Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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72. Blutlinde

In der Nähe Wiesbadens steht bei der Burgtrümmer Frauenstein eine riesige Linde, von der die Sage geht, daß einst an ihrer Stelle sich gar Trauriges ereignet habe. Ein Fräulein aus dem Geschlechte der Frauensteiner liebte einen ihr nicht ebenbürtigen Jüngling und sah ihn oft, indem sie abends noch außerhalb der Burgfeste lustwandelte, an einem traulich schattigen Plätzchen nahe der Burgmauer, wohin ein sonst stets verschlossenes Pförtchen führte, zu welchem sie allein den Schlüssel bei sich trug. Endlich nahm ihr harter und stolzer Vater diese Zusammenkünfte wahr, zürnte heftig, überraschte die Liebenden und erschlug den Geliebten mit eigener Hand. Da brach die Tochter jammernd einen jungen Lindenschoß, steckte ihn durch das rinnende Blut ihres Geliebten in den Boden, sprach zu ihrem Vater nie wieder ein Wort und ging in das nächste Kloster. Täglich weinte sie um ihren erschlagenen Geliebten, der Lindenschoß aber schlug Wurzeln und trieb und ward ein Baum, und solange die trauernde Liebende lebte und weinte, so lange floß Blut aus des Lindenbaumes Gezweig, so jemand ein Blatt oder einen Ast abriß. Das tat aber bald niemand mehr, denn die Menschen scheuten sich, und so erwuchs die Blutlinde zu mächtiger Höhe und Dicke, und können den Baum jetzt kaum vier Mann umklaftern.

Nahebei liegt ein uralt Gehöft, der Graroder Hof, von dem eine verwandte Sage geht. Ein junger Grafensohn des Lahngaues liebte ein seinem Geschlecht nicht ebenbürtiges Mädchen, deshalb stieß ihn sein Vater im Zorne von sich, daß er nie wieder vor sein Angesicht kommen solle. Das tat denn auch der junge Ritter, er ging und folgte dem Zuge seines Herzens und seiner Neigung. Aber um den alten Grafen her begann ein Sterben – sein Weib starb, seine Töchter starben, dann die vielen blühenden Söhne allzumal, einer nach dem andern; zuletzt hatte er nur noch einen – und auch dieser eine starb. Völlig vereinsamt, völlig kinderlos war der Greis, da gedachte er mit Schmerz seines verstoßenen Sohnes, wenn doch der noch lebte und bei ihm wäre, er wolle ihn gern nicht mehr um seiner Liebe willen verstoßen. Und ob er wohl noch lebte? – Da machte der alte Graf sich auf, den Sohn zu suchen, und suchte ihn ab und zu am Rheinstrom und in den Flußtälern, die in diesen münden, und in den Seitentälern und auf den Bergen. Da kam er einst ermüdet an ein kleines Winzergehöft, und da traf er ein Winzerpaar, Mann und Frau und wohl auch Kinder, und sah, wie diese Leute ringsum den Felsboden gerodet hatten und hatten Reben gepflanzt und gewannen ihr Brot, das sie mit ihm teilten, denn er war hungrig, und das junge Weib bot ihm Trauben aus irdener Schüssel, und der Mann trat dazu, auf der Schulter den blinkenden Karst, blinkend von stetem, fleißigem Gebrauche. Da erkannte der alte Graf mit einem Male seinen Sohn in dem Häcker und fiel ihm um den Hals und weinte und segnete. Darauf hat der Ritter über sein Weinberggehöft sich eine Burg gebaut und sie mit den Seinen bezogen, denn er wollte nicht mehr hinweg von dem Stück Erde, das er mit seinem Weibe gerodet und bebaut hatte. Das nannte man hernach den Grafenroder oder kurzweg Graroder Hof, weil ein Graf es gerodet hatte. Der alte Graf lebte noch lange Jahre glücklich bei seinen Kindern und Enkeln, und der junge Graf nahm zum Helmkleinod einen bärtigen Mann im schwarzen kurzen Rock, auf der Schulter eine silberne Rodhaue tragend, zum Andenken, daß er selbst mit seiner Geliebten den Boden gerodet habe. In der alten Kirche zu Schierstein am Rhein sind noch Grabmäler des Geschlechts zu sehen.

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