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Es war einmal ein Kanarienvogel, ein hübsches Weibchen. Aber es konnte nicht singen wie sein Ehemann.Und schöner und größer war er auch. Das schmerzte die Kanarienfrau so sehr, dass sie es nicht länger zu Hause aushielt. Sie stahl sich davon und floh in den nächsten Baum, wo ein Buchfink fröhlich drauflos schmetterte, um ein Weibchen anzulocken.
Die Kanarienfrau stellte sich dumm und tat so, als wäre sie gemeint. Doch der Buchfink wollte sich nicht mit ihr einlassen. »Hau ab!« sang er so schön, dass sie es gar nicht abweisend empfand, sondern betört sitzen blieb, um zuzuhören.Das schmeichelte dem Buchfink, so dass er seinen Werbegesang unterbrach, um die Fremde reden zu lassen, vielleicht wollte sie ihm ja ein Kompliment machen. Ja, das wollte sie tatsächlich, verbunden mit einer Bitte:
»Lass mich so singen lernen wie du. Weißt du, ich bin ein Kanarienvogel, ein Weibchen, wie du vielleicht bemerkt hast,« wisperte sie kosend,»aber ich kann nicht singen, nicht einmal so gut wie mein Mann. Gib du mir Unterricht, und ich kehre zurück als die beste Sängerin im Hause.«
Nun, der Buchfink war kein bunter Schönling, der nur hinter den Mädchen herpfiff. Er brachte seine lieblichen Melodien auch gerne als Kunst dar, ohne andere Absicht, als der Natur zuzujubeln. Und nun sollte er gar Lehrer sein, Vervielfältiger der Kunst, das war ihm angenehm. Und so sang der Buchfink der Kanarienfrau eine Strophe nach der anderen vor, wiederholte und variierte, zeigte, wie man den Kopf und die Brust vorstrecken musste, aber so ausdauernd und eindringlich er auch lehrte, die Kanarienfrau übte vergebens.
»Du siehst ja nicht schlecht aus,« sagte der Buchfink galant,»aber eine Sängerin wirst du nie.«
Da rollten zwei goldig blinkende Tränen aus den Augen der Kanarienfrau. Sie schluchzte und flog nach einem wehmütigen Abschiedsnicken davon.
Nachdem sie ihren Misserfolg verwunden hatte, versuchte die Kanarienfrau ihr Glück noch bei anderen Singvögeln. Aber sie begriff weder die Amsel noch den Pirol, weder die Grasmücke noch den Zaunkönig. Statt ihr Leben mit einer neuen Fähigkeit zu veredeln, musste sie sogar darum zittern. Denn ihres auffälligen Kleides wegen schnappten manche Raubvögel nach ihr.
So kehrte sie schließlich verzagt und reumütig ins Haus zu ihrem Ehemann zurück und begnügte sich mit dem, was sie war, und mit dem, was sie konnte. Bald darauf legte sie pflichtgemäß vier Eier, brütete mit ihrem Mann dreizehn Tage darauf herum und staunte nicht wenig, als vier piepsende kleine Kanarienvögel daraus hervorbrachen.
»He, was ist das denn?« wunderte sie sich, obwohl sie im Grunde genau wusste, was los war. Sie kümmerte sich auch sofort ganz mütterlich um die hässlichen Struwweltiere, bis sie nach weiteren dreizehn Tagen aus dem Nest trippelten, viel schöner als alle Buchfinken dieser Welt.
Eines aber war ein Mädchen. Und als es größer wurde und erkannte, wie hübsch die Brüder aussahen, und als es hörte, wie angenehm die Brüder sangen, da versteckte es sein Köpfchen unter dem Gefieder und weinte still vor sich hin.
»Ach Kindchen,« tröstete sie da die erfahrene Mutter, »was bekümmern dich die Schönheit und der Gesang der Männer. Es sind doch die Frauen, die den Nachwuchs in die Welt legen, auch den männlichen, mehrfach sogar. Und das wissen die Herren. Denn, mein Kind, sie sind schön und sie singen schön, um uns zu gefallen, um uns als Partnerin zu erobern. Sieh dich nur mit den Augen eines Mannes, so kommst du dir gleich ganz anders vor.«
Da leuchteten die Augen der Kanarientochter glücklich auf, und sie merkte sich alles so gut, dass sie es später ihren eigenen Töchtern weitererzählen konnte.