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Es war einmal eine neue Zahnpasta-Tube, die glänzte so schön auf der Fensterbank, dass sich der alten Zahnbürste im Glas neben ihr vor Bewunderung die Borsten sträubten. Vor allem wenn die Sonne schien, war es eine Wonne, sie anzusehen.
Leider machte aber der Rentner, der sich die Tube gekauft hatte, schon am ersten Abend Gebrauch von ihr. Und wenn die Bürste sich über den feinen weißen Streifen Zahnpasta freute, der ihm auf die Borsten gelegt wurde, so ärgerte sich die Tube umso mehr.
»Ich habe Bauchschmerzen,« sagte sie nach dem Zähneputzen zu der Bürste, »der Mann hat mich gedrückt. Ich will ihm ja gerne mit meinem gesunden Inhalt zur Verfügung stehen, bin ja ein medizinisch bedeutsames Mittel, aber muss der Herr mir eine Delle verpassen? Also wirklich, das habe ich nicht verdient.«
An der Delle litt sie erst recht, nachdem der Rentner sich am nächsten Morgen wieder die Zähne geputzt hatte. Da hatte die Tube nämlich im Spiegel gesehen, wie unansehnlich sie schon geworden war.
»Ich bin verunstaltet,« schrie die Tube, »schau mich an, nichts als Dellen und Knicke.«
»Mein liebes Kind,« sprach die alte Zahnbürste über den Glasrand zu ihr nieder wie von einem Pult, »was glaubst du denn wohl, wozu du hier bist? Wir haben unsere Pflicht zu tun. Schau mich an. Auch ich war einmal neu und hübsch. Aber es macht mir nichts aus, bei der Arbeit Haare zu lassen. Solange mich der Mann behält, werde ich ihm dienen, gerne sogar. Ich will doch nicht in den Müll. Im übrigen: Noch geht es dir gut, noch siehst du ziemlich ordentlich aus. Das ändert sich aber von Tag zu Tag. Du wirst immer mehr zusammengeknetet. Du bist doch nur eine Verpackung, begreifst du das nicht, auf deine Zahnpasta kommt es an, nicht auf dich. Also zier' dich nicht so, sei froh, dass du überhaupt gebraucht wirst.«
»Das wollen wir doch `mal sehen!« rief die Tube zurück. »So dumm wie du bin ich nämlich nicht, ich doch nicht. Ich balle alle meine Kraft zusammen, um die weitere Entnahme meiner Pasta zu verhindern. Ich gäbe sie ja gerne her. Aber nicht zu dem Preis, dass ich dabei kaputtgemacht werde. Niemals!«
In ihrer Verstocktheit gelang es ihr tatsächlich, an der Öffnung oben einen Pfropfen zu bilden.
»He,« sagte der Rentner, »hab' ich vergessen, dich richtig zuzudrehen? Tja, man wird älter. Aber nein, der Verschluss sitzt fest. Egal, muss ich den Pfropfen eben durchbohren.«
Er nahm eine Nagelpfeile, die in der Schale neben der Zahnpasta-Tube lag, und öffnete den verkorksten Kopf der widerspenstigen Tube mit einem spitzen Stich und einer kratzenden Drehung.
»Au! Au!« zeterte die Tube. Doch das hörte nur die alte Zahnbürste, und die wollte sich nicht weiter einmischen. Als der Rentner die Tube aber presste, stellte sich heraus, dass er die Öffnung nicht richtig freigepuhlt hatte. Aus dem nur kleinen Loch spritzte die Paste heftiger, als sie sollte, und entsprechend länger. Der Strahl flog bis an den Spiegel, ließ aber noch Platz für die nun erst recht deformierte Tube, das heißt, für ihr Spiegelbild.
Einen Tag und eine Nacht ächzte die Tube vor Kummer. Dann besann sie sich auf ihre eigentliche Aufgabe. Und wenn die Eitelkeit zurückkehrte, so brachte sie neuerdings ihren eigenen Spiegel mit, einen Spiegel des neuen Kunstverstandes, und der erklärte: »Sei froh, dass du nicht mehr so glatt und rund aussiehst wie die Tuben in den Geschäftsregalen. Jetzt bist du ein abstraktes Kunstwerk. Wenn du Glück hast, kommst du am Ende in eine Ausstellung, findest einen Liebhaber, der viel Geld für dich ausgibt und dich für alle Zeiten auf einem Ehrenplatz bewahrt.«
Mit diesem Ziel vor Augen litt die Zahnpasta-Tube fortan mit Vergnügen.