Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die ichbezogene Zeitung

Es war einmal eine vielseitige Zeitung, die war so gehaltvoll, dass jeder sie lesen wollte.

»Schade,« dachte die Zeitung,»dass ich mich nicht selber lesen kann. Entweder liegen meine Seiten so drückend eng aufeinander, dass sie sich nicht gegenseitig entziffern können. Oder ich werde so weit auseinandergeklafft, dass ich meine andere Hälfte nicht einmal mehr sehen kann.«

Um sich selber zu lesen, machte die Zeitung allerlei Drehungen und Verrenkungen. Sie schlug bei jeder Gelegenheit um und versuchte vor allem, eine der oberen Ecken nach vorne zu kippen, um Einblick in sich selbst zu bekommen. Doch sie erspähte immer nur eine Teilansicht; und die war aus dem schrägen Blickwinkel verschwommen oder verzerrt.

Und wenn der Mensch, der die Zeitung las, die Geduld verlor und sie wütend wegwarf, konnte sie zwar das Glück haben, als aufgebauschte Hütte zu landen, doch auch dann sah sie ihre Seiten entweder gar nicht, weil sie sich selbst verdunkelten, oder schief.

»Soll ich denn immer nur für andere gut sein, ohne mich selbst zu kennen?« fragte sich die Zeitung, nachdem alle Versuche gescheitert waren. »Nein, ich suche mir einen Leser, der mir sagt, was in mir steht.«

Und sie riss sich aus den Händen des Menschen, breitete ihre großen Flügel aus und flog nach draußen, tief in die Stadt hinein. Sie flatterte zu einer Adresse, die sie in sich selbst gelesen hatte, in einer Kleinanzeigenecke, auf die sie einen Blick hatte werfen können.

»Wer spendet einem Blinden ein Freiabonnement?« hieß es dort.

»Das ist meine Chance,« flüsterte die Zeitung noch im Flug vor sich hin und wiederholte sich mit jedem Flügelschlag, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie legte sich in die Zeitungsbox an der Mauer neben der Haustür und wartete, bis sie entdeckt wurde.

Ein aufgeweckter junger Mann kam schließlich, um die Post hereinzuholen. Er sah auch die Zeitung und dachte:

»Donnerwetter, das ging ja schnell. Wir haben doch die Anzeige erst heute drin. Ob etwa der Verlag selber uns das Abo schenkt? Ich werde mich erkundigen, um mich zu bedanken.«

Pfeifend ging er mit der Zeitung in das Zimmer seines blinden Bruders.

»Schau dir das an!« rief er und wedelte vergnügt mit den schon halb aufgeschlagenen Blättern.

Der Blinde, der natürlich nicht schauen konnte, hörte, was los war, und freute sich über den normalen Umgangston seines Bruders.

»Liest du mir vor?«

»Aber claro, werde doch dem Schicksal nicht in die Arme fallen, wenn es uns ein Geschenk ins Haus liefert. Spitz' deine Öhrchen und hör' gut zu.«

Eine ganze Stunde lang las er, was in der Zeitung stand. Und alle drei, der Blinde, der lesende Bruder und die Zeitung selber waren glücklich, so viel Neues auf einmal zu erfahren.

Die Zeitung stahl sich fortan täglich in dieses Haus, wo sie gewürdigt wurde und sich selber würdigen konnte. Der Mensch aber, der sie abonniert hatte, erhielt Ersatz vom Verlag, bis er dahinterkam, wo sein Exemplar blieb. Da schenkte er sein Abonnement dem Blinden und bestellte sich ein neues.

 


 


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