Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Der unzufriedene Schatten

Es war einmal ein Schatten, der lag bei jedem schönen Wetter unter einem Baum und schwankte wie die Zweige im Wind.

»Was für ein trauriges Leben habe ich doch,« nörgelte er, »immer in Schwarz, immer verkörpere ich nur die Kehrseite des Lebens. Und nicht einmal das. Habe ich denn einen Körper? Nein, ich bin nur eine Fläche, eine dunkle Fläche.- Nun ja, immerhin ein beliebter Liegeplatz für Menschen und Tiere, und viele Pflanzen fühlen sich auch nur bei mir richtig wohl. Gut, aber genügt mir das? – Ja, mittags bin ich nur ein Stummel, aber morgens und abends bin ich länger als mein Baum. Also, wenn es am heißesten ist, wenn die meisten Leute bei mir Zuflucht suchen, gerade dann bin ich nur kurz. Aber doch immer noch lang genug. Eben, und – aber das sagte ich wohl schon, dass ich sonst sehr ausgedehnt bin, weiter als das Wurzelwerk. Naja, das interessiert sowieso keinen. Was aber habe ich nun von meiner Gastfreundschaft? Was habe ich davon? – Nichts. Ha! Den Baum loben sie als Schattenspender, den Schatten loben sie nicht, der den ganzen Tag bereitliegt und sich immer schön mit der Sonne dreht und nicht mit dem Wind, der den Zweibeinern sogar die Uhrzeit anzeigt, wenn sie nicht zu dumm sind, meine Zeiger zu verstehen. Nein, ich mach das nicht länger mit. Ich hau ab und mache mich selbständig. Ich habe meine Erfahrungen und bin auf niemanden angewiesen, auf niemanden.« –

Mit einem energischen Ruck riss sich der Schatten los – und zerging in der Sonne und war nicht mehr.

Der Baum aber bekam im selben Augenblick einen neuen Schatten, genauso groß und nützlich, aber behaglich und zufrieden.

 


 


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