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Es war einmal ein Fahrrad, das arbeitete immer nur, wenn es getreten wurde. Sobald es stand, lehnte es sich an einen Baum oder an eine Mauer oder kippte einfach um und schlief sofort ein.
Eines Tages aber, als das Rad wieder einmal an einem Baum lag und schlief, kam der Wind als freundschaftlicher Verschwörer und wisperte ihm ins Ohr: »He du! Wach'auf. Ich muss etwas mit dir besprechen.« Das Fahrrad zuckte zusammen und wollte sich schon aufrichten, denn es dachte, sein kleiner Chef sei gekommen, um mit ihm davonzufahren. Als es aber den Wind erkannte, knackte es verärgert und legte sich wieder zurecht, um einzuschlafen. Der Wind war nämlich sein Feind, der keine Gelegenheit ungenutzt ließ, ihn von vorne oder von der Seite anzugreifen; die Vorteile des Rückenwindes hatte das Rad vergessen.
»Hör' doch zu,« raunte der Wind, »ich will ein schönes Happening mit dir machen, eine sensationelle Aktion, eine Zirkusnummer, so dass die Leute vor Bewunderung stehen bleiben und dir nachsehen. Du wirst der Held des Tages, glaub' es mir.«
Held des Tages wollte das Fahrrad gerne einmal sein. Aber es wusste nur zu gut, dass es mit seinen zwei Rädern ohne Menschenhilfe hilflos war. »Hau ab und lass mich in Ruhe,« knurrte es deshalb. »Solange der Junge mich nicht fährt, kann ich nur schlafen, also geh' bitte.«
Doch der Wind ließ sich nicht abwimmeln: »Erinnerst du dich denn nicht, dass ich dich immer wieder angeschoben habe? Du musst doch noch wissen, wie der Junge seine Füße auf dein Steuer legte, weil er nicht zu treten brauchte. Und warum brauchte er nicht zu treten? Weil ich euch anschob. Das musst du doch noch wissen.«
Das Fahrrad dachte kurz nach. »Und wenn schon,« knarzte es dann mürrisch,»was willst du damit sagen?«
»Nun, dass du dich selbständig machen sollst. Komm her, brenn mit mir durch. Ich sehe doch, dass du nicht abgeschlossen bist. Ricke dich nur auf, dann Helfe ich dir weiter.«
So allmählich wurde das Fahrrad hellwach. Es fing an, den Wind zu verstehen und ihm zu vertrauen. Ja, einmal nach Herzenslust davonzubrausen, ohne gesteuert und getreten zu werden, das musste ein Vergnügen sein, das Vergnügen der totalen Freiheit. Das Rad missachtete die Tatsache, dass es im Begriff war, sich der Freiheit des Windes zu überlassen, nicht seiner eigenen.
»Gut,« das Rad gab sich einen Ruck, stellte sich aufrecht, rückte das Steuer gerade und befahl:»Es kann losgehen!«
Der Wind lächelte über diese Anmaßung und dachte: »Den Start darf es befehlen, doch wie es weitergeht, das bestimme ich.«
Er packte das Rad,löste es vom Baum und schob es auf die Straße, wobei es munter aufjauchzte, war es doch noch nie ohne Last gefahren.
Kaum aber hatte der Wind das Rad in seiner Gewalt, gab es kein Halten mehr. Im Gegenteil, er beschleunigte es immer stärker, so dass es gar nicht so schnell lenken konnte, wie es fuhr.
»Stopp! Stopp! Stopp!« rief das Rad atemlos, »Nicht so schnell! So schnell kann ich die Fahrbahn mit ihren Kurven und Hindernissen ja gar nicht beobachten, das kann nicht gutgehn, halt an!.«
Doch der Wind lachte nur und trieb sein Spiel mit dem Fahrrad. Er ließ es vorwärtsrasen, er ließ es hin und herschlenkern, er ließ es beinahe kippen und richtete es wieder auf. Zum Schluss aber hatte er keine Lust mehr und ließ es an einer Mauer zerschellen.
»Wie angenehm war es doch,«seufzte das sterbende Fahrrad, »unter den Menschen zu arbeiten.«