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Es war einmal ein gutmütiger Flusskrebs, der wusste wohl, wie schrecklich er mit seinem Panzer, mit seinen zehn Beinen, mit der grässlichen doppelschere, dem dreifachen Mundwerkzeug und den hervortretenden Glupschaugen aussah. Deshalb wechselte er seinen Aufenthalt möglichst oft. Wenn er merkte, dass er den Landbewohnern auf die Nerven ging, zog er sich ins Wasser zurück. Sobald aber die Wassertiere sich angewidert abwandten, kroch er wieder an Land.
Hier geriet er eines Tages trotz seiner behutsamen Zurückhaltung in Lebensgefahr. Er hatte sich eben an einem Stück Aas gesättigt, das er am Flussufer gefunden hatte, und wollte nun ein Mittagsschläfchen halten, da rollte ein ungeheuerer Berg auf ihn zu. Es war ein buntes Gebilde, das an allen Seiten fein abgerundet war und äußerlich gar nicht bösartig zu sein schien.
»Er wird mich erdrücken,« dachte der Krebs und zitterte vor Angst. Dabei kroch er so schnell wie möglich auf den Stein zu, unter den er sich tagsüber zurückzuziehen pflegte, wenn er seine Ruhe haben wollte. Doch der Berg folgte ihm in unerbittlicher Gleichmütigkeit, schlimmer als ein Sturm, der doch immer wieder Atem holen muss, wenn er jemanden wegblasen will.
Im letzten Augenblick fiel dem Krebs ein, dass er unter dem Stein erst recht, und zwar besonders schmerzhaft zerquetscht würde, wenn der Berg in derselben Richtung weiterrollte. In seiner Panik kehrte er um und stellte sich dem glatten Ungeheuer.
Seine Scheren griffen zu, als könnten sie das Monster umarmen und erdrücken; sie glitten aber kläglich ab. Zur Flucht war es nun erst recht zu spät. So beugte sich der Krebs dem unausweichlichen Tod.
Er wartete. Plötzlich vernahm er ein Zischen. Er blickte wieder auf: Der Berg rollte nicht mehr, er rumpelte zwar noch einige Zentimeter, sackte aber in sich zusammen, bis er sich nicht mehr bewegen konnte, und blieb als tief zerfurchter Klumpen liegen.
»Ein Wunder! Es ist ein Wunder geschehen!« jauchzte der Flusskrebs in staunender Erleichterung.
»Nein,« sirrte da eine Dolchwespe, die so klein war, dass der Krebs sie trotz der Beweglichkeit seiner Stielaugen erst bemerkte, als sie zum ihm sprach:
»Es war kein Wunder,« du unbeholfener Muschelknacker, »es war mein Stachel, der den Ball platzen ließ. Junge, der bestand doch nur aus dünnem Gummi, groß aufgebläht, aber innen nichts als Luft.«
»Luft? Mag sein. Aber du weiß ja selber wie gefährlich geballte Luft sein kann.«
»Nun ja, aber du hast doch gesehen, wie leicht man sie sprengt. Ich will dir mal einen Rat geben: Wenn dich wieder einmal so ein Koloss angreift, verliere nicht die Nerven und kämpfe nicht mit deinen stärksten, sondern mit deinen wirksamsten Waffen. Hättest du nur die Spitzen deiner Scheren eingesetzt, um damit zuzustechen, statt den ganzen Ball auf einmal knacken zu wollen wie eine Muschel, dann hättest du meine Hilfe gar nicht gebraucht. Die großen Gegner muss man nicht abwehren, indem man sich selber groß stellt, sondern indem man den unscheinbaren feinen Dolch in ihre Nähte drückt.«
Damit sauste die Wespe davon. Der Flusskrebs aber nahm sich den Rat sehr zu Herzen, doppelt nahm er ihn sich zu Herzen, hatte er doch selber nicht immer und nicht überall einen Panzer, sondern auch sehr verletzliche Teile.
»Am liebsten wäre mir ja, ich brauchte gar nicht zuzustechen und niemand stäche mich,« brabbelte er vor sich hin, als er endlich doch unter seinen Stein kroch, um seine Ruhe zu haben.