Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die einsame Stimme

Es war einmal eine Stimme, die konnte flüstern und schreien, weinen und lachen, fluchen und singen, aber sie hatte kein Echo und wusste nicht, wer sie war. Alle ihre Töne verließen sie, sobald sie in die Welt kamen.

»Ich habe keine Resonanz,« bedauerte sich die Stimme, »egal wie ich klinge, ob angenehm oder unangenehm, alles verweht in der Luft. Vielleicht stehe ich zu niedrig. Ich will auf einen Hügel steigen und laut brüllen. Von dort oben wird meine Stimme so mächtig sein, dass ich sie fühlen kann. Sie wird mich umhüllen wie eine Wolke.«

Als die Stimme aber auf dem Hügel stand und schrie, wichen die Schafe vor ihr zurück, um aus sicherer Entfernung zuzuhören. Und die Luft trug die Töne zu ihnen. Aber sie kehrten nicht heim.

»Auch hier habe ich keinen Widerhall,« seufzte die Stimme und begab sich traurig in eine kleine Kammer. Schluchzend beweinte sie sich und ihr verwehendes Schicksal.

Doch kaum hatte sie angefangen, ihrem Kummer Ausdruck zu geben, da spürte sie auch schon die Antwort, wie sie von den nahen Wänden schallte.

»So ist das also,« sagte die Stimme zu sich selber,»man muss im kleinen Raum bleiben, dann können die Laute nicht entweichen, dann hört und versteht man sich.«

Jahrelang blieb die Stimme in ihrem Zimmer, sie übte sich in allen tiefen und hohen Tönen. Oft bekam sie von anderen Stimmen Besuch, die von ihrem Experiment gehört hatten und wissen wollten, ob die Klausur nützlich sei. Das konnte die inzwischen sehr gefestigte Stimme im Brustton der Überzeugung wohl behaupten, und man nahm ihre Lehre an, weil man hörte, wie sie wirkte.

Manche Stimmen wurden so stark, dass sie sich selbständig machen und sogar von einem Hügel aus reden konnten, ohne sich in der Leere zu verlieren. Wenn es sein musste, kehrten sie zwischendurch in ihre Kammer zurück.

Die Stimme aber, von der sie ihre Kraft empfangen hatten, galt nichts in der Welt und musste sich damit begnügen, ihrer Wirkung nachzulauschen.

 


 


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