Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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780. Der verlorene Schleier

Fast völlig gleichlautend mit der Schleiersage von der Gründung des berühmten Klosters Neuburg in Österreich barg sich deren Wiederholung in eine stille enge Talrinne der südlichen Rhöngebirgsabdachung. Darinne stand vormals ein Nonnenkloster, davon bis auf die Kirche jede Spur von der Zeit hinweggetilgt worden ist.

Eines Tages lustwandelten Herr Otto und Frau Beatrix, Graf und Gräfin von Henneberg, sie eine geborene Gräfin von Courtenay, Fürstin von Tiberias und Gräfin zu Edessa, die ihr Gemahl im Morgenlande sich erworben, auf ihrer Burg Botenlauben dicht über Kissingen. Da erhob sich ein starker Wind, welcher den Schleier der Gräfin von ihrem Haupte riß und denselben hoch in die Lüfte entführte. Da sie diesen Schleier hoch und wert hielt, so tat sie ein Gelübde, an der Stelle, wo er sich wiederfinden würde, ein Kloster zu erbauen, welchen frommen Vorsatz ihr Gemahl gern bestätigte. Es wurden nun talaufwärts, wohin der Schleier seinen Flug genommen, Boten ausgesandt, doch fanden diese den Schleier nicht, wohl aber fanden ihn nach drei Tagen einige Frauen in dem Tale, das von Burkardrode nach Waldaschach sich herabzieht, hängend auf einem blühenden Rosenstrauch. Als der Graf und die Gräfin davon Nachricht erhalten, begaben sie sich alsbald selbst an Ort und Stelle und legten bald darauf zu dem Kloster den Grund, das sie Unser Frauen Rod nannten, auf Latein: Novale sanctae Mariae. Beide Gatten begabten das Kloster sehr reichlich, und als sie nach einem gottseligen Leben starben, erst der Graf, dann später die Gräfin, sind beide im Kloster vor dem Altar begraben, und es sind ihnen steinerne Denkmäler errichtet worden, die noch heute in der Kirche zu sehen sind. Hierauf wurde ihr Sohn, auch Otto geheißen, welcher erst eine Dynastentochter des Geschlechts von Hiltenburg geheiratet, dann aber von ihr sich mit ihrer Bewilligung geschieden hatte, um sich ganz dem gottseligen Leben zu weihen, der Klosterfrauen zu Frauenrode Provisor.

Nachdem das Kloster, welches lange Zeit sich im besten Flor befand, und in dessen Kirche sogar mehrere Hennebergische Grafen, die es mit Schenkungen bedacht, sich begraben ließen, in Verfall geraten, ist es endlich bis auf die Kirche ganz von der Erde verschwunden. Die Gebeine der Gründer aber sind nachmals wieder ausgegraben worden und in zwei Glaskästen auf dem Altar aufgestellt, während ein dritter Glaskasten, zwischen beiden, den Schleier enthält, welcher zur Gründung des Klosters den ersten Anlaß gegeben.

Bei der alten Klosterstätte zu Frauenrode ist es der Sage nach nicht geheuer. Lodernde Feuer oder bläuliche Flämmchen werden in gewissen Nächten brennend auf dem Kirchhof oder in der Nähe der Klosterkirche erblickt, welche einen großen dort vergrabenen Schatz anzeigen. Nicht weit von der Kirche erhebt sich ein Hügel, auf welchem vor langen Zeiten erst eine Burg, dann ein Teil des Klostergebäudes gestanden. Von dort führt ein bedeckter Gang nach der Kirche, über welchen die Nonnen schritten, wenn sie auf dem Chor sich versammelten, die Horas zu singen. Man sieht noch überm Portal die vermauerte Öffnung. Alljährlich in gewissen heiligen Nächten erblickt man diesen Gang durch die Luft und den Zug gespenstiger Nonnen und sieht die Kirche erleuchtet, doch ist es nicht gut, lange hinzusehen, noch viel weniger, die Kirche dann zu betreten, denn in dieser halten die Geister Mette, und es knieen vor dem Altar die Gestalten des Stifters und der Stifterin und hinter ihnen alle, die in der Kirche begraben wurden; von dem Haupte Beatricens weht der weiße Schleier, und auf Ottos Haupte rauschen die Blätter eines welken Kranzes geisterhaft im Hauche der Nacht. Nach der Mette ziehen die Nonnen alle still zurück und schwinden in Nebel, wie sie dem Hügel sich nähern.

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