Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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Vorwort

Et prodesse volunt et delectare poetae

Dem deutschen Volke übergebe ich dieses mit voller Liebe geschriebene Buch als ein treues Vermächtnis, dem deutschen Volke, und zumal seiner reiferen Jugend. Möge des Buches Inhalt nützen und erfreuen, anregen und beleben, für das Heimische Neigung wecken und wach erhalten helfen!

Die Sage ist eine fromme Erhalterin und Nährerin der Heimat- und Vaterlandsliebe, ein ureigenstes Gut des Volkes; sie treu zu pflegen ist den zu solcher Pflege Berufenen eine heilige Pflicht. Es kann zwar nicht fehlen, daß auch die Sage, wie alles Gute und Schöne, ihre Widersacher, Verspotter und Verächter hat, es hat sich aber alle Verhöhnung und Nichtanerkennung tiefgewurzelter Eigentümlichkeiten einer Nation stets als haltlos und bestandlos erwiesen.

Eine reichhaltige Sammlung deutscher Sagen wird hier dargeboten, wie noch keine gleiche vorhanden, eine vollständige nicht. Ein vollständiges deutsches Sagenbuch ist so wenig herzustellen als ein einiges deutsches Reich; aber wer nicht das Unmögliche will, kann bei gutem Wollen, bei Geschick und Ausdauer viel Nützliches schaffen und Ersprießliches zu Tage fördern. Ich mußte mich bei dem vorliegenden Buche, je mehr die Sagenfülle quoll und zuströmte, um so mehr beschränken. Im Hinblick auf die vorhandene Anzahl deutscher Sagen und die Zahl der hier aufgenommenen könnte ich sagen, daß ich nur einen Zweig des deutschen Sagenbaumes abgeerntet, wenn nicht jeder Vergleich hinkte.

Die erwähnte überreich zuquellende Sagenfülle nötigte denn auch, so ungern es geschah, auf den großen Sagenreichtum des österreichischen Kaiserstaates vorläufig zu verzichten. Da ich aber bereits in früheren Jahren schon zu einem österreichischen Sagenschatz, dessen Erscheinen indes ungünstige Verhältnisse bald einstellten, zahlreiches Material gesammelt habe, so bleibt vorbehalten, mit einer Österreich umfassenden Sammlung hervorzutreten, sobald der Erfolg der vorliegenden dazu ermutigt.

Es sei vergönnt, über das Sagensammeln hier ein Wort zu sagen; leider gibt sich an dieses gar manche unberufene Hand, die jener Hand von Ährenlesern gleicht, welche aus den Garben rauft, die zu Mandeln gehäuft noch auf dem Acker stehen, und da erntet, wo sie nicht gesäet hat. – Wir alle, die wir dieses Gebiet anbauen, können nicht der Schriftquellen, nicht der Bücher entraten, aber die Quellenangabe beschönigt und rechtfertigt noch keineswegs den offenbaren Nachdruck, der von vielen literarischen Langfingerern behufs sogenannter Auswahlen und Mustersammlungen ausgeübt wird, die sorglos und mühelos anderer Fleiß und Talent und ihrer Verleger Kosten ausbeuten. Der Sagensammler muß sich neben seinen Schriftquellen doch auch durch Gebirg und Wald und Flachland selbst in etwas bemüht, irgend einige Sagenblüten gefunden, einige schöne Steine zum großen deutschen Sagentempelbau selbst herbeigetragen haben, irgend etwas von ihm Neugefundenes vorzeigen, sonst ist er ein Tropf und nicht ebenbürtig, mitzuringen auf dieser olympischen Arena. –

Auf mein eignes Leben warf schon frühzeitig der Sage süßer wunderbarer Reiz seine Morgenstrahlen. Als Jüngling wanderte ich in einem sagenreichen Gau Thüringens umher und freute mich am Duft der schönen Wunderblume Poesie. Ilm und Gera, die Fluren von Arnstadt und Erfurt, der Drei Gleichen nachbarliche Burgen und sagendurchklungene Haine boten in Fülle ihren Stoff, doch lange nachher lernte ich der Sagen Geheimnis, ihren ganzen Zauber, erst recht erkennen, und lernte daran niemals aus. Ich sammelte anfangs mehr ins Gemüt als in Bücher, versuchte nur schüchtern, die Sage in poetisches Gewand zu kleiden, und stand später davon ab, als ich durchfühlen lernte, daß der Dichter ihr nur selten wohl tut, wenn er bemüht ist, sie zu schmücken, obschon er dies letztere zu tun vollberechtigt ist. In den Sagensammlungen der Länder Thüringen und Franken, welche zwar Beifall, aber bis jetzt noch nicht die längst vorbereiteten Fortsetzungen fanden, betrat ich den von den Brüdern Grimm vorgezeichneten Weg schlichter einfacher Darstellung und Wiedergabe, sowohl des Chronikenstoffes als jenes dem Volksmund selbst entnommenen. Ich bin den Sagen viel und lange nachgegangen und nachgezogen; im Thüringerwalde kenne ich so ziemlich jeden Weg und Steg; ich überwanderte Harz und Riesengebirge, Rhön und Spessart; ich stand auf dem Aachener, auf dem Kölner Dom und auf dem Straßburger Münster; des Neckars, des Lech, des Rhein- und Mainstromes wie der Donau Wellen hab' ich fließen sehen. Ich hörte den Bach der Reismühle rauschen, der von Karl des Großen Geburt erzählt, und umwandelte des Untersbergs und des Watzmann sagenreiche Hochgipfel. Vielleicht sieht mancher diesem Buche die Quelle eigner Wahrnehmung an, die am Ende noch mehr wert ist als die Quelle trockner Schriftüberlieferung. Letztere nun bei jeder Sage anzuführen, erschien mir für meinen Zweck dieses Mal nicht nötig; wer die Quellen für den wissenschaftlichen Zweck braucht und sucht, findet sie bereits in Grimms und vielen andern Sammlungen, und da, wo ich Selbstgefundenes mitgeteilt, jedesmal durch ein »mündlich« den Leser mit der Nase darauf zu stoßen, daß er meinem Findeglück diese Sage verdanke, dürfte wohl allzu eitel erscheinen. –

Bei dem Umfange, der dieser Sammlung zugedacht wurde, und der sich noch während des Drucks über das anfangs gesetzte Ziel erweiterte, galt es zunächst, sich klar zu werden über Anlage und Gliederung, und nach reiflichem Überlegen, ob chronologisch nach Mythe und Geschichte, ob nach Ländern oder Stromgebieten, nach Gebirgszügen usw. die Sammlung anzulegen sei – wurde sich für die Form einer idealen Sagen-Wanderung entschieden, die keinen Schlagbaum und keine politische Grenze kennt, keine Paßkarte braucht, nötigenfalls gleich Eppela von Gailing einen tüchtigen Sprung nicht scheut und von einem Völkergebiet in das andere schreitet, das jedem dieser Gebiete hauptsächlichst Eigene vor Augen bringt.

Enge Landesgrenzen beachtete ich, wie der Leser sieht, auf dieser Wanderung keinesweges. Die Sage ist patriotischer wie die Politik; sie gibt nichts her von Deutschland, sie läßt von ihrem heimischen Gebiet nicht rupfen und zupfen im Süden, Westen, Norden und Osten; sie behauptet und verteidigt, was einmal deutsch ist, und hält es eisern fest.

Die Wanderung beginnt am Ursprung des Rheins, folgt des letzteren Strömung durch das Schweizerland, streift in das Elsaß, berührt die Pfalz, die Wetterau, das Moselland, Lothringen und Luxemburg; steigt zum Niederrhein und Niederland hinab bis Friesland, grüßt Helgoland und das alte Dithmarschen, durchgeht Schleswig und Holstein, Mecklenburg und Pommern, West- und Ostpreußen mit ihren Ostsee- und Bernsteinküsten, und dann läßt sich der Wanderer auf den Flügeln der Kobolde von der russischen Grenze schnell hinweg in das Lüneburger Land tragen.

Auf Westfalens roter Erde durchschreitet und durchkreuzt er ein sagenreiches Gebiet, bis er abermals den Schritt ostwärts lenkt, um die Marken zu durchirren. Von da zieht es ihn wieder zurück nach dem westfälisch-hessischen Boden, nach des Harzwalds Bergen und Burgen, nach des Kyffhäusers Gipfel. Dann aber lenkt sich der Schritt in das Thüringerland, der Blick in Thüringens sagenreiche Frühzeit, auf seine gefeiten Hochgipfel, seine von Sagenwundern durchrauschten Wälder, seine Klostertrümmer und Geisterschlösser. Das nachbarliche Vogtland erschließt seine Welt voll mythischen Zaubers, und Gera, Ilm und Saale führen zu dem thüringischen Flachland, das an Sachsen angrenzt. Die sächsischen Ebenen gewähren ihre Ausbeute, welche, sobald erstere verlassen werden, das Erzgebirge wie das Riesengebirge in noch reicherer Mannigfaltigkeit erschließen.

Bis in des deutschen Böhmens Herz, die uralte Praga, erstreckt sich die Wanderung und wendet dann, um, vom Fichtelgebirge niedersteigend, fränkischem Boden zu nahen, dem Laufe der Werra durch heimisches Gebiet bis wiederum auf hessisches zu folgen, vom Hessenlande aus das Rhöngebirge zu besteigen und von diesem herab Mainstrom und Spessartwald ab und auf zu befahren. Von Bamberg nach Nürnberg läßt sich schnell gelangen, im Fluge ist Regensburg erreicht, zu dessen östlichem Stromgelände der Böhmerwald sich niedersenkt. Durch des Bayerlandes Gauen mitten hindurch geht es stracks nach Schwaben und durch Schwaben noch einmal westlich bis zur Pfalz und nach Baden, wo die letzte Umkehr genommen wird, um durch Südschwaben und Südbayern nach den Ufern des Lech und der Isar zu gelangen, von da zum Hochland emporzusteigen und vom südlichsten Endpunkt, wie beim Beginn auf Alpenhöhen, in die steinernen Meereswogen Österreichs hinüber zu grüßen: Auf Wiedersehen! –

Auf dieser Wanderung nahm ich gern gründliche und gediegene Sagensammler zu freundlichen Geleitsmännern, deren Namen ich nur zu nennen brauche, um der Aufzählung von Büchertiteln überhoben zu sein. Voran stehen mit vollem Recht die Brüder J. und W. Grimm; es folgen K. Simrock und A. Stöber für Rhein und Elsaß, J. W. Wolf für die Niederlande, K. Müllenhoff für Schleswig-Holstein und Lauenburg, J. W. A. v. Tettau und J. D. H. Temme für Ost- und Westpreußen und Litauen, J. D. H. Temme und A. Kuhn auch für die Marken. Wo ich selbst am besten Bescheid wußte, bedurft' ich keiner Führer. Für Baden sorgte treulichst B. Baader, für Schwaben G. Schwab, und nach ihm E. Meyer, für Bayern A. Schöppner, letzterer nur mit zu vielem Ballast von Balladen und Romanzen, die an ihrem Ort wohl erfreuen mögen, und auch in ausschließlich metrischen Sammlungen, wie die allgemeindeutschen A. Nothnagels, H. Günthers, A. Kaufmanns für Franken u. a. gut beisammen stehen, aber in Sagensammlungen wie die vorliegende nicht gehören. Daß neben den genannten noch viele andere Werke benutzt werden mußten, Provinzsagensammlungen, Chroniken, Topographien u. dgl., versteht sich von selbst. Auch dem vogtländischen altertumsforschenden Vereine zu Hohenleuben verdanke ich schätzbare Beiträge.

Keinen einzigen Gewährsmann habe ich geradezu abgeschrieben, weder die neuen, noch die alten, denn das erachte ich für eine gar geringe Kunst. Kinderleicht ist es, ein Buch zu füllen, wenn man wörtlich abdrucken läßt, was andere bereits drucken ließen. Nur wo ich Sagen in Dialekten in das Hochdeutsche zu übertragen hatte, übertrug ich meistens treu, um ihre Spitzen nicht abzustumpfen; außerdem habe ich jede Sage zu meinem Eigentum gemacht und sie nach meiner Eigentümlichkeit wieder neu erzählt; nur aus eignen, früher von mir selbst veröffentlichten Sagensammlungen nahm ich einzelne wörtlich wieder auf, und auch diese nicht ohne Feile.

Ob ich den rechten Ton traf, wird sich zeigen. Einfachheit im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben der Sagen unerläßliche Bedingnis; keine novellistische, romanhafte Verwässerung, keine blümelnde Schreibweise steht der Behandlung der Sagen an, wo diese Selbstzweck ist – wohl aber darf der Erzählungston wechseln je nach dem Stoff, ja selbst nach der Zeit, der dieser Stoff angehört; er darf streng, herb und derb, romantisch, lustig, kernhaft, nicht minder idyllisch, rührend und erschütternd sein. Der Sagenerzähler muß wissen, welche Tonart er anzuschlagen habe; eine nach vorgefaßter Meinung bestimmte von ihm zu fordern, dazu ist keine Berechtigung vorhanden. Über einen Leisten läßt sich nicht alles schlagen. Die Sagen können so wenig eines Schriftstiles sein wie Häuser und Kirchen eines Baustiles. Das Einerlei ermüdet, und leicht wird ein frischer Geist des trockenen Tones satt. Viele Sagen sind so durch und durch voll Humor, daß ernste Erzählungsweise sie töten hieße – darum ward zum öftern die heitere vorgezogen.

Metrisch bearbeitete Sagen in Prosa aufzulösen trug ich die größte Scheu und habe es nur einigemal getan; einmal beim alten Tannhäuserlied, dann bei Nr. 81, Der wilde Jäger, nach Bürgers Gedicht, weil dessen Ursprung ausschließlich in der bezeichneten Gegend zu suchen ist, bei Nr. 174, Die Schlacht auf dem Tausendteufelsdamme, nach einem Gedicht von Th. Fontane, und endlich bei Nr. 966, Eines Vaterunsers Wert, nach einem Gedicht von Th. Holscher (bei Schöppner), weil mir beide letztere Stoffe ausnehmend wohl gefielen, und namentlich auch die poetische Behandlung.

Manche Sage, die ich allzudürftig auffand, konnte ich erweitern, aus Kenntnis ihrer Örtlichkeit oder aus andern schriftlichen und mündlichen Quellen, manche andere mußte ich kürzen und auf das rechte Maß zurückführen.

Viele Sammlungen, ich will nur K. Geibels Rheinsagen und Lübecks Volkssagen von H. Asmus nennen, waren wenig zu benutzen, weil das meiste darin zu eigenmächtig ausgeschmückt, fast novellistisch erweitert ist. Vornehmlich galt es auch, die spät erst gemachte Sage links liegen zu lassen, welche die Reisehandbücher, besonders die den Rhein betreffenden, so häufig bieten.

Außerdem fand ich noch mancherlei Beschränkung geboten. Die zahlreichen Sagen von geraubten Hostien, geschlachteten Christenkindern und dergleichen durch Juden habe ich mit Absicht nicht aufgenommen. Wenn sie auch nicht alten Haß nähren helfen, so verletzen sie doch und widerstreiten so gleichsehr dem christlichen wie dem ethischen Prinzip.

Dieses Sagenbuch soll im besten Sinne ein Volksbuch sein und werden, daher ist die Fassung keine altdeutsch-mythologisch-gelehrte, um so mehr ist dennoch auf das hochwichtige mythologische Element in den deutschen Volkssagen mit allem Fleiße Rücksicht genommen worden, wie es noch im Bewußtsein des Volkes lebendig ist. Was aber dem deutschen Volksbewußtsein in der Gegenwart, ja selbst dem deutschen Lande allzufern liegt, wie die Stammsagen von Ost- und Westgoten, Vandalen, Hunnen, Longobarden, Herulern, Gepiden usw., das habe ich hier unberücksichtigt gelassen.

Sparsam war ich mit Absicht in Aufnahme mythischer Heldensage, die in alt- und mittelhochdeutschen Gedichten gefeiert wird; auch sie ist noch immer nicht klar in das Volksbewußtsein getreten, die Literatur und die Schuldoktrin haben sie noch nicht mit dem Leben der Gegenwart vermittelt, und besonders zeigt letztere zu solcher Vermittelung noch keine rechte Neigung. Ebenso sparsam war ich in Aufnahme der Heiligensage (Legende) und endlich in der Gespenster- und Hexensage, die sich allenden wiederholt. Die letztere namentlich hat J. W. Wolf in seinen Niederländischen Sagen mit wahrer Vorliebe behandelt. Trefflich ist auch dessen Sammlung deutscher Märchen und Sagen, Leipzig 1845, insonderheit für Niederdeutschland. In gleicher Weise sammelte E. Meyer für Schwaben auf das fleißigste und dankwerteste, und es konnte seine Sammlung vorzugsweise für das mythologische Gebiet in Schwaben der meinigen zur Benutzung dienen.

Wenn bei einigen Stoffen das Gebiet der Sage fast verlassen wurde, so geschah dies einesteils, um auch die Übergänge anzudeuten, wo Märchen und Sage sich begegnen und geschwisterlich umschlingen, so bei Nr. 333, Die Spinnerin im Mond, bei Nr. 385, Die Zwergensage, mit der auch im Kindermärchen vorkommenden Namensauskundschaftung, und bei einigen andern, wo die märchenhafte Färbung vorwaltet, andernteils aus andern bestimmten Gründen. So war bei Nr. 470, Das Mysterium, daran gelegen, doch endlich einmal dies fernliegende dramatische Rätsel, diese großartigste deutsche Opera seria alter Zeit, über welche die Literatur der Schauspielkunst bis heute noch nichts Rechtes beizubringen wußte und die Mitteilungen der thüringischen Chroniken so äußerst dürftig beschaffen sind, dem Auge etwas näher zu rücken, um zu zeigen, wie dieses Mysterium denn eigentlich beschaffen war, und damit neben der Sagenkunde der Sittenkunde zu nützen, denn beide müßten eigentlich stets Hand in Hand gehen. Ob diese, wie ich fest glaube, auf thüringischem Boden, wohin die fehlerhafte dialektische Schreibart deutet, geborene Mysterie älter oder jünger wie die, mit deren Bruchstücken Karl Ludwig Kannegießer seine Gedichte der Troubadours, Tübingen 1852, eröffnet, ist hier nicht der Ort zu untersuchen. Mone erwähnt ihrer in seinen altdeutschen und mittelalterlichen Schauspielen nicht. Dieses ernste Singspiel war voll dramatischen Lebens, voll Pomp und Herrlichkeit, voll Leidenschaft, voll erschütternder Wirkung, voll plastisch-mimischer Bildergruppen und ganz gewiß wunderbar schön, wenn auch ohne Virtuosentriller, ohne Ballett und ohne Tamtam.

Wie im allgemeinen zu vermeiden ist, allzu Fremdländisches in heimische Kreise zu ziehen, so ist auch zu vermeiden, das Heimische zu verwirren und nicht Zusammengehörendes zu verschmelzen. So hat in unsern Zeiten die Poesie mit ihrer berechtigten Freiheit den Tannhäuser mit dem Wartburgkrieg in Verbindung gebracht, in Gedichten, in Dramen, in der Oper. Die Sage wie auch die Chroniken kennen diese Verbindung nicht, so wenig wie die Geschichte der Poesie sie kennt. Der Wartburgkrieg und die Tannhäusersage liegen geschichtlich ziemlich weit auseinander.

Die erwähnte berechtigte Freiheit der Poesie aber darf sich die letztere dennoch von keinem nehmen oder verkümmern lassen; ihr muß es freistehen und wird es ewig freistehen, Sagenstoffe zu erfassen, zu schmücken, zu verherrlichen, nur darf von dem, der solches tut, gefordert werden, daß er dazu berufen sei. Mir erscheint in dieser Beziehung die Sage wie ein alter gleichzeitig kolorierter Holzschnitt auf Pergament oder ein Miniaturbild. Der Unberufene, der solche Bilder zu verschönern gedenkt, wird mit breitem Pinsel des Bildes edle Züge und Farben verwaschen, der Berufene wird mit seinem Pinsel dunklere Stellen mit leichtem, dauerbarem Golde höhen. Da jede Sage mehr Dichtung als Wahrheit ist, so haben die Dichter eigentlich an sie mehr Anrecht als die Forscher und die Wissenschaft, denn die Poesie gleicht dem Sternenhimmel über der dunkeln Erde. –

In Berücksichtigung der vielen Sagen innewohnenden Volkstümlichkeit wurde auch mit Vorliebe der Spott- und Neckelust, der Lalenstreiche und veralteter, nun wohl meist abgekommener volkstümlicher Rechtsbräuche in Schimpf und Ernst gedacht – wie die Nrn. 61, 190, 341, 646, 716, 739, 771, 773, 802, 810, 830, 835, 870, 871, 874, 947-951 dartun, und wurde selbst manches der Sprache abhanden gekommene echt deutsche Wort wieder in sein Recht eingesetzt, auch überhaupt manche Hindeutung, mancher Fingerzeig gegeben, der einem und dem andern vielleicht nicht unwillkommen sein wird.

Ferner wurde mit gutem Grunde Rücksicht auf die Verwandtschaft der Sagen untereinander durch einfache Hinweisung genommen. Hierin bleibt der Sagenforschung noch eine wichtige Aufgabe; die Verwandtschaft der Sagen geht häufig bis zur Zwillingsschwesterschaft; es sei nur an die Gangolfsbrunnen in Burgund und in Franken erinnert, Sagen Nr. 139 und 768, an die Doppelehe in Preußen und in Thüringen, Nr. 338 und 598, an die Kinderzüge, -tänze und -andachten Nr. 588, 647, 879, wie an die Kinderhinwegführung durch den Rattenpfeifer von Hameln, Nr. 294, und den Teufelsgeiger im Brauschtal, welche letztere Sage August Stöber in seinen Sagen des Elsasses, St. Gallen 1852, unter Nr. 160 mitteilt, so auch an die drei Auflagen Nr. 280 und 754.

Es bedarf kaum noch der Erwähnung, daß die Sagenkunde jetzt bereits so gut auf den Standpunkt einer Wissenschaft gehoben ist als jede andere Hilfswissenschaft der Geschichte, als Denkmal-, Wappen-, Siegelkunde usw., und dabei ist sie eine ungleich lebendigere, denn sie nimmt nicht nur vom toten Stein, Schild und Wachs, sondern auch vom immerlebenden Mund des Volks ihre Zeugnisse. Aber leider entzieht die moderne Aufklärsucht mehr und mehr dem Volke seine Wunderblumen, jätet seine Poesie aus mit Stumpf und Stiel und reicht ihm dafür unter dem Namen des Apfels vom Baume der Erkenntnis den aschevollen Sodomsapfel sogenannter politischer Reife und den beißenden Rettich der Verhöhnung alles Gemütvollen, Edlen und Schönen, allen Glaubens und aller Treue. Darüber ließe noch vieles sich anführen und sagen, doch müßte ich nur das mannigfache Gute, was über Sagenforschung und dahin Einschlagendes in den Einleitungen der Grimmschen, der Wolfschen, der Müllenhoffschen, der Tettau-Temmeschen, der E. Meyerschen und andern Sammlungen gesagt ist, wiederholen. Auch A. Schöppner entwickelt in der Einleitung zu seinem Sagenbuch der bayrischen Lande viel Wahres und Beherzigenswertes über diesen Punkt.

Möge die neu erwachte Pflege der deutschen Sagenblumen in strengwissenschaftlicher wie in schönwissenschaftlicher Beziehung, in ihrer Echtheit und geschmückten, ungeschminkten Einfachheit mehr und mehr Freunde finden und Boden gewinnen! Sie verdient es, und sie lohnt es durch geistigen Genuß. Welchen Bilderreichtum bietet sie nicht dem Dichter, dem zeichnenden wie dem plastischen Künstler dar, welch eine reiche Stoffülle! Ja, die deutsche Sage bleibt ein fort und fort frischquellender Goldborn für Poesie und Kunst, und – was noch höher zu achten, sie bleibt trotz allem Hohnlächeln der Neugescheiten, allem Gegenbemühen, allem Abschleifen und Verflachen und trotz der verkehrten Aufklärungssüchtelei der seminaristischen Afterschulbildung wie der konsistorialen und polizeilichen Bevormundung eine frischlebendige, unverwüstliche, sittliche und sittigende Volkskraft.

Meiningen, am 24. November 1852.

Ludwig Bechstein.

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