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Es war einmal ein Kristall, der eckte überall an.
»Du bist ein Monstrum!« höhnte eine Glaskugel verächtlich,»nichts als Spitzen und Kanten. Wenn man sich nicht ritzen will, muss man sich von dir fernhalten.«
Das betrübte den Kristall sehr, denn er war kein Einzelgänger. Da er klar wie Wasser war konnte er alles um sich herum aufnehmen wie ein Spiegel, der das Wesen seiner Bilder für sich behält und nur ihre vagen Umrisse reflektiert. Als farbloses Gebilde suchte der Kristall sogar ausdrücklich die Begegnung mit anderen Gegenständen, um sich von ihnen erfüllen zu lassen. Aber nun war alles aus. Man mied ihn. Dabei konnte er wirklich nichts dafür, dass er so unausstehlich scharf war.
»Ich bin doch geschliffen,« dachte er grämlich, »soll ich mich denn abrunden lassen? Aber dann wäre ich ja kein Kristall mehr. Ach, ich weiß, was ich tu, ich rücke mich ins rechte Licht. Hier ist es so dämmerig, dass meine Formen verschwimmen. Natürlich, das ist es, weshalb sich alle an mir stoßen. Sie erkennen mich ja gar nicht richtig.«
Und so rutschte er von seinem Platz auf dem Schreibtisch ans andere Ende bis dahin, wo ihn morgens die Sonne traf. Und schon die ersten Strahlen ließen ihn aufjubeln. Sie schossen durch seine kleinen Oberflächen und blitzten in seinem Leib so herrlich glühend hin und her, dass er vor Glück lachen musste. Und das farbig-helle Lachen machte es sichtbar, das Glück, und es machte glücklich, wenn man es betrachtete.
»Ein Diamant!« rief die Sekretärin. »Mein grantiger Kieselstein ist ein Diamant! – Zumindest spielt er so schön mit dem Licht wie ein echter Diamant. Wer weiß, vielleicht ist er echt. Ich will es gar nicht wissen. Echt oder unecht, das sind doch Geldbegriffe. Ich will die Wirkung im Büro genießen und nicht den Wert auf dem Warenmarkt. Phantastisch, ganz phantastisch!«
Die Kugel aber und die anderen Gegenstände hielten Abstand wie zuvor, doch nun aus neidischem Respekt.