Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der abenteuerliche Aufstieg einer Null

Es war einmal eine Null, die schämte sich, weil sie so leer und bedeutungslos war. Sie weinte, dass sie vor lauter Tränen noch durchsichtiger wurde, fast hätten die Tränen auch ihren Umriss weggewaschen. Dann hätte man sie gar nicht mehr erkennen können.

Da erbarmte sich eine Eins, die gerade in der Nähe herumstand und nichts zu tun hatte. »Du kannst meine Partnerin werden«, sagte sie, »du darfst dich nur nie vordrängen, sondern musst immer akkurat hinter mir bleiben. Dann sind wir zusammen eine Zehn, das will schon 'was heißen, nicht wahr? Wir teilen uns den Gewinn: Du bekommst fünf dazu und ich vier.«

Die Null war sehr glücklich über dieses Angebot, das auch von den Menschen gerne angenommen wurde. Und so lebten die beiden eine gute Weile in freundschaftlicher Eintracht.

Eines Tages aber rutschte der Zehn eine Zwei über den Weg wie ein Skateboardfahrer auf einem Brett. Sie bremste scharf und musterte das Paar mit unverhohlenem Neid. Da die Eins vorne stand, wandte sie sich an diese: »Mach' mal Platz, Kleiner.« Das ließ sich die Eins nicht gefallen, jetzt nicht mehr, da sie doch die Null bei sich hatte: »Kleiner? Sei bloß nicht frech. Wenn wir nicht im Dutzend gelegentlich zusammenhalten müssten, würde ich dich für deine Dreistigkeit aufspießen.« »Angeber,« höhnte die Zwei. »Was bist du denn schon? Gerade die Hälfte von mir.«

»Ich bin eine Zehn,« erwiderte die Eins, indem sie die Null mit einem leichten Seitenschlenker besser ins Blickfeld der Zwei brachte.

»Ihr seid eine Zehn, meinst du wohl,« spottete die Zwei weiter, »du hast deinen Rucksack vergessen.« Dann wandte sie sich direkt an die Null und hetzte sie gegen die Eins auf: »Du hast doch gehört, was dein Partner gesagt hat: er sei die Zehn. Weiß du, dann kann es ihm doch gar nichts ausmachen, wenn du dich mir anschließt. Wir beide passen viel besser zusammen. Wir sind dann eine Zwanzig. Wenn wir uns den Gewinn teilen, erhältst du zehn dazu, ich dagegen nur acht, das ist doch ein fairer Vorschlag.«

Die Null sah in der rundköpfigen Zwei einen Vetter zweiten Grades. Außerdem bewunderte sie seinen festen Halt auf einer soliden Schiene, während doch die Eins auf ihrem dünnen Bein ein bisschen wackelig war, auf die Dauer wohl nicht so zuverlässig. Außerdem hatte die Eins sie beleidigt, das empfand sie genau so, wie die Zwei es angedeutet hatte.

Schnippisch – sie hatte nämlich doch ein schlechtes Gewissen – drehte sie sich von der Eins weg und schloss sich der Zwei an, um mit dieser davonzusausen. »Wenn du alleine eine Zehn sein kannst,« rief sie noch zurück, »dann ist ja alles in Ordnung, sonst musst du dir eben eine andere Null suchen!«

Es dauerte aber nicht lange, da entriss die Drei der Zwei die Null ohne viel Umstände. Sie neigte einfach ihren oberen Haken in das Loch der Null und zerrte sie an sich. Mit ihrem spitzen Schuh gab sie der Zwei einen Tritt, dass diese es vorzog, davonzuschliddern, statt um ihre Null zu kämpfen.

Nun, auch die Drei sollte nicht ewig glücklich sein mit ihrer Beute. Die Vier schob sich von hinten an die Dreißig, nachdem es ihm nicht gelungen war, Anführer zu werden. Die spitze Drei hatte ihn nämlich gleich weggepiekst, als er sich vor sie stellte, um alles in allem eine Vierhundertdreißig zu bilden. Nun flüsterte er der Null von hinten ins offene Ohr, sie möge sich doch mit ihm davonstehlen, er habe doch viel mehr zu bieten als die falsche Drei, die nach hinten so verlockend rund, in Wirklichkeit aber eine bös zustechende Keife sei.

Die Null konnte leicht wie ein Ei von einem zum anderen rollen, und sie tat es auch. Allerdings war ihre ovale Form dann bald die Voraussetzung dafür, dass sie wieder geraubt wurde, denn die Fünf brauchte sich nur hinter ihr zu verneigen, als ob er ihren Nacken küssen wollte, um sie wie aus Versehen in seinen Bauchbeutel rollen zu lassen. Weg war sie. Und ehe sie begriff, was geschehen war, hatte die Fünf sich schon mit ihr in Sicherheit gebracht, so dass er sie sich öffentlich anhängen konnte.

Die Null machte zwar mit und diente dem neuen Partner so gut wie den vorherigen, schließlich war sie ja mit ihnen aufgestiegen, aber es enttäuschte sie doch, nie um ihrer selbst willen begehrt zu werden. Das schien sich zu ändern, als der Fünfzig die Sechs über den Weg schunkelte, wie ein Weinfass mit Strohhalm.

»Hallo Schwester!« rief sie lustig und meinte offensichtlich nicht die Fünfzig, sondern ihr Hinterteil, die Null. »Ich kenne dich ja noch gar nicht, mit wem ziehst du denn da durch die Gegend, mit der Fünf? Mädchen, das ist mein unmittelbarer Untergebener. Das ist doch kein standesgemäßer Umgang für dich.«

»Moment mal!« unterbrach ihn die Fünfzig. »Du vergisst, dass ich mit der Null zusammen 44 Stufen über dir stehe.«

»Habe ich das vergessen?« Die Sechs rülpste. »Tut mir leid, Kamerad. Vielleicht war ich aber nur voreilig, denn wenn die Dame zu mir kommt...«

»Tut sie aber nicht!« brüllte die Fünf und bog ihr Hinterdach herab, als könnte sie die Null damit festhalten.

»Tut sie aber doch,« mit diesen Worten duckte die Null sich weg und gesellte sich zu der rundbäuchigen Sechs, die ihr von der Form her so vertraut war, als hätten sie dieselbe Mutter.

Diese verwandtschaftlichen Bande erwiesen sich jedoch nicht als so dauerhaft, wie beide geglaubt hatten; es genügte sogar so ein windiger Geselle wie die Sieben, die wie eine verbogene Eins mit Schleife aussah, um die Null klammheimlich davonrollen zu lassen. Als sie aber durch die Sieben mit deren Nachbarin, der Acht zusammenkam, lief sie gleich über. Sie dachte nämlich, die Acht bestünde aus zwei Nullen und sei vielleicht ihre Ursprungsfamilie. Aber die beiden Nullen, die sich zu der Acht verschlungen hatten, entpuppten sich dann doch als von ganz anderer Art.

Nun war der richtigen Null schon alles egal. Kampflos überließ sie sich der werbenden Neun, so gleichgültig, dass sie es kaum noch genoss, das höchste Zweier-Verhältnis erreicht zu haben. Schmerzhaft war es aber dann doch, als die Neun ihr eine andere Null vorzog, so dass sie zwar Teil der Neunhundert wurde, doch nur als Schlusslicht. Sie blieb hinten. Immer wenn die Neun eine neue Null einfing, mussten die schon vorhandenen ein Stück zurückrücken.

Mit der Zeit wuchs die Zahl fast ins Unendliche, jedenfalls lesen konnte man sie nicht mehr. Es schien auch gar nicht mehr wichtig zu sein, ob die ursprüngliche Neun eine Null mehr oder weniger hinter sich her zog, so dass die Null am Ende doch nicht viel mehr galt als am Anfang ihrer Karriere.

Nur manchmal sah ein Mensch genauer hin, ein Bankier oder ein Astronom, und streichelte sie freundlich; im Herzen aber liebten auch sie die räuberische Neun an der Spitze viel mehr.

 


 


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