Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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384. Das stille Volk zu Plesse

Tief unterm Boden des Burgberges der Plesse wohnt ein stilles Zwergenvolk, hülfreich und guttätig den Menschen, das sich unsichtbar zu machen vermag und durch jede verschlossene Türe, durch jede Mauer wandelt, so es ihm beliebt. Bei dem tiefen Felsbrunnen ist der Haupteingang in des stillen Volkes unterirdisches Reich. Wie die Herren Studenten zu Göttingen gar gern die Burgruinen der beiden Gleichen und die absonderlich schöne und anmutige der Plesse besuchen, so tat auch ein Göttinger Student im Jahre 1743. Er hatte ein Buch mitgebracht, und da er sich auf dem von lieblichen Schatten malerischer Bäume umspiegelten Burgplatz allein fand, legte er sich auf den Rasen und las. Ein süßer Geruch, wie von Waldmeister, Maienglöckchen und Flieder, schläferte ihn ein. Lange schlief er, bis ein Donnerschlag und strömender Regen ihn weckten. Dunkel war es um ihn her, nur Blitze beleuchteten mit fahlem Schein die verwitternden Trümmer. Der Student betete, denn damals pflegten die Studenten noch zu beten, jetzt werden's wohl nur noch wenige tun – da kam ein Licht auf ihn zu. Ein kleines altes Männchen mit eisgrauem Bart trug's und hieß jenen ihm folgen. Das Männlein führte den Jüngling zum Brunnen, in welchem ein Brettergerüst stand, darauf traten beide, und jetzt ging es wie auf der schönsten Versenkung eines Theaters sanft zur Tiefe bis auf den Wasserspiegel. Da wölbte sich eine Grotte, in der es trocken und reinlich war. Da sagte das Männlein: Es stehet dir nun frei, hier im Trocknen zu verharren, bis droben das Unwetter vorüber, oder mir in das Reich der Unterirdischen zu folgen. Der Student erklärte, letzteres wählen zu wollen, wenn keine Gefahr ihm drohe. Darüber beruhigte ihn das alte eisgraue Männlein, und so folgte er ihm gleich einem Führer durch einen gar niedern und engen Gang, der für das Männlein just hoch und weit genug war, aber für den Bruder Studio nichts weniger als bequem, so daß ihm ganz schlecht wurde. Endlich traten beide aus dem Gange und sahen vor sich eine weite Landschaft, durch die ein rauschender Bach floß, mit Dörfern aus lauter kleinen Häusern, wie die chinesischen, und ganz kunterbunt bemalt, wie die Wachtelhäuser. In das schönste dieser Häuschen traten sie ein, und darin war des eisgrauen Männleins werte Familie, welcher der Studiosus Theologiä aus Göttingen vorgestellt wurde. Hierauf grüßten ihn die Anwesenden mit einer stillen Verbeugung. Dann stellte das Männlein dem Studenten die werte Familie vor, seinen Vater, das war aber ein ganz schneefarbiger Greis, und ebenso seine Mutter, beide waren so alt, daß sie nur noch auf Stühlen sitzen, nicht mehr stehen und gehen konnten; dann seinen Großvater und seine Großmutter, die hatten beide kein Härlein mehr auf ihrem Kopf und kein Fleisch mehr auf ihren Knochen und konnten bloß liegen, dann des Männleins Frau, auch schon aus den Zwanzigen und etwa in den Sechzigen, und ihre Kindlein von dreißig bis vierzig Jährchen und die kleinen Enkelchen etwa von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Dann sprach der alte Großvater einige Worte des Grußes, der Gast aus der Oberwelt möge sich nur umsehen und ohne Furcht sein. Dann kam die jüngste Tochter, die war nur eines Schuhes hoch, doch dreizehn Jahre alt, und sagte: Es ist angerichtet. Das hörte der Student gern, daß die stillen Leutchen auch anrichteten. Und die Tafel war königlich, was die Geräte, Tafeltücher, von Asbest gewebt, Teller und Löffel von Gold, Messer und Gabeln von Silber und dergleichen betraf. Das Essen war und schmeckte gut, und was das Trinken anlangte, so dünkte dem Studenten, er trinke den köstlichsten Wein, die Zwerglein aber behaupteten, es sei nur Wasser. Nach Tische erzählte der uralte Vater dem Studenten viel von der Einrichtung des unterirdischen Reiches. Ihm und den Seinen, als geborenen Herrn desselben, gehorche alles willig und gern. Landstände habe das Land keine, und er als Regent halte auch keine Minister, die einen so teuer und so unnütz wie die andern. Es gebe in diesem stillen Reiche nur Friede, Zufriedenheit und Wohlwollen. Ein jeder tue ungeheißen seine Pflicht. Es gebe keine Zwiste, keine Kriege, keine sogenannte Politik. Man kenne hier unten keine Wühler als die Maulwürfe und Reitmäuse, und die stammten aus dem unterirdischen Reiche. Wie der Alte noch redete, erscholl ein Zeichen von einem stark geblasenen Horne: das Zeichen zum Gebet. Alles faltete die Hände und fiel auf die Kniee und betete still und leise. Der Abend brach an, und es kamen Lichte auf großen silbernen Armleuchtern, und man ging in ein anderes Zimmer. Alles, was er bis jetzt gesehen, gehört und wahrgenommen, reizte gar sehr die Wiß- und Neubegier des Studenten. Er dachte, es müsse nicht übel spekuliert sein, über diesen so wohlgeordneten Staat unter dem althessischen Boden eine Reisebeschreibung zu verfassen und herauszugeben, wie weiland Nils Klimm getan, zu Nutz und Frommen der Oberwelt, und wollte schon beginnen, sich Bemerkungen in seine Brieftasche zu machen. Aber das alte Männlein verhinderte ihn daran und sagte: Laß das! Ihr da oben lernt doch nicht, glücklich zu sein; ihr versteht das Befehlen so schlecht wie das Gehorchen. Ziehe hin und fürchte Gott, ehre den Herrscher und die Gesetze und scheue niemand! Der Studiosus fand es sonderbar, daß man die Gäste, die man erst eingeladen, gehen heiße, mußte sich aber fügen. Er empfing noch einige Gaben mit auf den Weg und fand sich unversehens wieder oberhalb des Brunnens auf der Plesse. Der Morgen war prächtig angebrochen, und der Burgwald erschallte von Vogelstimmen. Der Studiosus besah die Gaben und befand, daß es Gold und Edelsteine waren von hohem Wert. Er hatte, wenn er diesen Reichtum gut und vernünftig anwandte, genug für sein ganzes Leben.

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