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Das erste jener Flüßchen ist die Selz, die schon bei Alzey Mühlen trieb und unterhalb Ingelheims in den Rhein fällt. Auf dem Stein zu Alzey (s. oben), der alten Hauptstadt der Pfalz auf dieser Seite des Rheins, verlieh der Pfalzgraf nach dem schon erwähnten alten Alzeyer Weistum fünfzehn Grafschaften: »Bergen, Kleve, Sayn, Wied, Virneburg, Nassau, Katzenellenbogen, Sponheim, Veldenz, Leiningen, Zweibrücken, Rheingrafen, Wildgrafen, Raugrafen, Falkenstein halb.« Die meisten derselben werden wir bald näher besprechen. Von Essenheim abwärts bildet die Selz den Ingelheimer Grund, eine überaus fruchtbare Landschaft, welche unsere Kaiser mit vielen Privilegien und dem Titel »des Heiligen Römischen Reichs Tal« begnadigten. Zuletzt kam sie an die Pfalz und gehörte zu deren Oberamt Oppenheim. Die Seitentäler ziehen sich rechts nach Mainz, links nach Kreuznach hin. Über Ingelheim wenden sich die Kalkhügel des Gaus, welche bisher das Rheintal begleitete, allmählich dem Nahetal zu. Zwischen ihnen und dem Rochusberg, der noch dem Rheinischen Schiefergebirge angehört und gewiß ursprünglich mit dem Hunsrück zusammenhing, liegt ein reiches, beiden Flüssen gemeinsames Tal, durch welche der Rhein ehemals die Wasser der Nahe aufnahm. Der Hügel über Ingelheim, da, wo die Selz die Kalkhügel durchbricht und ins Rheintal tritt, ist durch eine herrliche Aussicht berühmt; wir geben indes der Finthener Höhe, auf der Landstraße von Ingelheim nach Mainz, den Vorzug. Die Stelle bezeichnet ein Obelisk mit der Inschrift:
Straße Karls des Großen
Vollendet im 1. Jahre der Regierung Napoleons,
Kaiser der Franzosen
Hier und nirgends anders gewinnt man, wie schon angedeutet, den vollkommensten Überblick über den Rheingau. Das Bild hebt sich allmählich vom Anmutigen zum Schönen, Ernsten und Großen. Anmutig nennen wir die im Strom gespiegelten Gärten und Lusthäuser der Rheinflecken; schön das rebengegürtete, mit blinkenden Ortschaften besäte, waldgekrönte Gebirge mit seinen Vorsprüngen und auslaufenden Halden; ernst und groß seine Rabenköpfe und den gewaltsamen Torschluß des Rheingaus. Weil aber jede Beschreibung lahmt, wenden wir uns zu Karl dem Großen, der wohl wußte – das empfinden wir nun –, warum er Ingelheim zu seinem Lieblingsaufenthalt wählte. Angenehm überrascht uns auch hier wieder der Schönheitssinn, der schon vor tausend Jahren unsere Altvorderen leitete. Nur zu oft verschreien die Bewunderer des Rheingaus das jenseitige Uferland als kahl und öde, weil sie nicht wissen, welche Reize es von drüben erborgt hat. Außer der Finthener Höhe könnte sie die bei Blödigheim, die Gonsenheimer Einsiedelei oder der Turm auf dem Lendenberg, dem Waldrücken jenseits Niederwalluf, bekehren. Was von Karl des Großen hundertsäuligem Palast übrig ist, hat Goethe, nebst dem Weg dahin von Freiweinheim aus, erschöpfend beschrieben. Uns bleibt nichts, als auf das benachbarte Algesheim aufmerksam zu machen, dessen ältester Name urkundlich Alegastesheim lautet: ein historisches Zeugnis für das frühe Dasein einer Mythe. Alegast ist aus Elbegast entstellt: so nennt die deutsche Heldensage den »schlauen, berüchtigten Dieb«, den Bruder Elberichs. Das mittelniederländische Gedicht von »Karl und Elegast«, das bei Ingelheim spielt, hat ihn in die fränkische Sage aufgenommen und mit Karl dem Großen in Verbindung gebracht, in dessen Fabelkreis er ursprünglich nicht gehört. Ich muß deshalb auf meine »Rheinsagen« verweisen, wo ich diese sonderbare Dichtung nach der älteren lateinischen Aufzeichnung behandelt habe.
Hier nur die ersten Strophen:
Eines Abends, da der Kaiser schlief
Auf seiner neuen Pfalz am Rhein,
Da weckt' ein Engel ihn und rief:
»Auf, Kaiser Karl, ein Dieb zu sein!
Auf, Karl, und stiehl, es ist Gottes Gebot,
Auf, großer Kaiser, werde zum Dieb,
Und stiehlst du nicht, es ist dein Tod,
Geschwinde stiehl, wenn das Leben dir lieb.«
Und die Schlußzeilen:
Von dem Engel, der ihm zu stehlen gebot,
Hieß Karl die Pfalz nun Ingelheim.