Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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966. Eines Vaterunsers Wert

Da der heilige Ulrich noch Bischof zu Augsburg war, kam alltäglich zur Mittagsstunde ein alter Bettler an die Pforte des Bischofhofes, der ward da gespeist mit einem Mittagsmahl und betete jedesmal zu frommem Danke drei Vaterunser für den Bischof. Da kam einmal dem heiligen Mann eine sorgenschwere Zeit, wie sie wohl an keinem Erdensohn vorübergeht, denn jeder hat bisweil sein Kreuz, und da erging er sich in trüben Gedanken und begegnete dem alten Bettler, und sich zu zerstreuen, redete er ihn an: Wie geht es dir, Alter? – Wie immer, hochwürdigster Herr Bischof! war des Greises Antwort. – So, so! sprach Ulrich, mir aber geht es nicht wie immer, mir geht es trübe, und ich glaube ganz sicherlich, du hast heute für mich kein heilig Vaterunser gesprochen. – Mein Seel, getroffen! versetzte der Bettler, ich habe nicht gebetet, weil, als ich kam, Euer Küchenmeister mir ein Gesicht machte wie die Katz, wenn's donnert, und mich anschnurrte und mit den Worten abspeiste: Heute wird nichts gereicht! Von solcher Abspeisung wurd' ich nicht satt, hochwürdigster Vater, sollt' ich nun für nichts beten? – Auf diese Rede wandte sich der Bischof nach seinem Hofe zurück und berief alsbald den Küchenmeister und sagte ihm: Du hast mich durch deinen nichtswürdigen und gottverdammten Geiz um jenes Armen Vaterunser gebracht und bist schuld an dem Kummer, der über mich gekommen ist. – Ei wohl, Herr Bischof, antwortete keck der Knecht, an so eines Lumpen Vaterunser wird auch was Rechts gelegen sein! Wieviel Deute wird das wohl wiegen? – Ich weiß dies in der Tat nicht, antwortete Ulrich, darum erhebe dich flugs gen Rom und frage an beim Heiligsten Vater, wieviel ein Vaterunser wert sei, und ehe du mir dessen Antwort bringst, tritt nicht wieder vor mein Angesicht! – Da mußte nun der arme Küchenmeister per pedes apostolorum gen Rom pilgern, doch ward ihm allenden als Boten Bischof Ulrichs gutes Geleit, und kam bald vor den Papst und legte diesem seine Frage vor. Da sprach der Heilige Vater: Ein Vaterunser – das ist wert eines güldnen Pfenniges. – Damit machte der Küchenmeister sich auf gen Augsburg und erstattete Ulrich Bericht. – Sehr gut, sprach dieser; aber, mein Sohn, wie breit soll der güldne Pfennig sein? – Solches wußte der Bote nicht und mußte aber gen Rom fahren und dem Papst diese neue Frage vorlegen; war ihm ein schlechter Gefallen, gab auf der weiten Reise gar nicht so gute Bröcklein und Schlücklein als in des Herrn Bischofs Küche zu Augsburg. Da er nun zum Papste fragend kam, so sprach dieser: Ein Vaterunser, das ist wert eines güldnen Pfenniges, welcher so breit ist als die ganze Erde. – Freudig eilte der Bote nun wieder über die Alpen und sagte die Auskunft an, doch St. Ulrich sprach: Sehr gut, aber, mein Sohn, wie dick soll der güldne Pfennig sein? – Das wußte nun der gute Bote wiederum nicht, und da half kein Zittern für den Frost, er mußte zum dritten Male gen Rom wallen und verwünschte auf dem Wege alle alten Bettler und Hungerleider und Vaterunserbeter zu allen tausend Teufeln und gab keinem einen Deut, soviel ihrer in Welschland ihn auch antraten. Und nun gab der Papst diesen Bescheid: Ein Vaterunser, das ist wert eines güldnen Pfenniges, der so breit ist wie die Erde und so dick, so weit der Himmel von der Erde und die Erde von dem Himmel ist. – Da nun der Küchenmeister mit dieser Botschaft endlich heimkehrte, sprach St. Ulrich: Siehe, nun weißt du es, mein Sohn, wieviel ein Vaterunser wert ist, und magst selbst ausrechnen, wenn du kannst, wieviel Deute selbiges wohl wiegen wird. Jetzt gib von nun an dem Alten wieder Tag für Tag seine Mahlzeit, damit er für uns fernerhin seine heiligen drei Vaterunser beten möge. – Und es geschahe also.

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