Ludwig Bechstein
Deutsches Sagenbuch
Ludwig Bechstein

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344. Die wüsten Türme

Sowohl die Domkirche als die Marienkirche zu Stendal haben jede zwei schöne Türme, doch dient stets nur einer davon als Glockenturm, und der andere, der keine Glocken trägt, wird der wüste Turm genannt. Die Sage geht, daß beide wüsten Türme durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden seien, der unter dem Domhof, der Hallstraße und dem Markt hinstreiche, und die Hallstraße soll absonderlich ihren Namen daher haben, daß es unter ihr hallt und hohl klingt. Lange Zeit aber ward dieser Gang für ungangbar gehalten, und man wußte nicht mit Gewißheit, ob dem also sei, daß er von einem wüsten Turme zum andern führe. Da erwachte die Neigung, der Sache und Sage auf den Grund zu kommen. Ein Missetäter, der auf den Tod gefangen saß, sollte den Gang beschreiten und, wenn er dies glückhaft vollende, nicht zu Stendal gehangen werden, sondern ein Stück Geld bekommen, sich dafür anderswo hängen zu lassen, wo es ihm selbstbeliebig sei. Man hing ihm ein Grubenlicht an die Mütze und eine Trommel um, ließ ihn vom wüsten Turm des Domes in den Gang steigen und befahl ihm, zu trommeln, damit man ohngefähr höre, wo er stecke. Dies geschah pünktlich, man vernahm den dumpfen Trommelschall unter der Erde ganz gut längs des ganzen Domhofes und in der Hallstraße – aber mitten in derselben hörte die Trommel mit einem Male auf – alle war's. Niemals kam der Trommler wieder zum Vorschein, und niemand wagte, ihm nachzugehen. Nur die Geister der alten Chor- und Stiftsherren, vielleicht auch regulierter Chorfrauen wandeln von einem der wüsten Türme zum andern, und sie werden es ohne Zweifel gewesen sein, die dem Eindringling in ihr geheimnisvolles Reich den Weg plötzlich abschnitten.

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