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Sehen wir uns heutzutage auf den Schlitten- und Schlittschuhbahnen um, oder noch besser, stellen wir uns einmal an die Schule, wenn der Unterricht zu Ende ist, und sehen uns die Kinder an. Es kann einem bitter leid tun, wie die Jugend heute verweichlicht und verpiept wird. Die kleinen Füße stecken in Filzschuhen oder gar Filzstiefelchen. Nicht selten sieht man noch Gamaschen darüber. Dazu kommt der dicke, lange Mantel, welcher die ebenso dicken Kleidungsstücke über dichtem Unterzeuge bedeckt. Natürlich schließt bei dem Knaben ein hoher, steifer Kragen das Hälschen ein. Darüber ist noch ein dicker Schal gewickelt, der bis zu den Ohren reicht. Dann kommt die Pelz- oder feste Stoffmütze. Man sieht kaum mehr die Nase und die Augen. Daß nur ja kein Lüftchen das arme Kind berühren kann! Solange die Kinder in den Kleidern bleiben, geht's ja. Verschiebt sich aber einmal der Schal, oder berührt sie sonst irgendwo die Zugluft, so ist die Not da, und der Arzt muß kommen. Am schlimmsten ist das in der Übergangszeit im Frühling und Herbste, wo die Kleidung leichter ist. Husten und Schnupfen sind das wenigste, oft stellen sich die bösartigen Kinderkrankheiten ein, und die ganze Familie atmet auf, wenn das Kind mit Gottes und des Arztes Hilfe über die gefürchtete Klippe hinüber ist. Was kann aber so ein Häschen, welches das ganze Jahr in dem hohen, steifen Leinenkragen steckt, der bösen Diphtherie für Widerstand bieten? Was ein Körper, von dem kaum im heißen Sommer das Unterzeug herunter kommt? O, über euch Eltern! Glaubt ihr, ihr erzeigt euren Kindern eine Wohltat, wenn ihr Treibhauspflänzchen aus ihnen erzieht? Warum wird eine im freien Lande gezogene Pflanze viel stämmiger, gesunder und kräftiger, als eine im Treibhaus gezogene derselben Art? Ich selbst bin vom Lande und kenne da alte Männer, die in ihrem Leben noch keine Strümpfe an ihre Füße gezogen haben, die Unterhosen und Unterjacken nur dem Namen nach kennen, die aber auch noch nie in der Behandlung eines Arztes gewesen sind. Das sind alte kernige Leute, die fest wie die Eichbäume den Lebensstürmen Trotz bieten, Leute, die Festigkeit und Frische des Körpers wie des Geistes bewahrt haben und sie bis an ihr Ende behalten werden. Solche Leute werden jetzt weit seltener groß gezogen. Kopfschmerz und Nervosität sind allgemein verbreitet bei den Menschen der Gegenwart; wir leben in dem nervösen Zeitalter, und ich behaupte, dahin hat uns die Erziehung und die Mode gebracht. Zu den Gewohnheiten der guten alten Zeit können wir nicht wieder zurückkehren, dazu ist die Mode zu sehr Herrscherin geworden, aber wir können unsere Kinder trotzdem abhärten und kräftige, kernige Deutsche aus ihnen machen. Wir erweisen damit unsern Kindern eine Wohltat, sparen aber zugleich viel Geld an Kleidern, Doktor- und Apothekerkosten. Weg mit Gamaschen und Filzschuhen! Weg vor allen Dingen mit dem Stehkragen und dem Unterzeug! Weg mit dem Kaisermantel und Schaltuch! Der Körper muß abgehärtet werden und den Krankheiten und Anfechtungen des Lebens Trotz bieten lernen. Man lasse die Kinder im Sommer möglichst viel barfuß gehen und im Winter nur baumwollene Strümpfe und Lederschuhe anziehen. Ein leinenes Hemd, ein gut anschließender Anzug, eine einfache Mütze auf dem Kopf, höchstens bei kalten Tagen noch dünne, wollene Handschuhe für die Hände, das genügt! Schon in der frühesten Kindheit soll man die Abhärtung beginnen. Man hülle das Kind wenig in das Deckbett, dafür wickle man eine wollene Binde um das Leibchen, damit es warm bleibt. Im übrigen lasse man es in gelinder Wärme strampeln und mit den Ärmchen fechten, so viel es will. Man fahre es jeden Tag bei einigermaßen trockenem und nicht schneidend kaltem Wetter ins Freie, ohne Schleier und möglichst leicht angezogen, und gebe ihm die ersten vier bis fünf Jahre als Hauptnahrung gute Milch zu trinken. Dabei wasche man es kalt, bade mäßig lauwarm und reibe den Rücken jeden Abend vor dem Schlafengehen erst naßkalt, dann trocken ab. Will man bei größeren schon verweichlichten Kindern noch mit der Abhärtung beginnen, so ist das schwieriger und muß mit viel Vorsicht verbunden werden. Man fange mit kalten Abreibungen vor dem Schlafengehen an, damit die Nerven erstarken. Dann gleich mit ihnen in das erwärmte Bett, so daß Erkältungen ausgeschlossen sind. Erst ganz allmählich gewöhnt man sie an dünnere Kleidung. Ein leichter Schnupfen oder Husten schadet keinem Kinde. Es dauert oft lange, aber wer energisch ist, setzt es durch, erspart viel Geld und, was noch mehr wert ist, erzieht kräftige, gesunde Kinder.
Klara Gorges.