeln, vier hangen, zwei den Weg weisen, zwei Hunden wehren, einer schleppt nach, ein Leben lang, der ist allzeit schmutzig,« welches bei uns lautet: »Veer Hengels, veer Gängels, twee wiest den Weg, twee seht den Weg, een slept achterna; rade mal wat meen ik da?« Auch das erste Räthselmärchen (Nr. 650, 1) findet dort sein Gegenstück. Sprichwörter, für die es leider an Raum gebrach, ruhen zum Theil auf gleich alter Grundlage. Obgleich diese Räthselpoesie nur eine Nebengattung ist, die in der Geschichte der Poesie kaum von Belang wird, so lehrt doch das heute erst gesammelte, daß es auch in Deutschland in ältester Zeit, wie im Norden, dialogisch fortlaufende Räthsellieder gab, woraus die heutigen Räthsel nur Bruchstücke sind, wenn wir nemlich Lieder wie Nr. 627 hinzuhalten. Es sind übrigens ähnliche Lieder in Deutschland schon im zwölften Jahrhundert nachweisbar; und noch weit früher bei den Angelsachsen.
Läßt dies uns einen Blick in die Form und Manier einer gewissen Seite der alten Poesie thun, so wird einem aufmerksamen Leser die wunderbar symmetrische und doch freie, ungesuchte Anlage mancher Märchen und Sagen schon nicht entgangen sein. Ich will hier nicht auf die Art der Charakteristik, die Mannigfaltigkeit, die Gruppierung und die einfachen Gegensätze der handelnden Personen aufmerksam machen, sondern nur darauf hinweisen, wie z. B. in Nr. 317 die Handlung fortschreitet: Der Bauer reist erst zu Schiffe, dann zu Wagen, endlich zu Pferde, das erste Mal muß er einen Tag, das zweite Mal zwei, das dritte Mal drei Tage warten; oder als Dreibein in Nr. 467 den diebischen Bauern verfolgen soll, ruft Ein Unterirdischer, Zweibein aber wird von vielen Stimmen, Einbein endlich von Allen gerufen. Durch so einfache Mittel erreicht auch noch die heutige schwächere Sage Wechsel und Steigerung; wie ganz anders nimmt sich eine solche Gliederung in unsern alten inhaltsreichen Heldensagen aus! Freilich sie ist oft zerstört und wird auch heute nicht leicht von jedem erkannt, auch wenn sie sich erhielt; aber immer wird sie dennoch zur rechten Wirkung dienen, je ungesuchter und natürlicher sie allezeit war.
Die Blüthe der Heldenpoesie des Karlingischen Zeitalters war, als wilde Stürme am Schlüsse des Jahrhunderts über Deutschland herein brachen und lange anhielten, zu Ende. Bis dahin hatte der Poesie ja die alte Form des Stabreims gedient, der noch in formelhaften Ausdrücken, wie Mann und Maus, Haus und Hof, Frisch gewagt, ist halb gewonnen etc., haftet. Aber gerade diese Neigung zum Formelhaften, die der Stabreim mit sich bringt, führte im Norden zur völligen Erstarrung der Poesie. In Deutschland war dieselbe Gefahr da. Schon im neunten Jahrhundert war eine Entartung der stabreimenden Poesie eingetreten; aber der gesunde Sinn des Volkes, dem natürlichen geneigt, fand einen Ausweg; man ließ die alte Form fallen und im Verlaufe des zehnten Jahrhunderts setzte sich der Endreim auch in der Volkspoesie durch. Das beweisen die wenigen aus dieser Zeit erhaltenen Reste. Indem aber diese Form aufkam und durchdrang, war der allmählige Untergang der alten stabreimenden Lieder, die noch aus den frühern Zeiten erhalten waren, die natürliche Folge. Man kann nun recht wohl verfolgen, auf welche Seite vorzügliche sich die neue Poesie hinwandte. Mit den sächsischen Kaisern erreichte Deutschland die höchste Stufe seiner nationalen Kraft; die Stände hatten sich wieder genähert, die Bildung der Geistlichen hatte einen nationalern Charakter angenommen, als in der Karlingischen Universalmonarchie, auch die Politik der Kaiser wirkte nach außen hin nur in einem großartigen, deutschnationalen Sinne; die Kämpfe und Parteien im Innern, zunächst aus alter Feindschaft der Stämme entspringend, dann genährt durch die Streitigkeiten der Kirche, wiederholten fast die Zeiten des alten Reckenwesens, weckten aber zugleich eine Fülle geistiger Bewegung; alles das wäre nicht geschehen ohne den eifrigen, nachhaltigen Antheil des gesummten Volkes. Diese Bewegung der Nation dauerte bis tief ins zwölfte Jahrhundert. Die Poesie wandte sich nun zunächst mit neuer Begeisterung der Gegenwart zu. Um Heinrich, Otto den ersten und zweiten und ihre Helden und Gegner und manche andre hervorragende Ereignisse und Persönlichkeiten sammelten sich eine Menge von Liedern und Sagen. Offenbar hängt es mit dieser Richtung des Volksgesanges auf das historische zusammen, daß nun auch diese Seite des alten Epos gerade vorwiegend kultiviert ward. Und erscheint später seine mythische Seite entweder vermenschlicht oder verwildert, so wird beides auch nur seinen Grund in dieser Zeit haben. Es erwuchs dem historischen Theil des Epos jetzt vielfältige Bereicherung und Erweiterung, nicht nur aus ältern landschaftlichen Sagen, sondern auch aus der Zeitgeschichte selbst. Eine große Wendung schreibt sich daher. Ermanrich hatte in frühern Jahrhunderten, wie angelsächsische Zeugnisse beweisen, sein altes gothisches Sagenreich in Norddeutschland; nachdem die römische Kaiserkrone das Haupt niedersächsischer Könige zierte, herrschte er zu Rom und in Italien; von da aus verleiht sein Nachfolger noch Länder in Norddeutschland, und in seinem Gefolge hat er fast nur norddeutsche Helden, und unter diesen einen Meizune von Ditmarschen und einem Enenum von Westenlande, d. i. Nordfriesland Nordalb. Stud. I. 149. 163.. Ich glaube bewiesen zu haben a. a. O. I. 191 fg., daß die Sage von Siegfried und Starkad (Nr. 5) eine altsächsische ist, wenn sie auch im Norden gangbar und aufbewahrt ward. Sie mag uns offenbaren, was man etwa im zehnten Jahrhundert den Landesfeinden gegenüber empfand, als die Kaiser unsre Grenzen noch zu schützen wüsten; der ruhmvollste gröste Kämpe des Nordens muß dem Helden des Südens schimpflich unterliegen. Es gibt noch andre Beispiele, wo der alten Heldensage eine solch unmittelbare Beziehung auf die spätere Geschichte gegeben wurde. Auf der Grenze dieses Zeitraums steht jener sächsische Sänger Sivard, der mit einem Liede von »dem allbekannten Verrath der Kriemhild an ihren Brüdern« den Herzog Knud Laward vor den Nachstellungen seines Vetters Magnus vergeblich zu warnen suchte. Freilich es läßt sich nicht behaupten, daß der Sänger ein Holsteiner war. Dännemark ward aber häufig von niederdeutschen Sängern besucht; darum konnte Saxo die Sage von Kriemhild als allbekannt bezeichnen. Auch in späterer Zeit nahmen deutsche Sänger häufig ihren Weg durch unser Land und aus unserm Lande selbst nach Dännemark; denn nur durch neue mündliche Zuflüsse von Deutschland erklären sich manche Eigentümlichkeiten der Sage in dänischen Kämpevisern, die den deutschen Heldenkreis betreffen. Gegen Schluß des dreizehnten Jahrhunderts kamen mehrere deutsche Sänger, die freilich keine Epiker waren, nach Holstein zu unsern Grafen, nach Schleswig und nach Dännemark; mehrere ihrer Lob- und Preislieder sind erhalten; und daß solche hungrige Gäste noch später hier durchkamen, lehrt die Anecdote von Greve Klaus (Nr. 26).
Gegen den Schluß des zwölften Jahrhunderts hatte das Epos einen neuen Aufschwung genommen, gleichzeitig der blüthenreichen Entfaltung des Minnegesangs und der romantischen Ritterpoesie. In Süddeutschland entstanden damals die Lieder von den Nibelungen, dann auch das Gedicht von Kudrun und eine Reihe anderer Heldenlieder, die theils ganz verloren, theils nur in Bruchstücken erhalten sind. In Norddeutschland war aber gleichfalls die Dichtung nicht müssig, im dreizehnten Jahrhundert schrieben nordische Männer in niedersächsischer Gegend, in Westfalen und um Bremen nach deutschen Gedichten, Liedern und Erzählungen ein großes Sagenbuch zusammen, das fast den ganzen Reichthum des damaligen epischen Stoffs Deutschlands umfaßt. Eine genaue Betrachtung vermag noch den Umfang einzelner Lieder und Gedichte zu erkennen. Aus dieser Zeit erwähnt nun Arnold von Lübek des alten Hildebrand, den noch heute das Märchen nennt, und an seinen Namen schließen sich unmittelbar Dietrich von Bern und die große Reihe seiner Helden. Und wenn der Ortsname Hemelingen Siehe meine Abhandlung über Kudrun S. 109. bei Winterthur in der Schweiz auf die Sage der Kudrun weist, so mag man auch bei unserm Heitlingen an der Elbe an dieselbe Sage erinnert werden. Aber was das Gedicht von Ditmarschen und Holsteinern erzählt, die »gar ziere Degen« heißen, so muste die Kritik das nicht einmal als in echter Sage begründet, sondern als willkürliche Einschwärzung einer jüngern Hand erkennen.
Um das Jahr 1200 fällt die letzte Blüthe des Epos. Von da an läuft es in drei Wegen aus: entweder in das lyrische Volkslied des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, oder in die Prosa des Volksbuchs, oder endlich in Märchen und Volkssage. Die Spuren und Ansätze solcher Übergänge finden sich natürlich auch schon früher. Der Inhalt des Liedes Vielleicht ist es nicht einmal ein ursprünglich ditmarsches. Lütke Loiken, d. h. Lüdger Ludewigs Sohn, beides Namen, die in der Nordseeheldensage vorkommen weist, wie Hoiken auf das niederländ. Huyke (Nr. 87), auf das niederländ. Luyke, Ludwig. Der Diphthong oi ist nicht niederdeutsch. Und wenn der Refrain vulgrone ursprünglich vulgrome wäre, so deutete das ebenfalls am ersten in die Fremde. vom Herrn Hinrich und seiner gefahrvollen Brautfahrt (Nr. 45) ist augenscheinlich ein Rest alter Seeheldensage. Mitten aus der alten Heldensage ist unsre Sage von dem Meisterschützen Henning Wulf (Nr. 69) herausgegriffen, sie wurzelte ursprünglich in dem Kreise der mythischen Heldenfamilie, Wate, Wieland, Wittich, Eigel, Orendel; der ältesten Heldensage gehörte ebenfalls die Sage vom Ursprung der Wülfinge (Nr. 2) an. Irgendwo auch müssen einmal die weit verbreiteten Sagen vom verlornen oder ins Meer versenkten Ringe (Nr. 61, 62, 199) im Epos einen festen Halt gehabt haben; die letztere selbst leicht in einem Mythus. So sind auch augenscheinlich einzelne Züge der späteren Sage daher geflossen z. B. die Sage vom wandelnden Wald (Nr. 10, 11) oder wenn Graf Geert in seiner Jugend seiner Heldennatur uneingedenk scheint (Nr. 23, 1). Man vergleiche damit Offa. Die Sage von treuen Küchenjungen (Nr. 7) so vielfach variiert und erweitert sie, z. B. in den Weibern von Weinsberg auftritt, muß in der einfachen Gestalt auch in die älteste Zeit gehören. Die Märchen entstanden aus mündlicher prosaischer Erzählung der Helden- und Göttermythen, als diese herabsanken. Sie werden sich früh angebahnt haben und wenigstens im zehnten Jahrhundert, wenn auch noch in weit kräftigerer Gestalt, schon dagewesen sein. Elemente aus den verschiedensten Mythen und Sagen wurden zusammen gefügt, je mehr der phantastische Charakter des Märchens sich entwickelte, das oft freilich sehr übereinstimmend an den entlegensten Gegenden auftritt, eben so oft aber die gröste Abweichung zeigt. Doch bleibt die einfache zu Grunde liegende Handlung bei aller Verschiedenheit der Ausführung meist dieselbe. Der dänische Saxo Grammaticus zeigt am deutlichsten den Übergang des Mythus und der Heldensage in Märchen. So mag man in Deutschland im achten und neunten Jahrhundert sie erzählt haben; im zehnten und elften Jahrhundert waren sie wohl schon flüchtiger. Das bekannte Räthselmärchen von der klugen Bauertochter, die einen Mörser fand und dem König brachte, nun aber auch den Kloben bringen oder ungekleidet und nicht nackt, nicht gegangen, nicht gefahren, nicht in dem Wege, nicht außer dem Wege, nicht allein, nicht unbegleitet, nicht in der Woche, nicht außer der Woche, zum Könige kommen sollte, dieses Märchen hat im Norden z. B. noch festern Halt in der Lodbroksage. Der dumme Hans unserer Märchen ist oft deutlich gleich Siegfried dem Drachentöter, der einen Schatz und eine schöne Frau gewann. Das Volk hat diesen gutmüthigen sorglosen Charakter auch so ausgeprägt, daß man des Volkes eignes Ebenbild an schweigsamer Klugheit, Beharrlichkeit, Muth und Herzensgüte darin erkennen wird. Das erinnert wieder ans alte Epos. Unser starker Hans mit der eisernen Stange (Nr. 609) scheint ein Namensvetter des Riesen Widolf mit der Stange, und der starke Hans mit dem blauen Bande am Arm (Nr. 604), das ihm Kraft gibt, der nach einer mir eben aus Plön zugehenden, sonst noch mehr verstümmelten Relation Bären statt der Löwen in seinem Gefolge hat, gemahnt im den Wildeber mit dem Schwanringe, der nach der Heldensage eine Bärenhaut umnahm und darin tanzte. Aber nun gibt es der Märchen noch eine Menge, die, so groß auch ihre Verbreitung ist, man mit Sicherheit dennoch für undeutsch ihrem Ursprunge und ihren Hauptbestandtheilen nach erklären muß. Ihr Character verräth sie. Das Märchen vom Mann ohne Herz (Nr. 599) wird niemals eine deutsche Erfindung sein, obgleich es ebenso in Norwegen erzählt wird; es wird sich gewis in Frankreich und Italien nachweisen lassen, wie das Märchen vom Tode des Teufels (Nr. 622), das unverkennbar ein fremdes ist. Auch der starke Franz (Nr. 605) hat mindestens fremdartige Elemente an sich gezogen; ja wohl die meisten Märchen. Schon im zehnten und elften Jahrhundert verbreiteten sich fremde Stoffe in Deutschland, und mit der Blüthe der mittelhochdeutschen Literatur im dreizehnten Jahrhundert drangen zahllose Novellen, Märchen und Erzählungen aus der Fremde ein, ja ihre Masse wuchs noch in den nächsten Jahrhunderten und fand nicht allein durch Volksbücher Verbreitung, sondern wohl eben so viel durch den Mund der überall umher schwärmenden sogenannten fahrenden Leute, die überhaupt die Vermittller zwischen der romantisch-höfischen Poesie, die am Fremden hieng, und dem Volke wurden. Von Volksbüchern ist jetzt, glaube ich, unter uns wenig mehr zu finden; zwar werden jährlich in Hamburg (bei Wittwe Kahlbrock) sie noch immer zahlreich gedruckt, und so verstümmelt sie sind, verkauft; aber wenige werden davon über unsre Grenze kommen. Allein der Eulenspiegel hat sich bis heute gehalten; man findet ihn noch zuweilen. In Mölln soll man außerdem allerlei geheime Nachrichten über »den alten Herrn« haben, aber man spricht nicht davon gegen Fremde. Die Schildbürger müssen ebenfalls unter uns sehr gelesen gewesen sein; sonst wäre kaum die große Verbreitung und Lokalisierung ihrer meisten Geschichten zu begreifen, wenn auch viele uralte Volkswitze sind, deren Spur sich schon über das achte Jahrhundert hinauf nachweisen läßt. Wir theilten von den Jaglern, den Hostrupern, den Gablern, Romöern und den übrigen Schildbürgern unsers Landes, so weit wir von ihnen erfuhren, immer nur eine Geschichte mit (Nr. 119 ff.), um ganz unnöthigen Wiederholungen auszuweichen und um nur der ästhetischen Geographie eine Übersicht zu geben. Kaum aber möchte Thüringen mehr Schildas aufzuweisen haben als wir. Als Märchen wurde mir ferner die Geschichte von den beiden Freunden Alexander und Ludewig aus Meldorf mitgetheilt; sie stimmte noch fast ganz mit der Erzählung im Buche von den sieben weisen Meistern. In Dänemark Danske Viser V. 67 ist sie als Lied auf einem fliegenden Blatt vorhanden; vielleicht fand sie in ähnlicher Weise auch unter uns ihre Verbreitung; so auch die Erzählung vom König von Spanien (Nr. 615). Das Volksbuch von der Genovesa ist zu Nr. 4 nachgewiesen; über andre bin ich ungewis. Nur daß der gehörnte Siegfried früher auch gelesen ward, lernen wir aus dem Siegfried von Lindenberg. Auch Reinke Voß ist im Volke bekannt; doch die Thierfabeln, die erzählt werden (Nr. 623 ff.) und andre nicht aufgenommene sind augenscheinlich nicht aus ihm geflossen. Es gibt außerdem noch eine Reihe schwankhafter Märchen und Sagen, die keineswegs aus jenen Novellen und Volksbüchern herstammen, sondern von altersher überliefert und gleiches Ursprungs mit denen sind, woraus die Volksbücher von den sieben Schwaben, den Schildbürgern, Eulenspiegel etc. zum Theil zusammen gesetzt wurden. Damit verhält es sich nun so.
Mit den oben S. XIV erwähnten Räthselliedern stehen ihrem Character und ihrer Form nach die meisten Kinderreime und rhythmischen Märchen (Nr. 625-631, 647 ff.) in der nächstem Verbindung. Die Lügenlieder, Vögelhochzeiten, Darstellungen einer verkehrten Welt, und manches andre, wie das bekannte »Ik deen mien Herrn wul sœben Johr« mit den poetischen Namen Hebberecht, Lusebung, Unverseert, Brumnichso etc. setzen ebenfalls ihrer Manier und Grundlage nach eine gleich lange Überlieferung voraus. Ohne Zweifel kannte man ähnliche und gewis bessere, vormals schon in stabreimender Form eben so gut als Räthsellieder. Denselben possenhaften, niedrig-komischen Character haben die Schwänke und manche Märchen und Sagen, nur daß diese eine wirkliche, einfache, komische Handlung zum Inhalt haben, jene Reime und Lieder aber durch bloßen Wortklang oder durch an einander gereihte Einfälle die komische Wirkung zu erreichen suchen. Solche Reime werden ehemals nicht ausschließlich den Kindern und Ammen angehört haben, sie werden auch von denselben fahrenden Leuten Ich erinnere an das im 12. Jahrhundert bekannte Tragemundslied., die vorzüglich die Gattung der Schwänke, überhaupt aber die gesammte niedere Epik cultivierten, erfunden und vorgetragen sein. Man darf diese gemeinen Spielleute, denen man nach dem Sachsenspiegel mit dem Schatten eines Mannes büßen soll, nicht mit jenen Trägern des edlen höhern Heldenepos zusammen werfen, obgleich sie vielfach in ihr Gebiet hinüber griffen und im zwölften Jahrhundert selbst mit den französischen Ritterepen wetteifern wollten und große, aber höchst rohe und ungeschlachte Gedichte verfaßten, deren Frische und echte Komik zwar oft erfreut. Die Scôpe, die geachteten Sänger des höhern Epos, lebten nicht in Schaaren, wie die Spielleute. Diese treten mit dem Untergang des Heidenthums auf, aber Bonifazius und die Fürsten und Concilien verfolgten sie mit stets wiederholten Verboten, doch es half nichts. Im zehnten und den folgenden Jahrhunderten sind sie noch eben so wohl da wie früher und treiben sich auf allen Straßen umher, finden sich in Haufen bei den Festen der Fürsten ein und führen da ihre Tänze und Spiele unter schallender Musik auf und tragen ihre Lieder ebenso vor, gewis auch selten ohne mimische Bewegungen, oft bei Tische in den Häusern der Vornehmen, oder auf Kreuzwegen und Plätzen vor dem Volke. Ihr Treiben scheint sogar noch an Ausdehnung gewonnen zu haben; selbst in Klöstern, die ihnen früher streng verboten wurden (Äbte und Äbtissinnen sollten keine Hunde, Falken und Gaukler halten), finden sie sich jetzt, und die lustigen Mönche setzten ihre Lieder ins lateinische um und sangen sie selbst. Diese Lieder waren von der mannigfaltigsten Art, meist behaglich, schwankhaft und spöttisch, seltener ernst, oft jedoch mit gnomischen Theilen und von didaktischer Tendenz. Ihre einfachen Stoffe waren entweder aus alten Mythen entlehnt oder aus der Thierfabel, aus dem täglichen Leben und der Geschichte, aus der Legende und selbst aus der Heldensage, die nur possenhaft verdreht ward. So im Gedicht von Salman und Morolt. Auf diese Weise verdankt eine große Menge deutscher Märchen, Sagen und Schwänke sicherlich der Thätigkeit dieser Spielleute im neunten, zehnten und elften Jahrhundert ihren Ursprung. Allem Anschein nach war diese Zeit für sie die reichste Werkstatt. Das bekannte Märchen vom Schneider, der in den Himmel kommt und auf des Herrn Stuhl steigt, kann nur in einer Zeit entstanden sein, wo noch heidnische Vorstellungen von Wodans Himmelsstuhl nachwirkten. Dasselbe ist der Fall bei dem Märchen von der dümmsten Frau (Nr. 603). Ebenso fordern Nr. 240 und noch mehr Nr. 244 eine heidnische Grundlage. Von Nr. 243 wissen wir, daß eine ähnliche Geschichte schon im zehnten oder elften Jahrhundert von Spielleuten und Mönchen gesungen ward, und ebenso waren unsere Märchen vom Vater Strohwisch und von den reichen Bauern (Nr. 617. 618) Inhalt eines Liedes; das Märchen (Nr. 619) hat ganz denselben Character. Daher kann man unbedenklich Stücke, die diesen leicht erkennbaren Character tragen, wie Nr. 239. 241. 619, überhaupt einen großen Theil der von S. 152-174 mitgetheilten und andere, die augenscheinlich nur zufällig an ein Local geheftete Märchen sind, für die Reste jener wuchernden Spielmannspoesie halten. Den Spielleuten darf man auch vor allem die Ausbildung des Thierepos, ihnen viele Eulenspiegel- und Schildbürgergeschichten zuschreiben, und ohne Zweifel verdanken wir ihrer lang anhaltenden Thätigkeit nicht weniger die Verbreitung vieler Sagen. Denn das Volk sang, wie heute noch, die vorgetragenen Lieder nach, und entfloh endlich das Wort, so vergaß man darum doch nicht den Inhalt. Schon schrieben wir ihnen auch die Verbreitung fremder Märchen zu.
Die Spielleute erlitten aber darum anfangs von der Geistlichkeit so heftige Verfolgung, nicht etwa bloß wegen ihrer schlechten Sitten, sondern wegen ihres unmittelbaren Zusammenhanges mit dem Heidenthum. Es gab zur Frühlings-, Sommer- und Julzeit feierliche Festaufzüge, verbunden mit Spielen und Liedern. Über unsre Maigrafenfeste, das Fuchsaustragen Das Lied bei Schütze Idiotik. III. 165., Weihnachtsaufzüge etc. wird die Sammlung der Sitten und Gebräuche unseres Landes einst ausführlicher Nachricht geben; aber sie sind die letzten Reste der altheidnischen Festfeiern, die für die Entwickelung der deutschen Poesie von unendlicher Bedeutung sind. Jakob Grimm Mythol. S. 744. bemerkte, daß in den Spielen die ersten Anfänge dramatischer Aufführungen zu suchen seien. Denn ein Mythus selbst mit vertheilten Rollen wird darin dargestellt: Der Junge, der den Fuchs umträgt, nennt sich selbst Hans Voß, oder in den Maispielen stellt einer den Sommer dar, ein anderer den Winter u. s. w. Leute aus dem Volke selbst übernehmen gewöhnlich in einer Vermummung die Rollen, das ganze Volk nimmt Theil, die Handlung geschieht auf offenem Raum, ganz so wie später die geistlichen Spiele und sogenannten Mysterien, die die Geistlichkeit an ihre Stelle setzte und von denen zunächst das Drama ausgieng. Aber noch weit früher als das Drama, entwickelten sich auch aus diesen Festspielen andere Aufführungen, die zum großen Theil nur durch jene Spielleute ausgebildet und kultiviert wurden. An der dem Maigrafenfest entsprechenden Umführung des Bären in der Frühlingszeit kann man diese Entwickelung deutlich verfolgen Mytholog. 736. 743 fg. Lat. Ged. des 10. und 11. sec. S. XV.: ursprünglich hatte die Sitte religiöse und mythische Bedeutung, dann aber machten sich die Spielweiber ein Gewerbe daraus. Und wie nahe lag es doch, von der Darstellung jener Mythen zur Aufführung anderer frei gewählter Stoffe über zu gehen! So wurden schon im zehnten Jahrhundert in Klöstern Scenen aus der Thierfabel mimisch dargestellt F. Wolf über die Lais S. 238 fg.; wie damals die Geistlichen ihre Lieder von den Spielleuten empfiengen, so werden sie auch diese Aufführungen nur ihnen abgelernt haben. Denn außer dem Vortrag von Liedern werden ihnen auch, wie wir schon erwähnten, Spiele, Tänze und Possen beigelegt. Sie werden der einfachsten Art gewesen sein, wie später noch die Fastnachtsspiele und die weltlichen Theile der Mysterien. Und sehen wir unsre Kinderspiele an, die nicht gesungen, wie die Tanzlieder, sondern nur halbsingend remitiert werden, mit ihrer dialogischen Form, ihrem bald romanzen- und legendenartigen, bald auf eine Thierfabel oder ein Märchen weisenden Inhalt Durch ein Versehen ist nicht das Dutzend der unter Nr. 637 mitgetheilten voll geworden. Das bekannte »Blinde Koh, ik leide di« etc. hätte nicht fehlen sollen., beachten wir den Zusammenhang von Wort und Darstellung, erwägen wir ferner, daß ganz dieselben Stoffe zugleich auch Gegenstand der alten Lieder der Spielleute waren, so ist es nicht zu viel behauptet, wenn wir sie für die letzten Reste und Nachahmungen jener alten Aufführungen erklären, die uns diese selbst wohl veranschaulichen mögen. In der Geschichte der Volkspoesie ist nichts wunderbarer, als ihre immer neue Triebkraft und daneben die zähe Dauer des einmal entstandenen. Jene Aufführungen der Spielleute entsprangen aus den alten heidnischen Festspielen; diese dauerten fort, nachdem das Volk auch schon jene Spiele aufgenommen, und nachdem das Drama, wohl eine Folge beider, längst sich entwickelt hatte; ja, sie werden noch heute aufgeführt, die doch den Grund zu allem hergaben; die Spiele der Fahrenden aber leben ebenfalls noch, aber in der Kinderwelt.
Man muß von den Spielen die eigentlichen Aufzüge und festlichen Tänze des Volkes wohl unterscheiden; jene gehen nur neben diesen her und nehmen darum ein gleich hohes Alter in Anspruch. Die Tänze geben keine halbdramatische Darstellung eines Mythus, doch ist stets Gesang damit verbunden. Freilich wenn die fröhlichen Frühlings- und Sommerfeuer jetzt angezündet und umtanzt werden (Nr. 259), so hört man nur noch einzelne Rufe, aber ehedem erschollen ohne Zweifel den höchsten Göttern Lieder. Stumm wird jetzt nach beendigter Aussaat dem höchsten Gotte für sein Pferd die Gabe hingestellt (Nr. 566), aber in Westfalen und Mecklenburg wurden bei demselben Erntegebrauch vor einigen Jahren doch noch einige Reime gesungen und Tänze aufgeführt. Unter dem Segen eines Priesters und mit Anrufung christlicher Heiligen wurden später Umzüge um die bestellten Äcker, oder um Regen zur Zeit der Dürre oder um einen gesegneten Fischfang zu erflehen, gehalten (zu Nr. 202), führte man bei solchen Gelegenheiten im Heidenthum ein Götterbild statt des Heiligenbildes umher, so werden auch entsprechende Lieder nicht dabei gefehlt haben. Vor zweihundert Jahren wusten alte Leute zu erzählen, daß zur Zeit der Julfeier mannbare Jungfrauen auf Westerlandföhr vor der Westerkirchpforte das Neue Jahr, auch Nachmittags nach dem Gottesdienste, (singend) eintanzten Heimreich, herausg. von Falck I. 120. Vergl. Anm. zu Nr. 499 dieser Sammlung.. Den Föhringern muß also das Gebot des helligen Bonifaz an die neubekehrten Deutschen auch später nicht zugegangen sein, in den Kirchen keine Tänze und »Mädchenlieder« auszuführen und Schmäuse zu halten Statut. Bonifac. c. 21.. Aber nicht allein an den höchsten oder bei den ländlichen Festen fanden solche mit Tanz und Gesang verbundene Auszüge statt, sondern bei keiner feierlichen Handlung, bei keinem größerm Opfer fehlten sie. Bei Hochzeiten, Bestattungen (Nr. 406 Schluß), und wenn man in die Schlacht zog, erschollen sie. Ein solches, stets mit Tänzen oder orchestischem Einherschreiten verbundenes Lied hieß nun ein Leich Mythol. S. 44.. Seine Form ward später unter dem Einfluß der geistlichen lateinischen Kirchenpoesie besonders zu den Zeiten des Minnegesangs sehr künstlich ausgebildet. Eigenthümlich find ihr ungleiche Strophen, nicht dieselbe kehrt regelmäßig wieder wie im Liede. Diese Eigentümlichkeit kann der Leich schon frühe, als er die alte heilige Poesie des Volkes ausmachte, gehabt haben; sie stellte sich leicht bei dem Chorliede ein, wie der griechische Dithyrambos lehrt, und widerstrebt nicht dem Wechselgesange. Doch werden die alten Lieder einfach und kurz gewesen sein von wenigen Strophen, aber von verschiedenartigem Inhalt, bald ernster, bald heiterer. Solche hymnisch-chorische Gesänge, sahen wir schon, giengen dem Epos vorauf. Jetzt will ich nachweisen, daß auch die Lyrik von ihnen ausgieng.
Zunächst ist es ganz deutlich, daß der spätere deutsche Tanz, der Reigen, aus solchen chorischen Aufzügen und Tänzen entstanden ist. Neocorus (I. 177) beschreibt ihn für Ditmarschen, wo er der lange Tanz genannt ward; daß er aber auch in Holstein, wie im übrigen Deutschland gebräuchlich war, lehren Nr. 26. 33. Nur mögen die Ditmarschen sich gerne besonderer Kunst und Geschicklichkeit haben rühmen können, wie ihnen auch der größere Liederreichthum zustand. Es gab dort zwei Arten des langen Tanzes, einen sogenannten Trümmekentanz, Trommeltanz, der mit vielem Treten und Handgebärden ausgerichtet ward, und als zweite Art den Springeltanz (Nr. 635), bei dem viel gehüpft und gesprungen ward. Der Trümmekentanz war schon zu Neocorus Zeit fast außer Gebrauch gekommen; er ist offenbar die ältere Art, wenigstens von kriegerischem und höherem Character. Nur wenige Lieder wurden noch dabei gebraucht. Man darf vermuthen, daß die historischen Lieder voll kriegerisches Geistes ursprünglich nur zum Trümmekentanz gesungen wurden. Ich führe hier noch ein Zeugnis an. Heinrich Giesebrecht, ehedem Landmann im Fedderingen in Norderditmarschen, zugleich aber ein gelehrter Jurist, (er stand mit Leibnitz in Briefwechsel) erzählt In seinem vergleichenden Ditmarscher Landrecht Periculum statutorum harmoniae practicae etc. Lubecae 1652. 4. p. 17: Adhuc supersunt carmina, qualia Tacitus describit, quorum cantu vel bardtu(quod barritum alii vocant hoc est vociferationem confusam) accendunt animos et terrendo trepidandove, prout sonuere acies, ipsam pugnae faciem repraesentare solent, idque ex professo agere incolae, quando solemniter saltare carmina haec ipsis moris est, ut sit ille non tam vocis, quam virtutis contentus. Und nachdem er von der Tapferkeit ihrer Frauen und ihrer Verachtung des Geldes (?) gesprochen, heißt es p. 18: Chronica Holsatorum quaeque carmina in solennibus suis festivitatibus olim soliti sunt saltare Ditmarsi, haec referunt, quodque cladium inde acceptarum exprobration inter alias causa belli fuisse Adolfo Holsatiae duci memoratur ultimi, cujus impulsu tandem super libertate sua Ditmarsi transegere, ut refert Cluver. ex Ensio et Cilicio in epit. hist. Anni 1559. m. p. 726. et Chytr. Saxo. Chr. lib. 20. in princ.: »Noch gibt es Lieder bei den Ditmarschen, wie sie Tacitus beschreibt, durch deren Gesang sie die Gemüther entflammen und das Bild eines Kampfes selbst darstellen, wenn sie darnach bei festlichen Gelegenheiten tanzen. Es ist nicht ein Gesang der Stimme allein, sondern vielmehr der Tapferkeit. Der Spott dieser Lieder über die früher erlittenen Niederlagen soll unter andern Grund des Krieges für den Herzog Adolf von Holstein gewesen sein, wodurch die Ditmarschen um ihre Freiheit kamen.« Offenbar handelt es sich hier nur um die historischen Lieder, und der gemeinte Tanz kann nur der Trümmekentanz sein, wenn nicht etwa der alte Schwerttanz, den Tacitus schon beschreibt und den Viethen im vorigen Jahrhundert noch in Büsum aufführen sah Tacit. German. c. 24. Viethens ausführliche Beschreibung in Dahlmanns Neocorus II. 566.. Auch aus Schweden gibt es eine ältere Beschreibung desselben; eine englische Sitte Mythol. S. 281. zeigt Verwandtschaft; aber überall scheint es ein stummes Spiel gewesen zu sein. Doch irre ich nicht, so haben einmal irgendwo die Brüder Grimm die Mittheilung des hessischen Schwerttanzliedes versprochen. Dann würde diese alte Sitte für die Ausbildung der kriegerischen Poesie auch ohne Zweifel von Bedeutung gewesen sein In Gemeinschaft mit den Spielleuten lebten Klopffechter, die wie jene rechtlos und unehrlich waren; durch einwîgi , Zweikampf, verdeutschen althochd. Glossen regelmäßig spectaculum, ludicra.. Sonst freilich hat diese ganz einfach ihren Grund in alten Siegesfeiern.
Die zweite Art, der Springeltanz, hat einen heiterern Character. Er war vorwiegend in Gebrauch und die meisten Lieder, auch die Lügenlieder (Nr. 627. 635) wurden dazu gesungen. Beiden Arten gemein scheint diese Weise der Ausführung gewesen zu sein: »Ein Vorsinger, der auch wohl einen zu sich nimmt, der ihm beistehe und ihn ablöse, steht und hat ein Trinkgeschirr (wie in den Tänzen der Elbe und Zwerge) in der Hand und hebt also den Gesang an. Wenn er einen Vers ausgesungen, singt er nicht weiter, sondern der ganze Haufe, der entweder den Gesang auch kennt oder wohl aufgemerkt hat, wiederholt denselben. Und wenn sie es so weit gebracht, da der Vorsinger es gelassen, hebt dieser wieder an und singt abermals einen Vers. Sobald dieser Gestalt nun ein oder zwei Verse wiederholt sind (ein Stasimon), springt und thut sich einer hervor, der vortanzen und den Tanz führen will, nimmt seinen Hut in die Hand und tanzt gemächlich im Gemache umher und fordert auf diese Weise die übrigen zum Tanze auf Neocorus, der die Tanzweise seiner Büsumer Marschleute und der Oldenwördener beschreibt, fügt hinzu, daß auf der Geest der Vortänzer auch sich einen Gehilfen nahm, der ihm in der Leitung beistand.. Darauf fassen sie all nach gerade sich der Reihe nach an, doch so, daß angesehenen Leuten die hohe Hand gelassen wird. Wie nun der Vortänzer sich nach dem Gesange und dem Vorsinger richtet, so richten sich die Nachtänzer und alle Personen, wes Standes sie auch seien, durch einander nach ihrem Führer in so großer Einigkeit, daß ein Vortänzer in die zweihundert Tänzer an der Reihe führen und regieren kann.« Man ersieht daraus, dieser Tanz mit seinem wechselnden Gesange, seinen mimischen Gebärden und Handbewegungen, dem Vortänzer und der reihenweis ihm folgenden Schaar ist wesentlich der alte Leich, nur in einzelnen vielleicht fortgebildet oder vereinfacht; jedenfalls standen ihm verschiedenartigere Lieder zu Gebot. Erst nach der jüngsten Fehde 1559 drang in Ditmarschen der Biparendanz ein, wohl unser Walzer oder der sogenannte polnische Tanz; es tanzten nur zwei und zwei. Dadurch gieng endlich die alte Tanzweise unter, traurige Reste derselben sind noch der Großvatertanz und der Kehraus.
Man muß den Untergang der alten Tanzweise bedauern. Denn sie allein war fähig Träger des Wortes und der Melodie zu sein, sie war nicht blos eine angenehme, reizende Leibesbewegung, sondern lebendige Begleitung des Liedes nach seinem Inhalt und seiner Form. Je weiter wir in der Zeit zurück gehen, je mehr müssen wir den engsten Zusammenhang des Liedes und des Tanzes selbst annehmen. Wie aber ein solcher Tanz beschaffen sei, lehren noch die Kindertänze (Nr. 637). Auch da wird gesungen und der Tanz folgt genau dem Worte, nicht aber wird, wie in den Spielen, eine Fabel dramatisch dargestellt. Nr. 637, 4 ist zugleich augenscheinlich ein kleiner Leich. Nicht weniger aber, wie mit dem Tanze, hieng der Inhalt des Liedes genau mit seiner Melodie zusammen. Und notwendiger Weise wog der eigentliche Gesang bei hymnisch-orchestischen Chorliedern eben so sehr vor, wie er und die begleitende Harfe beim Vortrag der eigentlichen epischen Poesie untergeordnet war.
Je näher aber Tanz und Wort und Weise zusammenhiengen, und alle im nächsten Bezuge zum heidnischen Kultus standen (das Wort enthielt ja den Preis der Götter oder Gebete an sie, oder doch heidnische Gedanken), desto mehr muste diese ganze Kunst erschüttert werden durch das Eindringen des Christenthums. Seine endliche Herrschaft zerstörte den alten Zusammenhang. Das Volk hielt jedoch die alten festlichen Zeiten, wo es sich der Freude und Feier hingab, wie das in der Natur der Sache liegt, fest. Zwar wohin die Kirche reichen konnte, da setzte sie auch ihre kirchlichen Handlungen und Gesänge an die Stelle, zunächst in den aus den alten Tempeln entstandenen Kirchen selbst, bei Feldumzügen, bei Bestattungen u. s. w.; selbst wenn es in die Schlacht gieng, ward das Kyrie jetzt angestimmt. Aber bei Hochzeiten, Kirchmessen (statt der Opfer eingerichtet Beda historia eccl. I. 30., Erntefeiern, überhaupt bei vielen öffentlichen und häuslichen Festlichkeiten muste die Geistlichkeit das Volk der weltlichen Freude und Heiterkeit schon ungestörter überlassen. Nur heidnische Lieder und directe Beziehung auf das Heidenthum wird sie zu verbannen gesucht haben, und im Laufe des achten und neunten Jahrhunderts gelang ihr dies; dennoch aber blieben viele heidnische Gebräuche stehen und Reste heidnischer Lieder haben sich im Munde des Volkes selbst bis heute erhalten. An die Stelle der alten Lieder, voll Mythologie und Heidenthum, wurden nun ohne Zweifel zunächst epische Lieder, wie sie die Spielleute sangen, beim Tanze gebraucht, schwerlich eigentliche Heldenlieder. Von den Zeiten der Einführung des Christenthums bis zum zwölften Jahrhundert nahm von Jahrhundert zu Jahrhundert allmählich die Behaglichkeit und Mannigfaltigkeit des Lebens zu. Der Tanz und seine Lieder werden diesem Zuge gefolgt sein, er war nicht mehr ein Teil des Kultus, sondern diente nunmehr bloß zur Ergötzung und Feier. Die christliche Religion aber bewirkte im Gemüthe des Volkes nach und nach ein erhöhteres Gefühlsleben und eine größere Beweglichkeit und Freiheit der Empfindung. Aber doch erst im zwölften Jahrhundert war diese so mächtig, daß mitten in einem reichern, behaglichem Leben die Lyrik entsprang. Homerische Hymnen sind epische Lieder und die ältesten Gesänge der Deutschen waren nicht anderer Art; manche spätere Heldenlieder mögen aus ihnen in ähnlicher Weise entstanden sein, wie vielleicht der erste Gesang der Ilias aus einem Hymnus auf Apollon. Hier tritt die Empfindung wie in allem Epos hinter dem stofflichen Inhalt zurück, in der Lyrik aber herrscht sie. Diese fand nun gleich bei ihrem Auftreten den weitesten Spielraum vor, je vielfältigere Verhältnisse die epische Poesie, namentlich die niedere der Spielleute, schon ergriffen hatte; es gab Spottlieder, Loblieder, Trauer- und Freudenlieder. Zechlieder kennt jedoch die ritterliche Lyrik unseres Mittelalters nicht, noch auch der eigentliche Volksgesang; nur die lateinische und die spätere deutsche Vagantenpoesie hat sie. Der Mittelpunkt alles Volksgesanges bleibt aber immer das Tanzlied, und wo dieses lyrisch wird, ist das Liebeslied die erste Gattung, die sich ausbildet. Seines Ursprungs aus dem Epos bleibt jedoch diese Art des Volksliedes stets eingedenk. Denn es macht nicht den vergeblichen Versuch die Empfindung und innern Zustände so nackt und kahl hin zu stellen, sondern kleidet sie ein in eine einfache Situation oder Scene, es führt Personen im Selbst- oder im Wechselgespräch auf und gibt so des Herzens innerste Freude oder seinen Schmerz kund. Das ist überhaupt die einzige Weise echter Lyrik, unsre grösten Dichter, Goethe, Uhland, machen es nicht anders. Schillern lag die Lyrik ferner. Unsre heutigen Poeten, die den Kopf so voll von Ideen zu haben glauben und den Mund noch voller nehmen, können auch nicht ein einziges einfaches Lied zu Stande bringen. In der ganzen Fülle des gegenwärtigen Lebens stehend, vermochte das Volkslied durch die nun ihm nie ausgehende Kraft auch die einfachsten Motive hundertfach zu variieren, ohne daß die Wiederholung ermüdend würde oder Erschlaffung zeigte, wie bei der Kunstpoesie. Der höfische Minnegesang ging im zwölften Jahrhundert von dem Volksliede aus. Auch in seiner Blüthe, als er schon reichste Entfaltung gefunden hatte, erinnern die schönsten Lieder Walters Nemt, frowe, disen kranz etc. Under der linden etc. Herzelebez frowelîn etc. In einem zwîvellîchen wân etc., Heinrichs von Morungen und anderer unverkennbar an die Weise des Volksliedes. Nithart (um 1230) schließt sich ganz an dasselbe an. Die Motive seiner Lieder sind ihm zum großen Theil überkommen, nur daß er sie zur Verspottung des bäurischen Wesens ausbeutet. Eines der beliebtesten ist, daß eine tanzlustige Alte statt ihrer Tochter zum Reigen will, oder umgekehrt, die Tochter wider den Willen der Mutter dahin eilt. Und dasselbe Thema, nur ohne ironische Zugabe, zeigen noch das ditmarsche Lied (Nr. 635), das Liedchen von der Anna Susanna (Nr. 636), und das erste Kinderlied unter Nr. 637, das zugleich sein Alter durch das Schellenkleid verräth. Obwohl also über vierhundert Jahre zwischen Nithart und Hans Detlefs, der jenes Lied aufzeichnete, liegen, so war das Volk der Wiederholung doch nicht müde geworden; das Lied wirkt durch immer gleich jugendliche Frische. Andre Themata, für die wir keine Beispiele aus unserer Sammlung anführen können, weisen in eben so alte Zeit zurück. Das angeführte ist augenscheinlich aber eins der ältesten nach seinem Zusammenhange mit dem Tanz.
Nachdem nun die höfische Poesie sich im dreizehnten Jahrhundert ausgelebt und gleichzeitig das alte Volksepos seinen Untergang gefunden hatte, schoß, durch die Kunst der fahrenden Leute nicht ohne befruchtenden Zusammenhang mit beiden, die Volkslyrik in immer reichern Trieben hervor. Fortgetragen und wachsend in dem Zuge der Zeit nach einem neu verjüngten Leben – ein frischer Hauch durchwehte damals alle Völker und weckte überall fast eine ähnliche Poesie – dauerte sie an bis in die Zeiten der Reformation. Während damals der zünftige Meistergesang sich hinter die Thore der Reichsstädte verschloß, schwärmte der Volksgesang auf allen Straßen und Feldern Deutschlands umher, überall wurden mit freier Kunst die Lieder angestimmt, jede Mundart kam wieder zu ihrem Rechte. Die Vaganten dieser Zeit, Sänger, die aus ihrer Kunst ein Gewerbe machten (Nr. 26, 1), freie Knaben, Lanzknechte, Reiter, Jäger, Schreiber, fahrende Schüler, Handwerker etc. waren zum großen Theil die Dichter dieser Lieder und trugen sie von Ort zu Ort, so daß dasselbe Lied zwar meist verändert und umgedichtet, oft aber fast ganz übereinstimmend in dem verschiedensten Gegenden und Dialecten wieder gefunden wird. Neocorus und Hans Detlefs hielten die Lieder, die sie mittheilten, für gut ditmarsche, aber wenn nun Uhlands Sammlung fast gleichlautende hochdeutsche Lieder aus ältern und eben so alten Aufzeichnungen bringt, wohin gehören sie dann? Das Landvolk sang damals ganz in derselben Weise, wie die Fahrenden; das beweisen unsre ditmarschen Lieder, die Schlußstrophe des Liedes auf Wiben Peter (Nr. 77, 1), z. B. kehrt ganz häufig in Reiterliedern wieder. Viele Lieder, die unter dem Landvolk entstanden, werden an die Fahrenden übergegangen sein, und umgekehrt wird das Landvolk sich manche Lieder dieser angeeignet haben. Man sehe die Reihe der S. 519 angeführten durch, der lebendigste Austausch fand statt. Aber leider ist die ländliche Poesie nicht so glücklich gewesen, wie die Vagantenpoesie. Diese nahm im fünfzehnten Jahrhundert augenscheinlich eine Richtung, daß ihr vieles von dem, was jene schuf, weniger zusagte. Durch den Verkehr und Zusammenhang, der in ihrem Stande selbst und mit der städtischen Bevölkerung herrschte, kam es ohne Zweifel, daß viele ihrer Lieder Aufzeichnung fanden, ja zum Druck gelangten. Die bäuerliche Dichtung war ganz auf die mündliche Tradition gewiesen, und daher geschah es denn, daß so viele ihrer Lieder, und gerade die werthvollsten untergiengcn. Wir wissen, daß in jenen Jahrhunderten das Landvolk Die Zeugnisse in Wilh. Grimms Heldensage Nr. 117. 122. 129 fg. noch von Dietrich von Bern, von Siegfried und andern Helden des Epos sang, daß die Sage damals eine ganz eigentümliche Gestalt gewonnen hatte. Aber von allen diesen Liedern ist auch nicht ein einzigstes erhalten. Unter dem Landvolk hatte die Poesie noch einen festen Halt an den jährlichen Festen und Tänzen, und seine Lieder sind fast alle Tanzlieder oder konnten doch beim Tanze gebraucht werden Neocorus I. 177 »up dat de Gesenge edder Geschichte deste ehr geleret und beter beholden worden und lenger im Gebruke bleven, hebben se de alle fast den Denzen bequemet.«; unter den Fahrenden war das Lied ungebundener, und das Trink- und Wanderlied wog augenscheinlich vor. Dennoch hat diese ganze Poesie einen gleichartigen Character, so daß in der Anschauungs- und Gefühlsweise und im Tone keine große Verschiedenheit zu entdecken ist. Nicht alle Lieder, die entstanden, sind von gleichem Werthe, denn nicht alle Sänger besaßen gleiche Begabung, und nicht jeder war allemal gleich glücklich. Aber eine individuelle Bildung der Dichter zeigt sich nirgend, selbst wenn man auch den Stand derselben unterscheiden kann, in der Weise, wie bei der Kunstpoesie, die nur bei einer großen Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Dichter möglich ist. Darin liegt überhaupt der Unterschied der Kunst- und Volkspoesie. Die Kunstpoesie findet sich in Zeiten ein, wo eine Klasse höher Gebildeter sich von der Masse absondert, so im Mittelalter, so in der neuesten Zeit. Im Reformationszeitalter und dem nächsten vorangehenden bestand ein solcher Unterschied kaum, wenn er sich auch seit der sogenannten Wiederherstellung der Wissenschaften anbahnte. Mit vollem Rechte konnte Uhland Luthers »Eine feste Burg ist unser Gott« in die Reihe der deutschen Volkslieder stellen, sollten einmal für den geistlichen Volksgesang Beispiele gegeben werden. Trug endlich ein gutes Lied einzelne Spuren der Individualität des Dichters, so gieng es so lange durch aller Mund, bis nur der allgemeine Character des Volksliedes an ihm ausgeprägt und zu erkennen war. Schlechte Lieder giengen schnell unter und hielten sich nicht im Gesange. Bruchstücke, die noch heute umgehen, können wir immer für Reste guter Lieder ansehen.
Aber trotz dieses allgemeinen feststehenden Characters hat der gute Volksgesang dennoch einen Reichthum und eine Mannigfaltigkeit der Productionen, wenn man namentlich die Masse des untergegangenen anschlägt, daß er darin immer mit der guten Kunstpoesie wetteifern kann. Wie sehr hängt wieder das Gefallen, ja der Werth ihrer Schöpfungen von der Individualität der Empfangenden ab! Ein echtes Volkslied aber darf auf gleiche Wirkung bei hoch und niedrig rechnen. Das ist die Folge seiner Naturwahrheit, seines allgemeinen Characters. Das Fremdartige mied der Volksgesang und gerieth so nicht in die Verirrungen der Kunstpoesie. Von dem rechten Sinne geleitet, wandte er sich keinen Stoffen zu, die außer seinem Kreise lagen; nur selbst erlebtes, empfundenes und geschautes gibt wahre Poesie und die Lyrik vor allen vermag nicht über die Nähe und Gegenwart des eignen Lebens hinaus zu gehen. Neocorus (1. 176) sagt von den Ditmarschen: »Se hebben sick ock vor allen benaburten Völkern in Poeterien, Dichten und Singen, darin men so gude ingenia lichtlich spören kann, geövet und hervor gedaen, dat se darin den Bardis bi den Gallis nichtes nagegeben, wo dan solches de olden ditmerschen Gesenge tügen, de se van eren Schlachtingen, Averwinningen, wunderlichen Geschichten, seltsamen Aventuren edder andern lustigen Schwenken, ock wol Bolschaften und anderen Lastern gewisser Personen mit sonderlicher Leslichheit und Meisterschop gedichtet hebben, de ock so kunstlich gestellet sin, dat fast nicht ein tropus edder figura in der edlen Redekunst, so nicht in einen edder meer Gesengen konde gewiset werden. Solche averst sin to dem Ende sonderlich gerichtet, dat se allenthalven ock in eren Erenfrowden aller Manheit, Doget und Ere so weinig vorgeten, dat se ock ermanet unde gereizet, im Jegendeel averst van Lastern und Sünden afgeschrecket unde asgeholden worden.« Der Kreis, in dem der Volksgesang sich bewegt, kann nicht besser angegeben werden, und das Gesagte bestätigt sich, zugleich aber sehen wir, welche sittliche Bedeutung man ihm zuschrieb, die auch aller Volkspoesie in Wahrheit eigen ist. Gewisse Leute mögen das zu Herzen nehmen. Zwar die Reiter- und Schreiberlieder z. B. sind nicht immer die züchtigsten, und es gibt Pöbelreime Die Pöbelsprache wird eben so häufig mit der Volkssprache verwechselt, ja für das eigentlich volksmäßige gehalten. Dieses Irrthums hat sich Schütze, der Sammler des Idiotikon, schuldig gemacht; Voß in seinen Idyllen selbst tendiert zum platten. Die Volkssprache macht aber eben so wohl, wie die Sprache der Gebildeten, einen Unterschied zwischen dem Gemeinen und Anständigen. im Tone des Volksliedes und dieses oft parodierend; aber es wäre Unverstand nach der Entartung seinen Werth zu beurtheilen. Das echte Volkslied, voll frischer Sinnlichkeit und absichtsloser Naturwahrheit, ist keusch, ohne Ziererei und niemals gemein und platt. Es kann eben so wenig, wie jede andre Poesie, ohne Idealität bestehen. Eine traurigere Verkennung desselben gibt es daher nicht, als wenn ihm alle die prosaischen Lieder, die in der Volkssprache verfaßt werden, oder die, welche eine gewisse Verbreitung fanden, zugezählt werden.
Reizend bewegen sich Nr. 638. 641. 642 um Scenen eines ländlichen Liebeslebens. Diese Kleinigkeiten lassen den Verlust ähnlicher größerer Stücke schmerzlich empfinden. Neocorus I. 177. 337 führt noch zwei Lieder an, die hierher gehören mögen. Das erste begann: »Mi boden dree hövische Medlin«, es ward jedoch zum kriegerischen Trümmekentanz, aber vielleicht nur seines Strophenbaus wegen, gesungen. Das zweite soll nach ihm beweisen, daß das ehemalige adliche Geschlecht van Hage aus Ditmarschen stamme, wie die Reventlowen; sein Anfang lautete: »Kolde Winter, lat nu din Dwingen« und darin kamen die zwei Zeilen vor:
Johans van dem Hage dat is en ebar Man,
De sinen Schilt von Eren fören kann.
Vielleicht jedoch waren diese Lieder von balladenartigem Inhalt. Die früher angeführten Beispiele beweisen den vorwiegend heitern Character des ländlichen Liebesliedes. Es drückt fast nur die Stimmung der siegreichen Liebe aus. Die zarten Lieder voll Sehnsucht und Klage sind die seltneren und wurden wohl wenig beim Tanze benutzt, sind überhaupt jüngerer Art. Spuren solcher Lieder brechen durch in unsern Reimen, Nr. 637, 4, Nr. 640, Nr. 615 und einige der S. 519 gehören dazu. Es ist dem heitern offenen Sinne des Liebesliedes vor allem eigen, jene lebendige Auffassung der Natur und ihr oft kühnes Hineinziehen in die menschliche Welt, die man zwar mit Recht als einen allgemeinen Characterzug des Volksliedes angibt, der aber doch in den übrigen Gattungen desselben keinen gleich freien Raum hat. In unserer Sammlung sind die beiden Lieder vom guten Propheten Kukuk und der werbenden Nachtigal (Nr. 633. 634) dafür Beispiele; es wirken mythische Vorstellungen dabei nach, schale Sentimentalität ist es nie. Aber dem innigen Gefühl, das dieser Auffassung der Natur zu Grunde liegt, gerade entgegengesetzt ist es, wenn ihre ganze Ordnung in heiterkomischer Weise auf den Kopf gestellt wird (Nr. 627. 628). Diese Lügenlieder schließen sich ihrem heitern Character nach an das Liebeslied an, das erste enthält auch eine scherzhafte Werbung, sonst aber weisen sie zurück auf die alte Spielmannspoesie Eher aus ihr unmittelbar, als aus einem Liede, ist die Hochzeit der Thiere Nr. 629 herzuleiten. und zeigen sich dadurch als einen Ausfluß des Epos, so weit dies Gnome, Sprichwort, Fabel und Räthsel einschließt. Sie bilden daher, so beliebt und zahlreich sie find, nur eine Nebengattung.
Das Liebeslied bleibt bei einer Situation, bei einem einzelnen Momente eines freude- oder wechselvollen Lebens stehn. Die zweite Hauptgattung des Volksliedes aber, die man am bequemsten als die Ballade bezeichnet, hat immer eine dramatisch geschlossene Handlung zu ihrem Gegenstande. Häufig, jedoch nicht ausschließlich, ist dieser erotisch; das Lied Nr. 643 ist schwach und nur eine Parodie eines andern mit tragischem Schluß. Denn das ist wieder eine Eigenthümlichkeit der Ballade, dem Liebeslied gegenüber, daß sie meist einen ernsten, zuweilen selbst finstern Character hat. Darum aber eignet sie sich nicht weniger zum Tanze. Die Freude schließt den Ernst nicht aus, der Tanz an den ländlichen Festen des Jahres oder bei Hochzeiten ist zugleich eine Feier, und es gab ja einen muntern und einen würdigeren Reigen. Die Ballade steht dadurch höher als das Liebeslied und hat einen erhabenen Schwung. Dieses ist nothwendig die älteste, rein lyrische Gattung, die Ballade trat erst ein nach Untergang des alten Epos und ist recht eigentlich die lyrische Fortsetzung desselben. Die Sage ist vor allem ihre Quelle. Wir erkannten schon, daß das Lied von Herrn Hinrich (Nr. 45) auf einer alten Seeheldensage beruhen müste; es ward zum ernstern Trümmekentanz gesungen. Unsre Tellsage (Nr. 69) hat sich wohl nur durch ein jetzt freilich unwiederbringlich verlornes Volkslied so frisch erhalten. Denn nahm der Volksgesang erst seine Stoffe aus der Sage heraus, so flössen sie, als das Lied entfloh, wieder in diese zurück. Dasselbe erfuhren wir schon früher bei der alten Spielmannspoesie und müssen es jetzt abermals geltend machen. Ein großes, erfreuliches Glück war die Rettung des merkwürdigen Liedes von Graf Hans und Annchristine (Nr. 644), ich hoffe, daß ich durch neue Relationen es noch weiter werde ergänzen und nachbessern können; aber beklagen muß ich den Untergang des Liedes, worauf die schöne, weit verbreitete, aber nirgend so gut erhaltene Räubersage (Nr. 37, 2) beruhte. Ich vermuthe dies freilich nur, aber ich zweifle auch nicht im entferntesten daran, daß hier mich mein Gefühl täuscht. Man vergleiche die prächtigen Lieder vom Ulinger, Adelger, Graf Albert und Herrn Halewin bei Uhland I. S. 153 fg., die große Ähnlichkeit mit unserer Sage zeigen. Und in Schweden war gerade dieselbe Sage in einem Volksliede Angeführt Mythol. S. 435. behandelt, nur daß hier der Mädchenräuber altertümlicher ein Bergtroll ist, wie denn überhaupt manche Räubersagen nur verwandelte Zwergsagen sind Vergl. Nr. 485-492.. Die Ballade »Et weren twee Königskinder«, deren Inhalt an Hero und Leander erinnert, wird noch fast vollständig bei uns gesungen, S. 519. Aber eine, die einen der Geschichte von Pyramus und Thisbe ähnlichen Inhalt hatte Das vollständige Lied steht bei Uhland I. S. 190., hat sich kaum als Sage bei Steinkreuz gerettet (Nr. 97). Nur ein Rest des Liedes vom Morde der Eltern an dem eignen Sohn (Nr. 100) erhielt sich; es lebte unter uns in eigenthümlicher Gestalt; und ebenso das Lied, das Bürger in seiner Leonore nachahmte, »De Doet de ritt so snell, de Maen de schynt so hell« (Nr. 255). Die Borsflether Sage von dem Doppelmord der Brüder (Nr. 49) war auch in einem Lied behandelt; ob die ähnlichen Sagen ebenfalls auf ein Lied zurück zu führen sind, muß dahin gestellt bleiben. Aber ein Lied war ferner die Sage vom tanzlustigen Mädchen, das der Teufel holte (Nr. 229, 2), auch die vom Gottesdienst der Toten (Nr. 265). Und ähnlich wird es sich noch mit manchen andern Sagen verhalten, für die wir die Lieder nicht mehr nachweisen können. Zu den Seltenheiten gehören legendenartige Volkslieder, wie das von den drei Schwestern (Nr. 646); der Schluß dieses Liedes ist uns eigenthümlich und vorzüglicher als in andern Relationen.
Einem Balladenstoff fehlt selten Mord und Blut. Die Zeiten des Faustrechts waren zugleich die des Volksgesanges; viele Sagen geben ein Bild derselben, dem Volksgesang boten die Ereignisse des Tages nicht weniger Stoffe für seine Balladen, als die alten Sagen. Aber wie fähig noch die poetische Kraft des Volkes war, die spröde Geschichte zu bewältigen und in reine Sage zu verwandeln, beweisen unter den angeführten schon das Lied vom Grafen Hans und die Sage vom Meisterschützen Henning Wulf. Erst am Schlusse des 14ten Jahrhunderts schaffte Greve Klaus unter dem Landvolk die Blutrache ab, aber in den Gemüthern wirkte sie noch lange nach und übte augenscheinlich ihren gewaltigen Einfluß auf die Umbildung des Geschichtlichen zum poetisch Sagenhaften. Heinrich Ranzau, der Statthalter, erzählte die Geschichte des Zwistes von Bockwold und Walstorp (Nr. 50) nach einem Liede; es werden noch zwei Zeilen daraus angeführt. Daß er auch für seine Erzählung von der Fehde Bockwolds und Bülows (Nr. 52) ein Lied benutzte, muß man annehmen nach den Schlagworten und dem ganz balladenartigen Fortschritt der Handlung. Man muß es bedauern, daß er die Lieder nicht aufbewahrt hat, und dafür nur eine Paraphrase in schwülstigen, oft unklaren und schwierigen lateinischen Versen gab. Ganz einfach, wie nach einer neumünsterschen und segebergischen Localsage, berichten nun Albert Kranz und Johann Petersen in zwei Versionen von Hartwig Reventlows That (Nr. 20, 1. 2). Aber noch in demselben Jahrhundert bricht in Heinrich Ranzaus Erzählung der volle Balladenstoff (Nr. 20, 3) hervor, die Reden der Handelnden und der dramatische Fortschritt fehlen nicht, und ich zweifle auch hier eben so wenig, daß ein Lied vorlag. Dies lebte fort, verwandelte sich, wie andere Lieder und Sagen lehren, so daß aus der Schüssel, worauf das Haupt des ermordeten Bruders dargebracht ward, ein Atreusmahl entstand. Aufgelöst und vergessen blieb sein Inhalt als Sage am Ort der Handlung haften (Nr. 20, 4). Der Untergang vieler Lieder aus dieser Zeit hat denselben Grund, der einst nach der Völkerwanderung der landschaftlichen Heldensage den Tod gab; sie waren durchaus provinziell, und das Volk ließ sie fallen, je ferner ihm die Zeit kam, der sie angehörten und deren Bild und Stempel sie trugen; es sang zuletzt nur, was man in ganz Deutschland sang, wenige und großentheils gute Lieder, die aber für den ehemaligen Reichthum uns nicht entschädigen können. Wie wir schon frühe Theil nahmen an dem Volksgesang des übrigen Deutschlands, beweisen vor allen die ditmarschen Lieder und manche andre der angeführten, die man fast überall in Deutschland kennt oder kannte; und endlich das Verzeichnis auf S. 519.
Aber nicht bloß in Holstein, auch in Schleswig lebte der Volksgesang. Den Friesen werden von ihren niedersächsischen und dänischen Nachbarn zugleich manche Lieder zugeflossen sein. Man hat leider verabsäumt, zu rechter Zeit auch nur eines aufzuzeichnen, sie werden auch an selbst erzeugten Liedern nicht arm gewesen sein. Denn falsch ist der Satz: Frisia non cantat. Dr. Clement Lebens- und Leidensgeschichte der Friesen S. 149. sagt: »Auf Hochzeiten sind sie früher außerordentlich lustig gewesen bei Tanz und Gesang. Viele Lieder waren noch am Leben, auf Föhr besonders; »Trintje Drügh Sees«, »Bai Redder«, eine sehr alte Ballade mit wilder, der schottisch-hochländisch ähnlichen Musik, und viele andre Volkslieder haben nun ein Ende.« Man forsche nur und frage nach, vielleicht ist doch noch eins oder das andere zu retten, wenigstens der Inhalt zu erfahren; warum so bald verzweifeln? Durch Herrn Johannsen von Amrum erfuhr ich auf meine Nachfrage vom ersten Liede dies wenige, Anfang und Schluß, mehr erinnere er sich nicht:
An Trintje fan Drügfeshs Bradlapdaih,
Diär wiär flok Büüran, det Kaan ik jam saih.
Jam könt uk sallav efter lesh
Uunt Lüd fan Trintje an Drügfesh.
und dann der Schluß:
Hat wurd iinplompt uunnan fippan Suas,
Det wiär fin Dünbadh efter a Duas
Auf T. von D. Hochzeitstage
Da waren viel Bauern, das kann ich euch sagen.
Ihr könnt es auch selbst nachlesen,
Im Liede von Trintje und Drügses.
Das Trinchen ward geworfen in einen tiefen Sod
Das war sein Dunenbett nach dem Tod.
Die Berufung auf ein gedrucktes oder geschriebenes Lied in der ersten Strophe fällt auf; doch kommt ähnliches in den faröischen Liedern vor. Traf eine untreue Braut die alte Strafe des Wapeltranks? oder was war der Inhalt? Herr Johannsen meint eine Hochzeit der Unterirdischen. Unter den friesischen Kinderreimen (Nr. 648) ist Nr. 6 offenbar Rest einer alten Ballade oder eines Liebesliedes; die übrigen zeigen vielfache Verwandtschaft mit deutschen; sie sind zum Theil Fabeln wie die unter Nr. 632, vergl. Nr. 648, 4. Gleichzeitig mit dem deutschen und in ganz ähnlicher Weise blühte in Dännemark und im ganzen Norden der Volksgesang. Der Sinn der Dänen, gerne aufs vaterländische gerichtet, und mit Recht voll Bewunderung und Liebe für ihr Alterthum, ließ sie frühzeitig genug an die Erhaltung der Volkslieder denken, und die herrlichsten Kleinode ihrer ganzen Literatur wurden gerettet. Es gab in Dännemark keinen so ausgebreiteten Vagantenstand, wie in Deutschland. Die sogenannten Kämpeviser sind hauptsächlich die Erzeugnisse der Poesie des Landvolkes. Nordschleswig nahm an der Blüthe derselben Theil, wie wir schon bemerkten, und unsre Sammlung enthält mehrere Sagen, die prosaisch aufgelöste Lieder sind (Nr. 43. 51. 53. 83. und die Anmerk. dazu). Einige sind darunter, die eigenthümlich sein werden und die ich nicht in den Sammlungen der dänischen Volkslieder fand. So fand ich auch nirgend ein reizendes Kindertanzlied »Munken gaaer i Enge den lange Sommertid etc.«, das mir kürzlich aus Sundewitt zugieng, und das ganz ebenso wie die unsrigen den nächsten Zusammenhang von Tanz und Wort zeigt. Welche von den übrigen nordschleswigschen Sagen auf Liedern beruhen möchten, ob Nr. 75? wage ich nicht zu bestimmen. Einfluß auf diese Sage könnte ein Lied geübt haben.
Es ist merkwürdig, wie diese Lieder alle an die ältere Poesie erinnern. Es schreitet die Darstellung, wie früher, nur in Sprüngen fort, die Strophe bildet keine Periode, einfache Sätze stehen neben einander, eigentliche Bilder und Vergleichungen sind selten, die Gedanken sind wie abgebrochen und hingeworfen, die Charactere nur durch wenige, aber kräftige Züge skizziert, die Situation wird nur angedeutet, und doch ist alles voll Leben, voll Sinnlichkeit, Faßlichkeit, Anschaulichkeit; keine Breite ist zu bemerken. Die Darstellung arbeitet vor allem auf die Exposition des Innerlichen hin, ganz so wie im alten deutschen Epos, daher waltet die Rede vor, das Äußerliche der Handlung nimmt den kleinern Raum ein. Auch hier, wie ehemals, kehren dieselben Wendungen, Ausdrücke, Gedanken, ja ganze Strophen in den verschiedensten Liedern wieder. Nur die Empfindung herrscht jetzt eben so sehr, wie früher das Stoffartige. Daher tritt an diesen Liedern besonders ein musikalischer Character der Form hervor: Refrains, Alliterationen, innere Reime, Wiederholung desselben Satzes oder desselben Gedankens mit andern Worten unmittelbar nach einander dienen dazu und stellten sich ungesucht ein. Das Volkslied bequemte sich nicht der hölzernen Manier der Meistersänger die Silben zu zählen, ohne Rücksicht auf den Wortaccent; es hielt sich freier, der alten Weise näher und zählte nur die Hebungen und ließ Senkungen fehlen, oder füllte sie gar mit mehreren Silben. Und der Reim ist oft mur Assonanz. So gab das Wort von selbst fast die Melodie, beide entstanden mit einander. Und daher wird auf künstlerischem Wege eingestandner Maßen heute selten oder nie eine solche Übereinstimmung zwischen Wort und Weise erreicht, wie in Volksliedern. Neocorus sagt: »Und is to verwundern, dat ein Volk, so in Scholen nicht ertagen, so vele schone lesliche Melodien jedem Gesange nå Erforderinge der Wort und Geschichte geven konnen, up dat ein ides (jedes) sine rechte Art und eme gebörende Wise etwederst mit ernster Gravitetischeit edder frowdiger Lusticheit hedde.« Wir mögen wohl mit Dahlmann bedauern, daß Neocorus sein Versprechen, auch die Weisen mitzutheilen, nicht erfüllte Neocorus I. 182.. Man muß den Männern großen Dank wissen, die die heute noch lebenden fleißig sammelten. Die empfindungsvolle Molltonart herrscht vor, und man hat bemerkt, daß deutsche Volksweisen leichter, als die anderer Völker, eine Harmonisierung zulassen, und hat dabei mit Recht auf unsre großen Tonkünstler hingewiesen. Aus Neocorus erfährt man außerdem, daß der Gesang beim Tanze oft, aber nicht immer unter Begleitung von Seitenspiel ausgeführt ward a. a. O. S. 177. 180. 182..
Die dritte Hauptgattung des Volksgesanges ist das historische Lied. Es bedient sich nicht in gleichem Maße, wie die Ballade oder das Liebeslied, der musikalischen Mittel der Form, des Refrains, der Alliteration etc; es hat meist auch umfangreichere Strophen, überhaupt einen höhern, einfachern und würdevollern Character. Dennoch ist es echte Lyrik und ward, wie jene Lieder, zum Tanze gesungen. Aber seine ersten nothwendigen Bedingungen sind Freiheit und Selbstthätigkeit des dichtenden Volkes, die eigne thätige Theilnahme desselben an dem besungenen Ereignis. Daher kommt das historische Lied nicht überall vor, wie die Ballade und das Liebeslied. Die Schweiz, die Hansastädte, die Stegreifritter und ihre Gesellen, die Lanzknechte kannten es; auch in Dännemark und England gab es historische Volkslieder. Wäre der Reim Bei Hvitfeld I. 681.
Hos Immervad, hos Immervad
Der fik Danmark it Fandens Bad
aus einem Spottliede auf die 1420 in einem kleinen Gefecht dort geschlagenen Dänen, so müste man Nordschleswig auch einen eignen historischen Gesang zuschreiben. Merkwürdig ist es, daß sich dafür bei unsern »edlen, freien« Friesen keine Spur zeigt, man müste denn Nr. 39 dafür ansehen; freilich hatten die Friesen allezeit mehr zu leiden, als zu thun. Aber es gibt im großen Deutschland wohl kaum einen Fleck, es sei denn die Schweiz, wo eifriger, anhaltender und glücklicher der historische Gesang geübt wäre, als in meiner lieben Heimat, dem kleinen freien Ditmarschen. Seit dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts erkennen wir es deutlich, bei jedem die Masse ergreifenden Ereignis, mochte es nun drohen oder schon überstanden sein, dringen die Lieder eins neben dem andern hervor: zum Jahre 1404 Nr. 29; zu 1434 Nr. 35; zu 1490 Nr. 70; zu 1500 Nr. 71, 1. 2. 3; zu 1531 Nr. 76, 1. 2; zu 1545 Nr. 77, 1. 2. Und »Help Gott«, ruft Neocorus aus, »wo manige leflige schone Gesenge an Wort und Wisen, ach wo vele, sonderlich der olden Leder sin undergangen, de uns so untelliger Hendeln underrichten konden, so dorch Veelheit der nien vorgeten und ut dem Gedechtnis entfallen!« Kein Lied besingt die Niederlage; sondern nur je größer die Bewegung im Innern, die Gefahren von Außen waren, desto reicher wird die Poesie gewesen sein, so lange Hoffnung und Muth zum Siege noch in den Gemüthern lebte. Sollte Ralves Karstens starke Partei zum Spott der Gegner (Nr. 35) geschwiegen haben? Es wäre wunderbar, wenn Graf Geerts unglücklicher Zug (Nr. 21), die Schlacht in der Hamme (Nr. 30), und wann sonst des Landes Freiheit bedroht war und gerettet ward, keine Lieder zur Folge gehabt hätten, da doch weit unbedeutendere Vorfälle (Nr. 70. 76, 1. 2.) ihre fanden. Aber sie wurden vergessen, wie die alten Lieder, die wohl von der Vertreibung der Grafen (Nr. 8. 10.) meldeten, vergessen wurden, als kein Adel mehr im Lande zu finden und zu fürchten war, und die Masse neuer Lieder mit jedem neuen Ereignis wuchs. Drei Lieder von der Schlacht bei Hemmingstede sind uns erhalten, aber das sind schwerlich alle, die es gab. Vor wenigen Jahren kannte man noch in Ditmarschen, besonders auf der Geest und den nördlichern Marschkirchspielen, ein Lied, das so anfieng:
Stuuf vör Meldorp flogen wi,
Slogen wi de Deusen
Stuuf stumpf, eben vor M.;
Deusen ist zunächst euphemistische Corruption für Teufel, dann für Dänen, die auch ebenso in dem bekannten Gedicht (bei Peter Mohr zur Verfass. Ditmarschens; Wolf und Hansens Chronik) bezeichnet werden, welches anfängt: »Nu, myn Dochter, segg van Harten, Wat dünkt dy by Reimer Marten« etc..
Dieser Anfang ward erhalten, weil, wenn es auf Bieren und Hochzeiten hoch hergeht, die Tänzer damit noch heute eine rauschende kriegerische Waldhorn- und Trompetenmusik bei den Spielleuten bestellen. Man sieht, unmittelbar nach der gelungenen That in der ersten frischen Siegesfreude, oder auch bei dem unverzagten Entschlusse zu muthiger Abwehr und Verteidigung des lieben Landes (Nr. 29. 76) auch im heftigen Streit der Parteien im Innern (Nr. 35) entsprangen diese Lieder. Darum sind sie alle voll von der Leidenschaft des Augenblicks, diese allein war auch fähig den spröden historischen Stoff, so weitschichtig er oft war, zu bewältigen und in lyrischen Fluß zu bringen. Das Lied gibt im rechten Augenblicke der Empfindung eines ganzen Landes Worte, und nur dadurch konnte es so mächtig und so groß werden, wie jenes dritte Hemmingsteder Siegeslied (Nr. 71, 3); meine Liebe täuscht mich nicht, es wird die Krone aller historischen Lieder sein. Neben dem Spott und der Freudigkeit der Sieger birgt es nicht die menschlichste Wehmuth über den wunderbaren Untergang des großen Heeres und so vieler tapferer Helden, und es verhehlt das Gefühl nicht, daß diesmal eine höhere Hand rettete. Und ein Bild des ganzen Hergangs breitet zugleich sich aus, so klar und lebendig in seinem weiten, tiefen Hintergrund, und so reich und voll gedrängt, je mehr die Handlung ihrem Ende zu eilt. Es wird nichts beschrieben, noch erzählt, sondern soviel des Thatsächlichen tritt nur hervor, als eben die Empfindung mächtig angeregt hatte, daß nun auch das Lied wieder fähig ist eine gleiche Stimmung zu erwecken, wie der Eindruck war, der es geboren hat. Man muß sich schämen, daß, wo solche Beispiele vorliegen, die prosaischsten Reimereien von historischem Inhalt aus verschiedenen Zeiten und Gegenden, von Geistlichen und Gott weiß welchen Leuten verfaßt (wie auch Neocorus noch solche mittheilt), in »Sammlungen historischer Volkslieder der Deutschen« mit diesen in eine Reihe gestellt werden. Der Unterschied des historischen Liedes von der Ballade springt in die Augen; nur ein selbst durchlebtes historisches Ereignis kann sein Gegenstand werden; und da dieses nur nach dem Eindruck, den es auf die Gemüther machte, in ihm wieder hervor tritt, so wirkt es nicht blos poetisch, wie die Ballade durch ihren abgerundeten Inhalt, sondern wird ein muthweckendes, zornerregendes Lied und ein Ausdruck der Tapferkeit und Entschlossenheit, eine Eigenschaft, die früher angeführte Zeugnisse ihm beilegten. Unsre Dichter möchten darnach lernen, was politische Poesie ist und welche Bedingungen sie notwendiger Weise hat. Es ist die höchste und erhabenste Lyrik und die äußerste Grenze dieser Kunst. War aber das Liebeslied, die älteste Lyrik, zunächst an die Stelle der festlichen Chorlieder getreten, hatte dann die Ballade, die lyrische Fortsetzung der heroischen Sagenpoesie, sich ihm zugesellt, so steht jetzt das dritte neben ihnen, das historische Lied als der Nachwuchs der ehemaligen historischen Epik, die eben so wenig, wie jenes, in allen Gegenden und zu allen Zeiten in gleichem Maße angebaut ward. Ich freue mich aber den historischen Volksgesang auch in Holstein nachweisen zu können; Ditmarschen kann nicht mehr ausschließlich unter uns diesen Ruhm behaupten. Ein Ruhm aber ist es, weil ohne Freiheit und Thatkraft kein solches Lied möglich ist.
Es ist merkwürdig, daß der Presbyter gerade an der Stelle, wo er seinen ganzen Haß gegen die Ditmarschen ausläßt, Worte eines Dichters ( carminator) anführt, der der Ditmarschen Treue in keineswegs rühmlichen Ausdrücken gedacht hatte (Nr. 30). Es war wohl ein Zorn- und Spottlied, und zwar volksmäßig nach dem, was und wie dies der Presbyter anführt. Ferner wer den Character dieser historischen Lieder kennt, der wird nicht zweifeln, daß des Presbyters Erzählung von dem Gefecht bei Tipperslo (Nr. 26) gegen die Ditmarschen auf einem holsteinischen Bauernliede beruht. Alles führt wenigstens darauf der allmählige, beschreibende Anfang, das rasche Anschwellen der Handlung nach ihrem Ende zu, die Theilnahme der Bauern an derselben, dazwischen die schlagenden Reden des Greve Klaus, dann seine mannliche Tapferkeit und endlich sein »Schwabenstreich« Vergl. Uhlands »Als Kaiser Friedrich lobesam« etc. nach Niketas dem Byzantiner. an dem großen Ditmarscher in der gestickten bunten Jacke; ich wüste auch nicht einen Zug anzugeben, der nicht auf ein Lied, das dem Presbyter vorlag, schließen ließe. Aber nicht gegen die Ditmarschen allein, auch gegen die Hansestädte scheint sich der holsteinische Bauerngesang gerichtet zu haben, wenn nemlich der Spottreim, den eine Chronik Staatsbürgerl. Magazin IX. 370. des 15ten Jahrhunderts anführt, aus einem Liede wäre:
Hamborg du bist erenvast,
De van Lübek vörent den Badequast.
Wie nahe grenzen auch die Lieder, die Heinrich Ranzau für Nr. 52 und 50 gebrauchte, an die historischen! Auf Femern, wo die Vettern der Ditmarschen wohnen, sang man noch im 17ten Jahrhundert ein Lied von Erichs gräulicher Verwüstung der Insel (Nr. 33). In demselben Jahrhundert und später noch ward das Lied von Störtebeker unter uns gesungen (Nr. 37, 3), das aber wohl in Hamburg entstanden ist. Von ähnlichem Inhalt, jedenfalls ein Schiffer- oder Seeräuberlied, war die sogenannte »blaue Flagg'«. Der Anfang lautet:
Laat de blaue Flagg' mal weien,
Laat se drillen, laat se dreien;
Denn dat Schip to See angeit.
In der Südermarsch von Ditmarschen ist außer einer gemeinen Parodie, die unter den Grönlandsfahrern gesungen wird, dieser Anfang allein noch bekannt; doch ist die prächtige Melodie erhalten, und zwar auf ähnliche Weise wie der Anfang jenes »Stuuf vör Meldorp«. Ich habe keinen Grund die Hoffnung schon ganz fahren zu lassen, beider Lieder noch einmal habhaft zu werden, besonders da die »blaue Flagge« auch außerhalb Ditmarschens bekannt sein möchte.
Der Eindruck der Ereignisse verkehrte schnell im Gemüthe und der Auffassungsweise des Volkes ihre historische Wahrheit. Je mehr man nunmehr überzeugt sein darf, daß auch in Holstein das historische Lied nicht unbekannt war, um so weniger stand ich an eine Reihe Stücke aus dem? Presbyter bremensis unter unsre Sagen zu stellen, weil sie einen ganz ähnlichen Geist athmen, ohne freilich behaupten zu wollen, daß sie Auflösungen von Liedern, wie Nr. 26, sind. Ich meine hier vorzüglich die Stücke, die sich auf die ruhmvollen Kämpfe des Landes und seiner Herren gegen fremde Übermacht und Anmaßung beziehen (Nr. 12 ff.). Der Presbyter schrieb im 15ten Jahrhundert sein ganzes Buch fast aus mündlicher Überlieferung zusammen, und gab eben das, was man sich damals im Lande über die Geschichte der letzten Jahrhunderte zu erzählen wuste. Fast auf allen Punkten steht er mit gleichzeitigen und treuern Berichten in Widerspruch, und so wenig ihn der Historiker als Gewährsmann und Quelle benutzen darf, so sehr glaubte ich ihn ausnützen zu müssen, ohne freilich jede Anecdote oder jede unhistorische Erzählung aus ihm aufzunehmen. Durch ihn zeigt sich, wie sich dem Gemüthe des Volkes seine Helden, schon poetisch umkleidet, darstellten. Keiner war mehr geliebt als Greve Geert, der gröste Held mit treuer, frommer Seele, der treue Herr, der gleiche Knechte fand an den Bauern wie an den Edelleuten (Nr. 22. 23. 24. 173). Sein Sohn, der eiserne Heinrich, eine unverwüstliche Natur, sucht allezeit Abenteuer und Kriege, überwindet aber jede Gefahr und alle Nachstellungen stets siegreich und ehrenvoll; das ist der durchstehende Gedanke aller Stücke (Nr. 25); er ist eine hohe Gestalt, aber nicht geliebt, wie der Vater oder der Bruder Greve Klaus. Dieser stand bei den Bauern als ein freundlicher Herr in bestem Andenken; Witz, Humor, List und Sparsamkeit treten als seine Characterzüge hervor, gerühmt wird daneben seine Tapferkeit (Nr. 26). Gewis ist die Characteristik dieser Persönlichkeiten nicht allein poetisch, sondern hat ihren guten historischen Grund, doch zeigt sie eine Abrundung und Fixierung, wie sie nur durch die Sage kann geschehen sein; keines der Facta, die dafür angegeben werden, möchte wirklich historisch sein. Eine frühere Zeit würde solche drei Charactere noch lebendiger und epischer ausgebildet haben; wir mögen uns aber in diesen Tagen auch so an ihrem Bilde erheben.
Bis hieher verfolgten wir die Geschichte der Volkspoesie und Sagenbildung in raschem Überblick durch anderthalb Jahrtausende; in keinem Jahrhunderte ruhte die Dichtung; zuweilen, wenn sie zu versiegen schien, erhub sie immer schnell sich wieder in neuer sprudelnder Fülle und in immer gleicher Frische. Es ist das eine lange Zeit und eine wunderbare Triebkraft. So wie nun aber mit dem sechszehnten Jahrhundert die letzte Blüthe vorüber war, sehen wir nach und nach die schöpferische Fähigkeit des Volkes dahin schwinden. Das lehren seine heute gesammelten Sagen, in denen es sich Bilder der letztvergangenen Jahrhunderte erhalten wollte. Sein Gedächtnis reicht in die letzten Zeiten des Mittelalters zurück; die Vitalienbrüder und Likendeeler (Nr. 37 ff.), die Raubritter (Nr. 41 ff.), der Katholieismus und die Einführung der Reformation (Nr. 169 ff.), die alten Bauerngerichte (Nr. 106 ff., 150), die Adelsherrschaft (Nr. 58 ff.), die Schweden- und Moskowiterkriege (Nr. 92 f.) haften noch in der Erinnerung, aber gehen nur in kleinen und matten Bildern an uns vorüber. Der Anfang des vorigen Jahrhunderts ist die Grenze. Steenbock tritt hier noch bedeutend hervor (Nr. 87), Sagen, ja selbst Lieder sammeln sich um ihn Aus derselben Zeit vom Jahre 1700 ist ein ditmarsches Spottlied auf die Heider »Schelm und Deefe« gedruckt in Hansen und Wolfs Chronik S. 370. Falck zu Heimreich I. S. XXVII. gab zuerst davon Nachricht.. Aber freilich alle diese Sagen zeugen wenig mehr von poetischer Auffassung und Empfindung, und die Lieder haben einen ganz andern Ton als die frühern. Die Sagen von Christian dem Vierten (Nr. 80) und andre erheben sich nicht über die Prosa; zuweilen fließt eine dürftige Ironie ein (Nr. 89 f.). Ein Glück ists, wenn ältere Überlieferungen sich an nene Ereignisse und Personen ansetzen (Nr. 9, vergl. Nr. 8), oder wenn auch nur eine abergläubische Phantastik sich geschichtlicher Charactere, wie Steenbock und Hans Adolf bemächtigt. Stoffe, die die ältere Zeit mit dem Geist der Ballade erfüllt und gerundet hätte (Nr. 31. 106 etc.), tragen jetzt das flachere, gleichgültigere Ansehen einer Novelle. Es wird jede echte Sage geglaubt oder will geglaubt sein, weil sie immer meint ein wirklich geschehenes zu erzählen. Dasselbe will der Mythus; darum geht er später ins historische Epos über, und das Epos und sein Gefolge, die Volkssage, strebt zur geschichtlichen Prosa von vorn herein. Aber so lange eine sinnlich lebendige Auffassung der Dinge im Volke überwog, so lange waren Epos und Sage nie prosaisch. Die Entwicklung der neuern Zeit schlug nun einen Weg ein, der jener Auffassung schnurstrack zuwider läuft; so ward der Untergang der Sage und der gesammten Poesie des Volkes unvermeidlich. Mit der Abnahme der poetischen Fähigkeit, einer Folge der allgemeinen Richtung aus eine vorwiegend verstandesmäßige Bildung, vergieng auch die rechte Freude an dem überlieferten; es ward immer mehr bei Seite geschoben. Je mehr durch Bildung und Verfeinerung die obern Stände sich von der Masse trennten, je mehr strebte diese ihnen nach; die Sagen, Märchen und Lieder galten bald für gemein, auch im Volke selbst. Ich will aber noch einmal meinen alten Büsumer Pastor reden lassen: »De Minschen Hebben gemeinlich Lust to nien Dingen und sin sehr vorgetern, und nicht allein bi dissen sondern ock fast allen Nationen, insonderheit averst düdesches Landes wert oft geklagt und ist billich hoch to klagen. Und twar, wenn noch etwes bi etlichen im Gedechtnis, wert lichtlich vorgeten edder is unbekannt; sintemal men in etlichen Karfpeln solcher Gesenge beginnt to entsetzen und schemen, welches ehm billich eine Ere und Rom, dar it metigen und na Gelegenheit gebruket worde. Se scholden sik vele mehr eres Hochfardes, Stoltes, Avermodes, Unmeticheit, Unart, unkuschen Wesendes und wokerlichen Handels schemen, deren sik ere Vorvaren gemetigt und solche Lust, Vrolichkeit und frundliche Bescheidenheit (heitre Lebensweisheit) darvor gebruket und in Werk gestellet hebben.« Diese Worte werden noch heute in weiterm Sinne gelten.
Das Volk ist zum Theil selbst Schuld an dem Untergange seines eigenthümlichen Lebens. Im siebzehnten Jahrhundert dauerten die alten Lieder und Tänze noch fort, ja bis ins vorige Jahrhundert bestanden noch viele alte Gebräuche, und an heitern Märchen und traulichen Sagen wird noch ein größerer Schatz vorhanden gewesen sein. Aber schon Neocorus erwähnt das Eindringen der neuen poesielosen Tanzweise; elende Fiedler traten nun an die Stelle der Lieder, ein scheußliches Getränk verwüstete zugleich Herz und Sinne und zerstörte die wahre Freude. Mit dem Untergange der alten Tänze und Lieder war dem Leben der Kern ausgebrochen; nichts geistiges und sittliches adelte und erhob noch die Sinnenlust, und nur die Scham oder das Gefühl der Ehrbarkeit vermag sie in Schranken zu halten. Aber es waren auch schwere Tage seit dem sechszehnten Jahrhundert gekommen, die dem Volke nur Leiden und keine Thaten brachten, die unerhörteste Adels- und Beamtendespotie, eine beschränkte, orthodoxe Geistlichkeit, räuberische, verwüstende Kriege, kein Unterricht und keine Schule, die, als die Quelle der Überlieferung zu versiegen begann, einen neuen Geist geweckt hätte. So ward dem Volke der Muth gebrochen und es trägt nicht allein die Schuld. Ja noch mehr. Gleichzeitig, als sich die letzte frische Blüthe des Volksgesanges erschloß, hatte der Aberglaube die entsetzlichste Gestalt angenommen und beherrschte alle Stände: die Hexenverfolgungen bilden die finstere Seite der Kultur jener Zeiten. Die Kirche und der Staat wirkten damals mit der Masse zusammen, sie aber und nicht diese trifft der Fluch. Als nun zu Anfang voriges Jahrhunderts endlich die Augen aufgiengen, da ließ man es nicht einfach mit jenen Prozessen aus sein, man gab sich nicht zufrieden damit, dem Volke die Verblendung zu nehmen und dem Aberglauben die Gewalt, das wäre sonst genug gewesen, sondern die Gebildeten, die Geistlichen und die Staatsgewalt traten in eine Reihe, und dem Volke wurden seine Feste und Spiele verboten, die noch bestanden, wegen des Unfugs (dagegen hätte die Polizei ihren Stock gebrauchen können) und die Märchen und Sagen wurden verlacht und dem Volke verleidet, als alberne, dumme Geschichten und als Aberglaube bestritten und verrufen. Ähnliches geschah tausend Jahr früher. Aber damals hatte das Christenthum noch ein bewustes Heidenthum zu bekämpfen; seine Hinterlassenschaft, die Heldensage, blieb dennoch immer, wenn sie auch viel verloren gab, stark genug, um gegen die kümmerliche Bildung der Zeit das Feld zu behaupten. Nunmehr aber war es purer Übermuth oder Unwissenheit oder der Hochmuth der Prosa und Herzlosigkeit, der das letzte schmale Wasser trübte des breiten Stromes, der sich einst ergossen und alle Geschlechter gelabt und das ganze Leben des Volkes bis dahin befruchtet und erfrischt hatte. Man ließ nicht einmal denen ungestört die Freude daran, die sich ihm noch nahten; und solcher Sünde rühmen sich schamlos manche Leute noch heute. Was uns dennoch gerettet ist, das haben die Armen, die Alten und die Kinder gerettet, oder wo sich sonst ein schlichter Sinn bewahrte, dem Scheine und falschen Wesen abhold. Denn die größere Masse des Volkes wandte, überklug geworden, auch der alten Sitte und der alten Poesie den Rücken und gab sich willig der flachen, schalen Prosa des städtischen Lebens hin.
Auf dem Umschlag dieses Buches, wofür ein guter Freund die Zeichnung anfertigte, sieht man unten ein muntres Fest der Unterirdischen, links darüber steht ein Ditmarsche mit umgekehrtem Schilde (Nr. 13), rechts St. Vicelin mit der Kirche und dem Bischofsstabe; oben aber unter dem altsächsischen Strohdach mit den Pferdeköpfen Die der Steinzeichner allzu steckenpferdartig zugestutzt und gar aufgezäumt hat. und dem Nitz in der Eulenflucht, sitzt am Heerde die Mutter und erzählt den Kindern; der Alte mit der Pfeife horcht dazu aufmerksam wie der Spitz und die Katze. Der Inhalt des Buches stellt sich gleichsam so vor Augen; ich weiß aber nicht, ob das letzte Bildchen noch der Gegenwart entspricht. »Das Märchenerzählen ist aus der Mode gekommen«, heißt es; doch gibt es noch in einigen Dörfern Leute, die an Winterabenden in die Häuser geholt werden und dem Gesinde und den Kindern erzählen müssen. Aber sie sind selten geworden und nicht mehr so gesucht und beliebt wie früher. Es sind meist alte Frauen oder Männer, und der rechte Märchenerzähler weiß aufs fließendste seine Geschichte vorzutragen, der eine geschmückter und erstaunlicher, der andre einfacher und schlichter. Jedes Märchen hat in ihrem Munde eine feststehende Gestalt angenommen, daß es stets fast mit denselben Worten wieder gegeben wird, es sind wenigstens die Hauptwendungen durchaus stehend. Durch solche Kunst erinnern sie an die ältesten Zeiten. Die Verknüpfung der Märchen geschieht meist auch mit solchen herkömmlichen Wendungen: »Na dat weer guud, aber nich alto guud!« und dann folgt die neue Geschichte, die nach dem Sinn des Spruches dann noch schöner und wunderbarer sein soll, als die vorige. Und die Märchen wollen von einem Sinn empfangen sein, der nicht fragt, ob es Wahrheit, oder Dichtung und ein Traum sei. Für die Sagen nur bedarf es der Berufung auf glaubwürdige Autoritäten, dem Zauber des Märchens gibt sich jeder willig hin. Früher fehlte fast auf keinem Hofe oder in keinem Dorfe unter dem Gesinde oder den Tagelöhnern ein solcher Erzähler; ich habe das häufig von ältern Leuten gehört, mit der Klage, daß es jetzt anders geworden. »Ja, wenn de ool Jan noch lev oder de ool Margreet«, oder dieser und jener, dann würde man solcher Geschichten genug erfahren können; nun aber seien sie alle vergessen, sagt man. Ebenso geht es mit den Liedern, deren dieser oder jener Verstorbene so viel gewust und sie oft genug gesungen hat, bei der Heuernte oder beim »Stickelwüden« (Disteljäten), wovon jetzt aber niemand oder nur halb noch was weiß. Unter der Schuljugend gibt es dennoch nicht selten einige, die die Gabe des Erzählens besitzen; ich habe nicht nur selbst die meisten Märchen, die ich kenne, so empfangen, sondern auch für diese Sammlung sind die meisten aus dem Munde halberwachsener Knaben und Mädchen geschöpft. Ihre Erzählung ist zwar unsicherer, aber doch von eignem Reiz. Ich glaube, daß es nicht leicht irgendwo mehr Märchen gibt, als in Ditmarschen. Das flache Marschland bietet der Sage seltener einen Halt; die Unterirdischen kennt man kaum, die meisten Sagen sind zu Märchen verflüchtigt. Man vergleiche Nr. 291. 483. 486. 568. Fast alle die Märchen, die ich noch in Bruchstücken besitze, sind in Ditmarschen gesammelt. Vortreffliches in dieser Hinsicht hat freilich Femern und Plön beigesteuert. Und die Lieder hört man wohl zuweilen noch Abends von jungen Burschen und dem Gesinde; Frauen stimmen sie auch gerne einmal an bei langweiliger Arbeit oder schlechtem Wetter. Aber das Lied ist flüchtig und ohne Halt geworden, und wenn die alten guten Volkslieder auch noch immer fester haften, als die elenden »neuen Lieder, gedruckt in diesem Jahr«, so ist ihr Leben doch ein trauriges und unsicheres. Die Volkssprache ist jetzt, nach dem Verlust fast aller Flexion, unfähig sich selbst dann zu behaupten, wenn die Lieder ursprünglich darin verfaßt waren; der höhere Stil ward ihr durchaus ungewohnt. So ergeht es nun jenem »Et weren twe Königskinder« schlimm, und nicht weniger andern Liedern; und daher war es unmöglich oder ohne Gewalt nicht durchzusetzen, das Lied von Graf Hans und Annchristine in der Volkssprache wieder zu geben. Es herrscht das wunderlichste Gemisch von hochdeutsch und niederdeutsch in allen, daß man oft nicht mit Sicherheit sagen kann, welchem Dialecte sie angehören. – So also ist der Baum verdorrt, der so lange grünte; seine letzten Reiser und Blätter waren wir für unsern Theil bemüht zu sammeln. Sehen wir zu, daß wir noch heuer einen neuen pflanzen. Denn die Hoffnung, die das Volk im stillen hegt (Nr. 592), möchte vergeblich sein.
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Ich habe diese Betrachtung der allgemeinen Geschichte der deutschen Volkspoesie und des Zusammenhangs der unsrigen mit derselben um so lieber angestellt, weil bisher bei der Sammlung der Volkssagen im ganzen auf diese Seite weniger die Aufmerksamkeit gerichtet gewesen ist. Und doch hat Jakob Grimm oft genug schon die heutigen Überlieferungen auch für die Geschichte unserer altern Poesie zu benutzen gelehrt. Ludwig Uhland wird uns wohl auch nächstens den zwiefachen Zusammenhang derselben mit dem spätern Volkslied« ausführlicher zeigen. Am ergibigsten freilich wird eine solche Sammlung immer für die Mythologie und für die vergleichende Sagenkunde sein. Beide Disciplinen hat Jakob Grimm ebenfalls gegründet. Er hat es überhaupt gelehrt, den mannichfachsten Gewinn aus der Volkssage zu ziehen und sie zu einer Quelle für die Erforschung der Alterthümer des Rechts und der Sitte, und der Denk- und Anschauungsweise unserer Vorfahren gemacht. Ihm und seinem Bruder verdanken wir vor allen die Wiedererweckung des rechten Sinnes für die Volkspoesie, ihm überhaupt die Grundlegung der ganzen deutschen Sprach- und Alterthumskunde, so daß kein wahres und wissenschaftliches Verständnis auch nur eines Theiles dieses weiten Gebietes möglich und denkbar ist, ohne den Geist, der ihn leitet und mit dem er allen vorleuchtet.
Gerne würde ich jetzt, wenn der Raum es erlaubte, vollständiger das zusammenstellen, was diese Sammlung an Resten aus dem alten heidnischen Götterglauben enthält; ich muß mich aber darauf beschränken, einige besondere Punkte hervor zu heben, namentlich die, welche neues oder eigenthümliches gewähren. Es kann überhaupt eine einiger Maßen vollständige Mythologie unseres Landes dann erst möglich werden, wenn die Übersicht der Sitten und Gebräuche in einer Sammlung vorliegt. Das muß und wird ein Sporn sein diese eifrig in Angriff zu nehmen. Ich behalte mir vor einzelne bedeutende Punkte ausführlicher nächstens in unsern nordalbingischen Studien abzuhandeln. Durch die Anordnung und zahlreiche Verweisungen habe ich dafür gesorgt, daß die richtige Auffassung mancher Sagen erleichtert werde. Denn aus der deutschen Mythologie giengen in christlicher Zeit die Vorstellungen von Riesen, Zwergen und Göttern zum Theil auf den Teufel oder auf christliche Heilige, ja auf Gott selbst über. Daher sind mehrere Teufelsagen unter die Riesen- oder die Zwergsagen gestellt; die andre Weise der Verwandlung zeigen die Segen und Sprüche, und Sagen wie Nr. 244. 444. 554. 555. Ganz ebenso fielen die Vorstellungen von göttlichen Jungfrauen, Schwanjungfrauen, Schlachtjungfrauen, Meerfrauen und ein grotzer Theil der Mythen von Elben (Elfen) den Hexen und Zauberinnen zu. Nr. 335. 351. 354. 359. 360. (vergl. Nr. 532 fg.) 343. 336.
Nur eine sichere Beziehung auf den Gott, der einst wohl für den Stammvater der deutschen Völker unserer Halbinsel galt, lebt noch in einem Märchen (Nr. 614). Denn Fro (nord. Freyr) hatte ein Schiff, damit konnte er zu Lande und zu Wasser überall hin stets mit gutem Winde segeln, und nach der Fahrt ließ es sich zusammen falten und in die Tasche stecken. Gerade ein solches erhält der Junge in jenem Märchen von dem einen der drei Männer; von ihnen liegt dem mit dem Wünschelstabe sicherlich auch die Vorstellung Wodans zu Grunde. Wer der dritte sein kann, ob Thunar, von dem der Junge die unweigerliche Bitte erhält, weiß ich nicht zu errathen. Auf Fros heiligen Julgalt deutet aber auch noch die Gestalt des Schweins, die man zur Weihnachtszeit in den Bäckerladen unter dem Backwerk zum Spiel für Kinder findet. Der Gott hatte weissagende weiße Pferde zu seinen Mitwissern; die ditmarsche Sage (Nr. 153-165) läßt weiße Pferde die Stätten zum Kirchenbau finden. Der Frua, Fros Schwester, der Göttin der heitern Luft, war der kleine Käfer heilig, den man Sonnenkalb, Frauenkühlein, Marienpferd nennt. Daher bitten die Reime Nr. 652 ihn, gut Wetter zu bringen. Ihr war auch die Katze heilig, und sie hatte Walküren in ihrem Gefolge und stand der Zauberei vor; daher der vielfache Aberglaube von dem Thier und seiner Verbindung mit der Hexenwelt.
Von Balder weiß man noch in Nordschleswig (Nr. 580). Die Sage hat aber wohl gelehrten Ursprung. Das Wesen seines Sohnes Fosite (Nr. 139, 1 u. 2) möchte jetzt bedeutende Aufklärung durch Nr. 202 und die Anmerkungen zu Nr. 188 und 202 gewinnen können. Daß sein Bruder Welo (nord. Vali) auf dem Wellenberge bei Itzehoe verehrt ward (Nr. 135), habe ich einmal nachzuweisen gesucht Nordalb. Stud. I. 11. und glaube im Ganzen bei meiner Auffassung bleiben zu müssen. Er war ein ländlicher Gott, der den Überfluß gab und alles Gut, was nicht gerade zur Lebens Nothdurft und Nahrung gehört. Diese verlieh Wodan.
Deutlicher und bestimmter als alle diese Götter tritt im Volksglauben Thunar (nord. Thôr) hervor, theils als Donnergott (Nr. 555), theils mit seinem Werkzeug, dem Hammer, als Teufel (Nr. 421, vergl. Nr. 411 Anm.), oder auch unter seinem Beinamen Hamer (Nr. 499 Anm.), indem er Unholde verfolgt und abwehrt, vergl. Nr. 460, 461. Den rothhaarigen Donner nennt man noch auf Silt, er ist auch der Alte, der auf Bergen wohnt, nur in ein teuflisches Wesen verwandelt in Nr. 415; er verlieh von allem dem das Gegentheil, was ihm dort schädliches zugeschrieben wird. Er ist ebenfalls wohl der starke Mann mit dem Dreschflegel, der zugleich des Windes mächtig ist, in Nr. 251, 1. Das Gespann seiner Böcke zeigt sich im Märchen Nr. 611, das überhaupt, wenn auch der Gott selbst entschwand, auf ein ähnliches Märchen wie das altnordische von der Reise Thors ins Riesenland und seinen Abenteuern mit dem Riesen Skrymer zurückdeutet.
Noch entschiedener tritt Wodan hervor. Wode, Wohljäger, Wau, Au (Nr. 570-577) sind stufenweise Verderbnisse seines Namen. Die Sagen von dem wilden Jäger sind fast nur in waldigen Gegenden verbreitet; in Nordfriesland konnte man bis jetzt keine Spur auffinden. Doch in Ditmarschen ist er bekannt und tritt zum ersten Male in Deutschland in Begleitung seiner beiden Raben auf (Nr. 568). Als der christliche Gott den Amringern zürnt, weichen sonderbarer Weise des heidnischen heilige Vögel von der Insel (Nr. 206); sie weisen auch die Stätte zum Kirchenbau (Nr. 157), oder verkündigen (Nr. 334). Der Gott segnet das Haus mit Brot (Nr. 574); auf dem Hesterberg bei Schleswig (Nr. 566) stellt man seinem Pferde ein Opfer hin, weil er die Saaten segnet; er segnet auch die Seefahrt, daher die merkwürdige friesische Sitte (Nr. 259), weil er den rechten Wunschwind zu senden vermag. Den weißen Wünschelstab, den breiten Wünschelhut, den grauen Wünschelmantel des langbärtigen alten Gottes kennen manche unserer Sagen und Märchen (Nr. 608, 614 Anm. 244). Er ist der Zauberei kundig. Als Himmelsgott gehört ihm der Himmelwagen, Woenswagen in den Niederlanden genannt; Hans Dümkt soll sein Fuhrmann sein (Nr. 560). In den Zwölften hält er seinen Umzug (Nr. 577, 569). Dann muß gefeiert werden, weil es seine heilige Zeit war; aber auch in der Johannisnacht (Nr. 562); er hat seine bestimmten Wege (Nr. 577, 571). Wenn sonst die Sagen von der wilden Jagd ganz deutlich eine lebendige Auffassung des Sturms enthalten, aber augenscheinlich zwei Vorstellungen, die nemlich des kriegerischen Zuges Wodans mit den Einheiten und die eines Sturmriesen, der seine Heerde (die Wolken) eintreibt, oder die Holzweiblein (das Blättergrün) jagt (Nr. 577), zusammenflossen, so muß ich hier hervor heben, daß die wilde Jagd in Nr. 544 nur als kriegerischer Umzug erscheint.
Ehe ich weiter gehe, will ich hier eine Notiz, die ich leider nicht vollständiger geben kann, aus Westphalen monument. ined. IV. praef. 217. mittheilen. Sie lautet: »Von dem geräuschvollen Tanze des Holler mit den ihn begleitenden Alven (Elben) in einem Gehölz bei Meldorf in Ditmarschen hat Peter von Alefeld im Jahre 1692 eine Beschreibung ausgehen lassen, und der Autor singularium providentiae divinae c. 4. n. 17. hat sie wieder abgedruckt.« Trotz aller Bemühungen habe ich der angeführten Bücher nicht habhaft werden können; unser gelehrte Moller führt in seiner Cimbria litterata jenen Adlichen nicht unter den Schriftstellern des Landes auf. Hamconius in seiner Frisia fol. 78 h. erwähnt ebenfalls den Holler, nennt einen Teich, wo er sein Wesen treibe und erklärt ihn für einen Unterweltsgott. Mit Saxos Ollerus, dem nordischen Ullr, was deutsch Wol (Gen. Wolles) wäre, hat er natürlich nichts zu thun; ich glaube auch nicht einmal, daß ein deutscher männlicher Gott mit Alven Tänze halten kann. Man kann freilich den Dionysos vergleichen; am ehesten ist aber wohl an eine Göttin zu denken. Ich hoffe andre werden glücklicher sein in der Auffindung der angeführten Schriften; es darf nach dem, was Westphalen mittheilt, schon unzweifelhaft sein, daß der deutsche Götterhimmel abermals um eine hohe Gottheit bereichert ist.
Die Reihe der weiblichen Gottheiten ist gegen die männlichen sehr zurück getreten. An Fria (Frigg), Wodans Gemahlin, erinnert jedoch der friesische Name eines Sternbildes, Marirok, das in Schweden der Rocken der Frigg genannt wird (Nr. 560). Sie fand aber nothwendiger Weise zu gleicher Zeit mit ihrem Gemahl in der Zeit der Zwölften Verehrung; offenbar ist Wodan und dann der Teufel in Nr. 262 an die Stelle der höchsten Göttin getreten, die dem Spinnen und dem Hauswesen vorstand. Fast nur am Freitag feiert das Landvolk seine Hochzeiten; der Wochentag führt nach der mütterlichen Göttin seinen Namen. Außerdem ist hinter der schwarzen und weißen Dorte (Nr. 529) nothwendig eine Göttin verborgen, sie ist vielleicht identisch mit der schwarzen Greet. Denn diese muß dem mythischen, unhistorischen Theile ihrer Sagen nach ebenfalls eine hohe Göttin sein (Nr. 246. 279. 429. 589 etc.). Sie alterniert in unserm Aberglauben mit der heiligen Margaret (Nr. 13). Sie zieht am Dannewerk auf weißem Pferde zur Zeit der Zwölften um (Nr. 528). Eben daselbst redet man auch von einer andern hohen Frau, die bald einfach die Prinzessin (Nr. 535), die in der Johannisnacht erscheint, bald mit naiver Gelehrsamkeit Prinzessin Thyra genannt wird. Diese alterniert mit der Greet; denn Nr. 44 ist nur eine Variation von Nr. 17, 2. Man darf die schwarze Greet und die Frau in der Thyrenburg für ein und dasselbe mythische Wesen erklären. Andre Göttinnen zeigen sich in Nr. 530. 531. 532 und überhaupt wohl in allen Sagen von weißen Frauen. Ich werde nächstens diese und andre Nachrichten, die auf weibliche Gottheiten schließen lassen, ausführlicher prüfend erörtern. Sie ergeben noch immer mehr als es anfangs den Anschein hat.
Die zweite Reihe göttlicher Wesen neben den obern Göttern machten die göttlichen Jungfrauen, die Idise, aus. Wir erwähnten schon, daß die Vorstellungen von ihnen auf die Hexen übergegangen seien. Die drei Spinnerinnen unserer Märchen (Nr. 600. 601. 602), die drei alten Jungfern, sind ursprünglich die Nornen. Nr. 534 nennt Wittfruen; die Sage hat durch ihre Verwechselung mit den Zwergen ihnen gerade das Gegentheil von dem beigelegt, was ihnen im alten Glauben zukommt. In Nr. 527 sind die Hexen reitende Walküren; aus den Mähnen ihrer Rosse, glaubte man, triefe der Thau. Wasserfrauen sind in Nr. 188. 525. 524. 149. 378, 1. deutlich zu erkennen. Es ist Entstellung, deren Grund Neocorus ganz naiv verräth, wenn ihnen in Nr. 522, 1. 2. 3. ein Fischschwanz beigelegt wird.
Die untern Gottheiten machten die elementarischen Wesen der Elbe, Zwerge, Hauskobolde, Nichse und Riesen aus. Die Mythen von den Elben, den Luftdämonen, sind sehr eingeschwunden, theils auf Hexen übergegangen, was wir schon erwähnten, theils auf die Zwerge. Doch die Nachtmahr (Nr. 387. 388) ist eine Elbin, vergl. Nr. 527. 375, 2. 3. 376, 1. In Nr. 558 werden die Junggesellen Windelbe sein, und die langhaarigen Holzweibchen in Nr. 577 sind Baumelbinnen, wie die dänische Hyldemoer und die nordschleswigsche Frau Ellhorn (Nr. 652, 6). Die Tanzplätze der Hexen gehörten ehedem den Elben (Nr. 343. 342. 337 Anm.). Die Elbe sind trügerisch, und was sie schenken, verwandelt sich (Nr. 342. 458). Der Totengräber in Barkenthin befand sich nicht bei den Toten, sondern, wie zahlreiche andre Sagen lehren, in der Zauberwelt der Elbe (Nr. 269). Wer von dem, was sie reichen, etwas anrührt, ist für immer an sie gefesselt und ihm taugt keine menschliche Speise mehr (Nr. 491. 547. 512, 2). Die im Mondenschein tanzenden Zwerge (Nr. 445, 1. 448) sind Elbe wie in Nr. 526, s. oben S. IX.
Die Zwerge bewohnen die Erde, sie legen dem ackernden Landmann das Brot in die Furche und decken ihm nach gethaner Arbeit den Tisch (Nr. 455 fg.). Sie geben nur Fruchtbarkeit und Gedeihen. Wir besitzen wahrlich einen Reichthum schöner Zwergsagen, aus denen sich leicht fast vollständig ihr ganzer mythischer Character entwickeln ließe. Ich mache nur darauf aufmerksam, daß mehrere Riesensagen auf Zwerge übertragen sind. Denn wo ein Zwerg als Baumeister genannt wird, darf man einen Riesen an die Stelle setzen. Sehr bemerkenswert und uralt sind unsre Zwergnamen Vitte und Vatte (Vitta und Vada im Wandererlied?), Find und Kind, Finn (Finnr und Einnr in Völuspâ), Ekke Nekkepenn (Ecke, der alte Meerriese), Eisch (der Furchtbare, Grausige), Gebhart (vgl. Gibicho, ein Beiname des gabespendenden Wodans), Hans Donnerstag; die letzte Silbe dieses Namen hindert den Vers; tilgt man sie, hat man den Namen des Donnergottes. Einen solchen Wechsel oder ein ähnliches Herabsinken von Götter- und Heldennamen auf Zwerge lehren manche andre Beispiele. Es ist bemerkenswerth, daß die Zwerge bei uns noch geradezu für Heiden gelten.
Die Hausgeister sind, wo sie in Scharen eingezogen sind, nicht von den Zwergen verschieden. Allein der einzeln lebende Niß Puk ist zwar ein Zwerg von Gestalt, er verbreitet auch denselben Segen im Hause, wie jene, aber seinem lebhaftem, feurigern Character nach unterscheidet er sich schon von jenem scheuen Geschlecht. Wie Adalbert Kuhn zu seinen märkischen Sagen bemerkte, war der rothmützige Junge ursprünglich eine Heerd- und Feuergottheit, wie der römische Lar. Er verlangt täglich sein Opfer und lebt ganz mit der Familie, wenn auch unsichtbar (Nr. 520. 502. 503. 506. 515. 517). Sein Name wie die Vorstellung von ihm ist in Holstein und in der Gegend um Schleswig entartet (Nr. 499. 503. 504, vergl. 330. 331. 327), auch in Nr. 520. In Nordschleswig kennt man ihn gar nicht, sondern nur Puge. Niß Puk hat sein eigentliches Reich nur an der Hever um Husum und zu beiden Seiten der Trene. Eben daselbst ist auch noch heute der Vorname Niß für Nicolaus gangbar.
Die Nichse, die Wasserdämone, zeigen sich bei uns fast gar nicht als Zwerge, wie in andern Gegenden. Nur in Nr. 495. 440 brechen dafür Spuren durch. Nr. 305, 3 und 522, 3 verrathen schon riesische Wesen, und in Nr. 407 Anm., 441. 439. 409. 413. 414. erscheinen nur Wasserriesen und Wasserteufel, ganz analog der uns umgebenden Natur. Auch im Beowulf find die Nichse Meerungeheuer. Dies reizt zu der ausführlichsten Betrachtung der Mythen und sie wird von der merkwürdigsten Ergibigkeit sein. Wir bemerken hier noch, daß diese Riesen als Stiere erscheinen (Nr. 186. 383) und daß die Sagen von Nr. 406-413 mythologisch identisch sind.
Unsre Überlieferungen von den landbewohnenden Riesen sind mager; hätten wir Berge und Felsen, würde es damit anders stehen. Nur einige plumpere Bauten werden ihnen beigelegt (Nr. 431-434); sonst sind Zwerge für sie eingetreten (Nr. 476 fg.). Der Sage von den Silter Riesen (Nr. 420) möchte nichts mythologisches zu Grunde liegen, sondern ein historisches Factum, die Vertreibung der Adlichen. An Riesensteinen und Würfen ist Schleswig besonders reich (Nr. 423. 424. 425). Ich weiß nicht, daß ich Nr. 441 anderswo angetroffen hätte; Nr. 442. 443 dagegen scheinen fast über den ganzen Erdboden verbreitet zu sein. Vor dem Landbau weichen die Riesen, denn sie stellen die ungeordneten, ungezähmten und verderblichen Naturkräfte dar. In Nr. 483 ist der Teufel ein Sturmriese, und man kann mit Sicherheit den schwarzen Tod, der vor Grammdorf (Nr. 384) in einer schwarzen Wolke erschien, eben so gut als den Kuhtod (Nr. 383) für eine riesische Erscheinung halten. Denn den Riesen schrieb man große Seuchen zu; die einzelnen Krankheiten erscheinen dagegen als elbische Wesen, die im Lande auf allen Stegen und Wegen umher irren. Dies lehren unsre Sprüche und Segen. Die Krankheiten werden angeredet und überhaupt persönlich aufgefaßt. Die Heiligen, Petrus, Johannes, Paul, auch Christus, der sie abwehrt, stehen an der Stelle hoher Götter; am häufigsten darf man Wodan und Thunar dahinter muthmaßen.
Mit den Riesen stand die alte Totengöttin, die Helle (Hölle), in naher Beziehung. In Nordschleswig, nicht über Tondern hinaus, also nur in einer Gegend mit dänisch redender Bevölkerung, reitet sie noch Nachts umher (Nr. 390). In Holstein finden sich manche Ortsnamen, Helle, Hellbrook, Helldahl, Hellgroven, die auf die Göttin und ihr Reich deuten; dahin gehört auch Nobiskrug (Nr. 532). Ihren Vater, den bösen Loke, möchte ich nicht in Mönöloke (Nr. 330) wieder erkennen; daß der Name auf ein Galgenmännlein angewandt ward, machte freilich nichts aus Man könnte deuten: Meneloke, d. h. Halsbandloke, weil er Fruas Halsband das Brisingemene stahl.. Aber der böse Geist der nordischen Mythologie scheint in Deutschland andere Namen gehabt zu haben. Es führen einige der unter Nr. 556 zusammengestellten Ausdrücke, wenn sie mit nordischen verglichen werden, entschieden auf ein dem Loke entsprechendes Wesen. Ferner erzählt ein nordischer Mythus, ganz ähnlich wie Nr. 413 vom Wasserteufel, von Lokes Fischzug und Netzmachen, und seiner Verwandlung in einen Salm, in welcher Gestalt er von Thor gefangen ward, wie Petrus den Schellfisch fängt (Nr. 553 Anm.). In Nr. 554 und 244 darf man den christlichen Gott und Teufel in Wodan und Loke verwandeln. Und das friesische Riesenschiff Mannigfual (Nr. 377) möchte gleich dem Schiff Naglfar der nordischen Mythologie sein, auf dem die Riesen einst heransegeln, wenn der Weltuntergang naht und Lokes Geschlecht den Göttern den Tod bringt.
Schon fanden wir am Dannewerk eine Göttin in die Unterwelt hinab gesunken. So glaubte das Volk auch, daß andre Götter in einen Berg gegangen seien, aber zu Zeiten oder einst in der höchsten Gefahr werden sie wiederkehren und ihre alte Macht bewähren. Wo die Sage nun einen alten bärtigen Mann mit kriegerischer Umgebung nennt (Nr. 582. 583, 2. 584. 586), darf man mit völliger Gewisheit auf Wodan schließen. Das lehren manche andre Sagen; so heißt auf Möen der im Klint mit einem großen Heere wohnende Held der Jöde von Opsal, d. i. der Riese von Upsala, wo einst die drei höchsten Götter des Nordens ihr Heiligthum hatten. Es lautet nun bei uns die Verkündigung so, daß der alte Kriegsheld einst wiederkehren wird, wenn der weiße König herrscht und von Norden her mit seinem Heere kommt und seiner Hilfe bedarf in der großen fürchterlichen Schlacht, die in des Landes Mitte geschlagen werden soll, sobald der verhängnisvolle Baum die Höhe erreicht, daß ein Schlachtroß darunter angebunden werden kann. Ich ziehe die überaus wichtigen Sagen Nr. 583, 2-591 zusammen. Sie führen darauf, daß nur bei Nortorf das rechte Schlachtfeld sein wird. Der heilige Hollunder möchte der Weltbaum sein, anders gefaßt freilich als in dem nordischen Mythus. Die Türken, oder wie die Feinde sonst heißen, können nur die Riesen sein; denn Türkenberge sind gleich Riesenberge (Nr. 582). Wer ist aber der weiße König, der wie ein Stern über das Land aufgehen soll? In den Niederlanden nennt man einen witten God. Dem weißen Gott muß mythologisch ein schwarzer gegenüber stehen. Entweder ist dieser nun gleich Surtr (der Schwarze) oder gleich Loke, da beide wohl identisch sind. Und der weiße Gott muß Fro sein, wie Jakob Grimm vermuthete, oder der Gott, der in Deutschland des nordischen Heimdalls Stelle einnahm. Nach dem Kampfe wird ewiger Friede und Segen herrschen. Es sind hier augenscheinlich die Reste eines eigenthümlichen Weltuntergangsmythus erhalten. Tief mythisch scheint auch das Führen der rothen Kuh über die Brücke (Nr. 588). Ich verspare eine ausführliche Erörterung mir aus; ich hoffe noch auf neue Nachrichten. Enthielte unsre Sammlung im übrigen auch fast nichts als Wiederholungen längst bekannter Mythen (und das ist wahrlich nicht der Fall), hätte aber diesen einen Mythus aufzuweisen, so wäre die darauf gewandte Mühe völlig belohnt und die deutsche Mythologie würde ihr für die Bereicherung dankbar sein.
Es muß dieser Mythus tief im Volke gewurzelt haben, denn er thut es noch heute und wird geglaubt in ganz Holstein bis nach Schleswig hinein. Es wird freilich jede Sage geglaubt, aber dieses Hoffen auf den weißen König hat einen tiefen Sinn. Der Mythus vom ditmarschen Wunderbaum (Nr. 592), einer Linde nach mündlicher Tradition, hat eine ähnliche Bedeutung. Der schwarze Vogel, der einst darauf nisten soll, wie der Adler auf der Buche zu Arensbök (Nr. 152, vergl. Nr. 403) ist doch augenscheinlich gleich dem Adler und Habicht, die nach dem nordischen Mythus auf der Weltesche bauen; wenigstens zeigt sich ein gleich alterthümliches Bild. Nach allen Spuren hat der deutsche Mythus vom Weltbaum nicht bloß die allegorische Bedeutung gehabt, wie der nordische, sondern man kannte und wies Bäume im Lande selbst, an denen das Schicksal der Welt geknüpft war, und Mythen und Kultus schlossen sich zugleich daran.
Was die Spuren alter Rechtsgebräuche in unsern Sagen betrifft, so mache ich nur aufmerksam auf die Buße, die der Wode (Nr. 577) dem Bauern gibt, den goldgefüllten Hundebalg, Grimms RA. 669 fg.; auf die Strafe, die der Märtyrer in Borgdorf leidet (Nr. 160. 145. RA. 701); auf das Klagegeschrei iodute, das der Ermordete erhebt (Nr. 271. RA. 877), aus das Doppen bei der Linde zu Nortorf (Nr. 150) oder das Topphalten (Nr. 85); auf die Art der Rechtsfindung in Nr. 106. 113. 119; auf die Sitte im Gericht bewaffnet zu erscheinen (Nr. 12 Amn.); auf die Sage von der Tötung der Alten und Schwachen (Nr. 112 Anm.) u. s. w.
Für die Geschichte unserer ältern Poesie ist nichts wichtiger als die Erfahrung, die eine solche Sammlung an die Hand gibt, hinsichtlich der Fortbildung und Umgestaltung der Sagen. Wir können mehrere sehr lehrreiche und merkwürdige Beispiele aufweisen, z. B. Nr. 7. 20. (17, 2. 44.) 251. 406 fg. etc. Wunderbare Verbreitung zeigen Nr. 7. 10. 11. 25, 1. 2. 27. 69. 73. 99. 199 etc. etc. Mir ist oft das merkwürdige Zusammentreffen mancher unserer Sagen mit niederländischen und märkischen auffallend gewesen, gerade wo man es am wenigsten erwartete, z. B. Nr. 225. 268. 389. 266. Aber wie kommt es, daß man genau dieselben Reime und dieselbe Geschichte, wie Nr. 263, im Odenwald und in Schwaben kennt, daß die Sage von unserm Hans Brüggemann und dem Schleswiger Altar (Nr. 175) ebenso in Blaubeuren erzählt wird? Solcher Beispiele ließen sich noch viele anführen, die Anmerkungen weisen ihrer genug nach. Wären die Sagen des übrigen Niedersachsens und Westfalens vollständiger gesammelt, man würde den Zusammenhang eher übersehen. Nun aber kehren unsere Märchen, die aus dem übrigen Deutschland noch nicht bekannt geworden sind, z. B. Nr. 599. 603. 605. 620 zum Theil in Norwegen und Dännemark wieder, und zugleich stimmen viele andere in manchen Zügen und Eigentümlichkeiten mehr zu den nordischen Märchen als mit deutschen, vergl. Nr. 407. Es scheint in unserm Lande ein vermittelnder Übergang zwischen dem Norden und Süden statt zu finden, wie natürlich. In dänischen Sagen verteidigt sich ein Geist, der gebannt werden soll, genau mit denselben Vorwürfen, wie in Nr. 410. Die Sagen Nr. 192 fg. gehören auch in Dännemark (Thiele II, 7 fg.) zu den verbreitetsten, ebenso unsere zahllosen Schatzgräbersagen (Nr. 322). Aber ganz ähnliche, ja übereinstimmende finden sich in Deutschland. Ich erkenne jedoch auch hier den Zusammenhang mit dem Norden an, aber daß wir diese Sagen von dort empfangen hätten, wäre Thorheit zu behaupten. Haben wir denn auch unsere große holsteinische Sage vom heiligen Hollunderbaum, die wir eben besprachen, von Norden her empfangen, weil sich in Nordschleswig (Nr. 582) und in Jütland und in Dännemark (Anm. zu Nr. 589) ähnliche finden? Sind sie denn dort so vollständig? Ähnlich verhält es sich mit manchen andern. Eine Verpflanzung der Sage von Ort zu Ort fand gewis oft statt. Aber die Sage verlangt Glauben, und der fremden wird man diesen nicht leicht geschenkt haben. Daher verkümmern fremde Sagen oder werden so assimiliert, daß die Entlehnung nur selten mehr wird behauptet und bewiesen werden können. Überhaupt findet das Fremde weit schwerer Eingang, als man nach oberflächlicher Ansicht gewöhnlich meint. In höherm Maße gilt dies Gesetz natürlich bei Mythen, die einst in der Religion des Volkes wurzelten. Fremde Mythen werden nur aufgenommen, wenn die heimischen Götter keinen Glauben mehr finden. Einige Mythen und Sagen mögen, wie die Sprache, aus dem Ursitze der Menschheit mit herüber genommen sein; die bei weitem größere Menge muß in der spätern Heimat selbst erzeugt sein. Die Übereinstimmung derselben aber bei den verschiedensten Völkern mag oft überraschen, aber sie erklärt sich sehr einfach. Denn die Natur und die Lebensverhältnisse, die in Mythen und Sagen sich abbilden, sind nirgend in dem Maße verschieden, daß nicht auch diese ihre Bilder überall einmal einander ähnlich werden könnten, je mehr die Culturentwickelung und die Sinnesart der Völker außerdem zusammen treffen. Und bei benachbarten und blutsverwandten Stämmen ist die Übereinstimmung noch weniger zu verwundern. Dasselbe gilt auch von den Räthseln, Segen und Sprüchen etc. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, je mehr nimmt die Verschiedenheit der Völker und Stämme ab; je größer muß also die Übereinstimmung aller auch in diesem Punkte gewesen sein. Die wissenschaftliche Betrachtung der Mythen und Sagen richtet vornemlich nun ihr Augenmerk auf die Eigentümlichkeit der Ausbildung derselben. Nicht leicht tritt auf andern Wegen lebendiger und in mannigfaltigern Zügen einem eine Volkstümlichkeit entgegen. Wenn man beachtet, welche Seite der Sagenbildung in den verschiedenen Gegenden besonders verfolgt ward, so ist es z. B. gewis characteristisch, daß in Thüringen und Süddeutschland vor allen weibliche mythische Wesen in der Volkssage haften, in Norddeutschland dagegen männliche vorwalten. Wo man aber so viel vom Niß Puk zu erzählen weiß, wird auch die Häuslichkeit und Emsigkeit den Leuten selber nicht fehlen; und der Landmann wird da fleißig sein, wo er so viel vom Segen der Zwerge erzählt, und die Riesen fast verschwunden sind oder nur im Meere hausen. In der Mark muß es fleißige Spinnerinnen geben, nach zahlreichen Sagen zu schließen. Bei uns möchten jene seltener sein, je spärlicher die darauf bezüglichen Sagen sind (Nr. 260. 261. 262). Wäre aber die Sage, die bei uns zweimal vorkommt (Nr. 8. 9) auch im übrigen Deutschland bekannt, so würde sie schwerlich mit dem stolzen freien Sinn aufgefaßt sein, wie Nr. 9. In wenigen deutschen Ländern wird der Bauer wie der unsrige sprechen können. Wir würden über alles dies klarer sehen, wenn schon mehr Sammlungen aus dem übrigen Deutschland, namentlich den uns benachbarten Gegenden vorlägen. Aus einer solchen Sagenvergleichung wird einst, wenn sich unsre Hoffnung erfüllt, die Ethnographie nicht weniger als die Literatur und Culturgeschichte reichlichen Gewinn ziehen.
Die Sagen, die Holstein und Lauenburg bis jetzt geliefert haben, sind verhältnismäßig zwar nicht so zahlreich, aber an wissenschaftlichem Gewinn zweifelsohne die wichtigsten. Friesland, in der Ausdehnung verstanden, die wir vor dem Inhaltsverzeichnis angeben, hat freilich reichlich aber doch noch nicht gleichmäßig beigesteuert; seine Zwerg- und Koboldsagen und Nr. 259 stellen das Gesammelte jedoch an Werth neben die holstein-lauenburgischen. Charakteristisch für diese scheint ein nicht selten hervortretender, heiter ironischer Zug, z. B. in Nr. 239-249, und in manchen andern Beispielen, und daneben eine Vorliebe für solche Stoffe, die eine schweigsame Didaxis enthalten. Oft sind sie auch voll Innigkeit (Nr. 386. 220. 221 etc. etc.). Die friesischen Sagen, namentlich die von den Inseln, verrathen leicht eine gewisse Melancholie, z. B. Nr. 253. 403. 196; man vergleiche die ditmarsche Sage Nr. 291 in dieser Beziehung mit der friesischen Nr. 293. So ist auch der friesische Hexenglaube um ein bedeutendes grauenhafter und dämonischer, als der auf dem Festlande. Und man sehe Nr. 378, 4. Verhältnismäßig am meisten, durch Arndts nicht genug zu dankende Thätigkeit hat die südliche Schleigegend hergegeben. Die Menge der historischen Erinnerungen, die sich an diese Gegend knüpfen, hat die Sage wacher gehalten, und daher mag es ebenfalls kommen, daß sie oft prächtiger und nicht in so einfachem Gewande, wie in den übrigen Landestheilen erscheint. Man vergleiche Nr. 246. 535. 541. 542. Angeln ist im ganzen sehr schweigsam gewesen, und das mag auch characteristisch sein. Alle Sagen sind kurz, und die meisten beziehen sich auf Adliche; man muß viel von diesen gelitten haben (Nr. 58. 60. 66. 213. 214. 215 etc.). Es mag an der Weise der Sammlung liegen, aber so viel man jetzt steht, herrscht in den aus Nordschleswig mitgetheilten unverkennbar Monotonie; Gespenster- und Zaubersagen und auf der andern Seite Sagen von Riesen und Pugen kehren in ewigen Variationen wieder. Aber ein schönes Wort spricht der Hardesvogt im rothen Mantel auf dem weißen Pferde: »Wir haltens mit den Landeskindern.« Diese Sage (Nr. 75) hat zugleich an epischer Vollendung unter den übrigen wenige ihres Gleichen; doch sehe man Nr. 69. Nr. 8. und 9. Nr. 17, 2. und 44. Nr. 20, 3. Nr. 37, 2.
Also des Genusses wie der Resultate vermag unsere Sammlung schon viel zu bieten. Doch nach dem zuletzt Gesagten leuchtet ein, daß ihr an Vollständigkeit noch manches fehlt. Ich hoffe, daß die Sammlung jetzt im Stande ist sich neue und noch zahlreichere Freunde und Beförderer zu erwerben. Holstein und Lauenburg, und nicht weniger die übrigen Theile des Landes, werden noch gar manche Schätze bergen. Wir müssen nicht müde werden weiter zu sammeln und zugleich das verschwindende Bild des alten Volkslebens durch eine Zusammenstellung der Nachrichten über die Sitten und Gebräuche unseres Landes zu vervollständigen suchen. Wer nicht das Alterthum und die Vergangenheit seines Volkes liebt und achtet, der fühlt auch nicht den Stolz ihm anzugehören und kein Vertrauen zu der Zukunft kann in seinem Herzen wohnen. Wenn es aber bei uns anders steht, so glaube ich, wird meine Bitte nicht vergebens sein. Nur wer nicht die Sprache versteht, in der die Sage redet, und wen der Anblick nicht ergötzt, wenn sie das Land mit wunderbarem Leben erfüllt, für den ist dieses Buch nicht geschrieben, noch meine Bitte ausgesprochen. Ich aber möchte durch diese Blätter und durch das, was ich für diese Sammlung gethan, mich nicht nur des Vertrauens, das mir entgegen kam, würdig bewiesen und den werthen Männern, die mir halfen, einen Theil des Dankes abgetragen haben, sondern ihre und anderer Hilfe und Beistand mir ferner verdienen. Was wir sammeln, soll dem Lande zur Freude erhalten und der Wissenschaft nutzbar werden, und wir erfüllen damit zugleich eine Pflicht, die unsre Vorfahren für uns sorglos in ihrem Reichthum versäumten, für die Nachkommen.
Bis jetzt kam dieses Buch kaum über die Grenzen unseres Landes. Jetzt aber mag es gehn, und wem ein Gruß und Händedruck von hier willkommen ist, den herzlichsten von uns überbringen.
Kiel, am St. Martinstage 1845.
Karl Müllenhoff.
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