Helmut Wördemann
Gedichte
Helmut Wördemann

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Die abgeirrte Rakete

Es war einmal eine Rakete, die stand hilflos auf ihrer Startrampe und kam nicht vom Fleck. Dann aber explodierte unter ihr plötzlich eine gepresste Gaswolke, die ihre Kraft nicht ausbreiten konnte, wie sie gerne gewollt hätte. Sie musste sich mit ihrer ungeheuer starken Flamme nach unten abstoßen. Dabei drückte sie die Rakete mit heißer Empörung nach oben: Sie stieg. Ja, sie stieg mit ihrem schlanken Leib so steil, dass sie vor lauter geradliniger Energie nicht mehr von ihrem Kurs abweichen konnte. Aber das wollte sie auch gar nicht. Oh nein! Sie hob sich in senkrechtem Stolz mit vor Freude glühendem Kopf. An ihrem langen Körper rutschten jubelnde Funken nieder wie verrückte kleine Elfen.

So erreichte die Rakete die grenzenlose Höhe jenseits der Bannkraft der Erde. Da sie die Erde nicht einmal mehr sehen konnte, wusste sie schließlich gar nicht, ob sie stieg oder auf einer beliebigen Bahn durch das Weltall raste. Raste? Raste sie denn? – Wohin sie auch blickte, nichts blieb schnell zurück. In der Ferne glitten langsame Sterne nach hinten. Das sah so aus, als kröche die Rakete im Schneckentempo. Doch nein. Sie flog auf den Mond zu, und der erschien von Minute zu Minute viel größer. Das konnte nur an der rasanten Annäherung liegen.

»Komm' zu mir!« lockte der Mond, der die Form eines ungespannten Flitzebogens hatte, denn seine linke Hälfte lag im Schatten der Erde. »Ich erzähle dir die schönsten Geschichten der Erde – und die gruseligsten, wenn du willst. Ich sehe ja alles, übrigens auch bei Tage, wenn die Menschen mich kaum bemerken. Ich kann dir flüstern, wenn ich nicht selbst so hell wäre, ich könnte die dunklen Geschichten nicht ertragen.«

Die Rakete fühlte sich von dem magischen Licht des Mondes sehr angezogen, mehr noch als von den versprochenen Erzählungen. Da ihr aber anerzogen war, auf vorprogrammiertem Kurs zu bleiben, raffte sie alle ihre Fliehkräfte zusammen und widerstand der Versuchung.

Bald aber tat es ihr halb und halb leid. Denn je länger sie unterwegs war, umso kälter wurde ihr zumute. Das Start-Feuer war längst erloschen, und das Weltall war eisig, weit und leer. Erst Stunden später, als die Sonne ganz hinter der Erde hervorkam und der Rakete lange warme Strahlen nachsandte, wurde ihr wieder wohler zumute.

»Wenn ich meinen Kurs ändere,« rechnete sie sich aus, »kann ich direkt auf die Sonne zufliegen – wie ins Paradies.«

Die Macht der Erde über die Rakete hatte mit der Entfernung nachgelassen. So gelang es ihr jetzt tatsächlich, von der ihr vorgeschriebenen Bahn abzuweichen und in die Richtung weiterzufliegen, in der nach einigen Stunden die Sonne stehen musste. Sie jubelte voller Vorfreude, so dass ihr wohlig warm wurde, was die Abenteuerlust prickelnd anstachelte.

Zu ihrem Glück aber war die Rakete noch zu dumm, sich selbständig zu machen. Als die Sonne die gewünschte Position erreicht hatte, befand sich die Rakete auf dem direkten Weg zu ihr; als sie aber dort ankam, hatte sich die Sonne schon wieder davongemacht.

Um die enttäuschte Rakete zu trösten, rief sie mit hell dröhnender Stimme zurück:

»Junger Freund, sei froh, dass ich dir ausgewichen bin. Hättest du mich erreicht, wärest du in meiner Glut geschmolzen, und nichts wäre geblieben, das mich hätte genießen können. Ich gehöre zu den Dingen, die nur aus der richtigen Entfernung angenehm wirken. Ein bisschen zu fern, ein bisschen zu nah, und die ganze Herrlichkeit verwandelt sich ins Unerträgliche.«

Da schüttelte sich die Rakete vor Angst, obwohl sie ja gut davongekommen war, und flog in die Unendlichkeit weiter, beseelt von der Hoffnung, eines Tages irgendwo zu landen, wo wenigstens das Klima heimatlich war.

Jahr um Jahr flog die Rakete, und die kleine Kursabweichung wurde immer größer. Sie wusste schon lange nicht mehr, wohin sie unterwegs war, nur dass sie weit weg war von ihrer Heimat, das wusste sie.

»Wohin soll ich steuern?« fragte sie sich immer wieder und wandte sich mal diesem, mal jenem Stern zu. Es waren großartige Begegnungen, doch wenn sie näher kam, wichen alle Sterne aus. Aber die Rakete wusste ja inzwischen, dass es gut für sie war, einem Stern nicht zu nahe zu kommen.

Dieses Tändeln zwischen den Sternen, immer bedroht von kleinen und weniger kleinen Gesteinsbrocken, die durch das All jagten wie Geistergeschosse, war auf die Dauer nicht mehr unterhaltsam. Als die Rakete schließlich älter wurde, beschloß sie, sich ganz ihrem Schicksal zu überlassen und keinen Stern mehr anzusteuern, auch nicht, um ihn in respektvoller Demut zu bewundern. Sie kapselte sich ein, indem sie Augen, Ohren und Nase schloss und träumte den Rest ihres Daseins von der Erde, denn die erschien ihr nur immer liebenswürdiger, je weiter sie sich von ihr entfernte.

 


 


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