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Es war einmal eine Brille, die glänzte vor Freude, wenn sie ihrem Besitzer helfen konnte, die Welt besser zu sehen. Und wenn es ihr nicht gelang, weil Nebel im Weg war, dann schämte sie sich so sehr, dass sie selber ganz dunstig wurde. Darüber ärgerte sie sich erst recht. Umso williger hielt sie ihrem Herrn ihre beiden Gläser hin, damit er sie putzen konnte. Dann zeigte sie ihm wieder alles in gewohnter Schärfe. Manchmal, oft auch in Gesellschaften, lobte ihr Besitzer ihre Klarsichtigkeit. »Ihre Form mag wohl nicht jedermanns Geschmack sein,« sagte er etwa, »aber es ist die beste Brille, die ich je gehabt habe.«
Mit der Zeit aber änderte sich die Sehschärfe der Augen, so dass der Mann eine neue Brille benötigte. Sosehr sich die alte auch anstrengte, sie konnte ihm nicht mehr das klare Bild geben, das er brauchte, um bei der Arbeit, im Straßenverkehr, zu Hause, bei Spaziergängen, beim Sport usw. zurechtzukommen.
»Lass dir neue Gläser einpassen,« schlug seine Frau vor. »Nein,« erwiderte der Mann, »der Augenarzt meint, es sei besser, Kontaktlinsen zu nehmen. Und ich muss sagen, der Vorschlag hört sich gut an. So eine Brille ist doch recht lästig.«
Da war die Brille beleidigt, aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie hätte vor Wut beschlagen können, wollte aber – wenn es denn schon sein musste – einen guten Abgang haben. »Vielleicht,« dachte sie bescheiden,»bleibe ich als Ersatz in Reserve.«
Der Herr bekam tatsächlich Kontaktlinsen. Die Brille sah sie. Ja, es war das vorerst Letzte, das sie sah, denn danach kam sie in ein dunkles Etui und wurde in eine Schublade gelegt, wo sie einschlief und sich von der Arbeit der vergangenen Jahre erholte. Sie träumte selig von ihrer Unentbehrlichkeit: »Ohne mich,« freute sie sich im Traum, »hätte mein Herr gar nichts machen können.«
Wie ein speziell für Brillen gemachter Film rollten die hellen und die dunklen und wieder die hellen Stunden über die Wölbungen ihrer Gläser.
Nach einigen Wochen aber kam die Brille sich selber halbblind vor. Sie sah ihre Träume nur noch verschwommen. Denn Träume müssen von den Bildern leben, die man im wachen Zustand aufnimmt. Daran fehlte es der eingesperrten Brille. So wurde sie ganz trübsinnig und drohte vor Kummer schwach zu werden. In solchen Augenblicken der Schwermut nahm sie aber alle Kraft zusammen und behielt ihre Zuversicht.
Eines Tages zeigte sich, dass es sich gelohnt hatte, durchzuhalten. Die Schublade öffnete sich, der Herr nahm das Etui und zog die Brille wieder heraus: »Komm her, alter Freund,« sagte er und rieb freundlich mit einem weichen Tuch über die Gläser.»Du hast mich nie enttäuscht, im Gegensatz zu diesen verflixten Kontaktlinsen. Die sind vielleicht gut für andere Leute, aber mir fällt immer eine aus den Augen, mal die linke, mal die rechte, als hätten die Biester sich abgesprochen. Also, Schluss damit. Du kriegst neue Gläser und dann sollst du wieder auf meiner Nase thronen wie ein Kutscher auf dem Bock.«
»Wenn er mir meine Gläser wegoperieren lässt,« dachte die Brille, »dann bin ich gewiss nicht mehr die alte. Aber ich will zufrieden sein, wenn er wenigstens das Gestell behält, war er doch darauf bisher nicht gerade stolz.«
Der Herr aber hatte genug vom Experimentieren. Er ließ in den gewohnten Rahmen, der immer bequem auf der Nase und auf den Ohren gelegen hatte, neue Gläser setzen, und am Ende war auch die Brille sehr glücklich: »Es ist, als sähe ich selbst die Welt mit neuen Augen. Also, ich weiss nicht, aber ob diese niedlichen kleinen Kontaktlinsen das auch können? Ein weites Blickfeld und dann noch scharf? Ist ja auch egal, unsereiner stellt doch `was dar, wir ergänzen den, der uns trägt und und machen aus ihm eine Persönlichkeit .«