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Es waren einmal zwei Feldlerchen, die fühlten sich auf der flachen grün-braunen Erde nicht mehr wohl. Sie wollten höher hinaus, bis in den glücklichen Himmel. Nachts träumten sie von einem endlosen Aufstieg in die ewige Seligkeit, und noch bevor die Sonne erschien, um das Leben auf der Erde angenehm aufzuwärmen, erhoben sie sich und stiegen mit tirilierender Vorfreude empor. Immer wieder aber stießen sie oben an die silbrig-blaue Decke. Der Himmel wollte und wollte sie nicht einlassen.
»Wir sind unschuldige und gutmütige Vögel,« sagte die erste Feldlerche zur zweiten, »wir befreien die Menschen von lästigen Spinnen, Raupen und Insekten. Wieso dürfen wir nicht in den Himmel?«
»Vergiss nicht«,antwortete die zweite Lerche, »dass wir uns auch gelegentlich an Sämereien vergreifen und am frischen Grün des Getreides. Aber ich muss dir recht geben. Daran kann es nicht liegen, denn alles in allem sind wir eher nützliche als schädliche Tiere.«
»Wir singen himmlisch,« fügte die erste Feldlerche verträumt hinzu, als sie gerade wieder aufstiegen und auf halbem Wege eine Pause einlegten, indem sie rüttelnd auf einer Stelle verharrten, »das hat gestern auf der Wiese ein kleines Mädchen gesagt.«
Nach dieser anspornenden Erinnerung setzten die beiden ihren Höhenflug fort. Doch wieder prallten sie an dem blauen Gewölbe ab und mussten im Sturzflug zur Erde zurück.
Nach einigen Tagen vergeblicher Bemühungen sagte die zweite Feldlerche zur ersten:
»Ich gebe es auf. Ich bleibe auf der Erde und lebe wie ein Spatz, genügsam und fleißig. Man kann das Glück nicht erzwingen. Im übrigen glaube ich, dass man erst dann in den Himmel kommt, wenn man gestorben ist.«
»Nein,« erwiderte die erste Lerche trotzig, »ich versuche es weiter. Gut, man kann das Glück nicht erzwingen, aber man kann ihm entgegenkommen. Ein Fisch findet sein Glück nur im Wasser, ein Vogel nur in der Luft.«
Die zweite Lerche wollte einwenden, das sei wohl richtig, es komme aber nicht auf die Höhe des Lebens an, sondern auf die Art des erwünschten Glückes, doch ihre Freundin war schon auf und davon.
Die erste Lerche wollte nun erst recht beweisen, dass der Himmel zu erobern war, wenn man nur nicht aufgab. Sie war so überzeugt von ihrem Erfolg, dass sie jubilierend aufstieg wie eine Siegerin. Und sie ließ sich nicht zurückwerfen. Sie streckte den Körper, spitzte den Schnabel nach vorne und war sicher, die Himmelsdecke durchspießen zu können. In ihrem unnachgiebigen Ehrgeiz aber brach sie sich das Genick und stürzte tot zur Erde zurück.
Ihre Freundin fand sie in einer Ackerfurche, halb in den Sand geschmettert. Sie weinte, doch dann tröstete sie sich:
»Jetzt bist du tot, mein Liebling. Ich habe dich nicht mehr, aber nun wirst du wohl im Himmel sein, und in meiner Fantasie bist du mir näher als je zuvor.«