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Über dem Johannisgrund öffnet sich links das mühlenreiche Wiesental des Klingelbachs, dessen einsame Schönheit um so tiefer empfunden wird. An seinem engen Schluß, neben einem Pächterhaus, liegen, in dichtes Laub versteckt, von tausend Nachtigallen umsungen, die Ruinen einer ehemaligen Kloster- und Wallfahrtskirche.
Das Dach ist eingestürzt, aber noch stehen die hohen Giebel- und Seitenwände. Das Portal mit der eingemeißelten Jahreszahl 1326 zeigt in zwei Feldern Figuren sehr alten Stils. In dem oberen Gott Vater und Sohn sitzend, zwei kniende Engel rechts und links. Im unteren Maria und der Engel Gabriel, dazwischen der Heilige Geist schwebend und eine Lilie dem Boden ersprießend. Zwei Heilige zur Seite, der eine trägt das Schwert (St. Paulus?), der andere den Stab mit der Schelle an der Krücke (St. Wendelinus?). Diese Darstellung der unbefleckten Empfängnis ist noch dadurch bemerkenswert, daß die Strahlen des Heiligen Geistes Marias Ohr und Schläfe treffen, denn, wie Walther von der Vogelweide singt: »Dur ir ôre empfienc si den vil süezen«, eine ganz konsequente Vorstellung, wie ich schon anderswo bemerkt habe: »Da der Heiland das Wort der Worte ist, so konnte er nur durch das Ohr empfangen werden.«
Mitten aus dem Schiff hebt eine Linde das Haupt hoch über die Kirchenwände. Hinter ihr steht der Hochaltar noch an seiner alten Stelle, und die Volkssage versichert, den geweihten Altarstein hätten die Zerstörer des Gotteshauses mit Hebeln und Winden nicht von der Stelle schaffen können. Unter den verblichenen Freskogemälden der Wände ist eine Flucht aus Ägypten erkennbar. Daneben das halb versunkene Grabmal eines Henne von Hohenweisel mit einer deutschen Inschrift und der Jahreszahl 1485. Er war Oberschultheiß zu Geisenheim und sein Sohn Bruno Vizedomus des Rheingaus. Doch mehr als dies alles sind die Marienbilder merkwürdig. Zwei derselben enthält eine neu aufgemauerte Nische, vor der unter der Linde mehrere Bänke stehen. Von diesen ist eins reich gekleidet und mit Glas verdeckt. Eine Lampe, frisch mit Öl getränkt, hängt davor. Es ist aber nicht das wundertätige, das die Erbauung der Kirche und des Klosters veranlaßte, denn dieses befindet sich jetzt in der Kirche zu Geisenheim. Dennoch bestätigt alles, daß dieser Ort noch heute heilig und gläubiger Andacht geweiht ist. Jeden Dienstag und Freitag, wurde mir gesagt, sei hier Gottesdienst, wozu die Leute keines Priesters bedürften. Noch ist eines schweren hölzernen Kreuzes zu gedenken, das ein Büßender zu Ehren des heiligen Bluts nach Waldürn im Odenwald getragen und nachmals mit der Bitte an jeden katholischen Christen hier aufgestellt hat, sieben Vaterunser und sieben Ave Maria für ihn zu beten.
Die Geschichte der Erfindung der Buchdruckerkunst läßt Marienthals Namen nicht ungenannt. Das aus den Niederlanden stammende Institut der Kogelherrn, welche Marienthal damals bewohnten, hatte sich Unterricht der Jugend und Vervielfältigung guter Bücher zum Ziel gesetzt. Letztere hielten sie über alle Schätze der Erde wert. Als durch Gutenbergs Erfindung der Preis geschriebener Bücher fiel, wußten sie sich zu helfen. Vermutlich hatten sie den Erfinder und Bechtermünzes Werkstätte in Eltville kennengelernt. Da legten sie selbst nach jenem Muster eine Druckerei an und machten ihr kleines Klösterlein »zum Sitz und zur Offizin der Gelehrsamkeit«. Mehrere seltene Werke gingen daraus hervor.
Geisenheim, der volkreichste Ort des Rheingaus, und doch nur ein Flecken, ist von den beiden Giesen genannt, zwei Rheinarmen, von Inseln im Strom gebildet, der hier die seltene Breite von 2.500 Fuß hat. Von dem Pfefferzoll der Rheingrafen, deren ältester Sitz hier gesucht wird, ist bereits berichtet worden. Er sowohl als der Name deuten darauf, daß der Ursprung Geisenheims, das schon im siebenten Jahrhundert vorkommt, sich an die Rheinschiffahrt knüpft. Jetzt ist es durch Weinbau und Weinhandel bedeutender. Sein Rothenberg, gleich dem Johannisberg ein kegelförmiger Vorsprung des Hauptgebirges, wird zu den besseren Lagen gezählt. Ein roter Tonschiefer gibt ihm den Namen. Ich weiß nicht, wem jetzt der Weinkeller der aufgelösten Firma Lade und Dresel gehört, den ich für alle Entbehrungen in Eberbach und Johannisberg völlig entschädigt verließ. Er hat zwei Stockwerke übereinander; die breiten Gewölbe, wo zwei Reihen Stückfässer noch einen geräumigen Weg frei lassen, laufen im Viereck zusammen. Nie machte ich an einem Abend so viele geistreiche Bekanntschaften. Da waren Feuer und Stärke bei Geist und Milde. Menschen selten, nur Schöpfungen der Kunst können so edle, feine Genüsse bereiten. Wer Schwelgereien des Gaumens verschmäht, der komme hierher, sich bekehren zu lassen. Er wird begreifen lernen, warum unsere Sprache den Sinn für das Schöne Geschmack nennt.
Gleich am östlichen Eingang Geisenheims liegt ein Haus, dem der Wanderer mit Ehrfurcht nahen sollte. Hier war es, wo der Kurfürst von Mainz, Johann Philipp von Schönborn, dessen Werk der Westfälische Friede war, das »Instrumentum pacis« entwarf. Hier auch arbeitete er mit Leibniz und anderen vorzüglichen Männern, die er an seinen Hof gezogen hatte, an Vorschlägen, wie die katholische und die evangelische Kirche zu vereinigen seien. Graf Schönborn zu Reichardshausen, der dieses Haus ererbt hat, beabsichtigt es seiner historischen Bedeutung würdig wiederherzustellen. Ein dazu bestimmtes steinernes Portal habe ich in der Werkstätte des trefflichen J. Scholl in Mainz gesehen.
Unter den vielen schönen Landsitzen, die Geisenheim zieren, ist der des Freiherrn von Zwierlein auch durch die ausgezeichneten Glasmalereien älteren und neueren Ursprungs bemerkenswert, welche an den Fenstern angebracht sind. Die so erhellten Räume bewohnt auch unsere rheinische Nachtigall, deren klangvolle Kehle alle Ufer des Stroms und seiner Nebenflüsse mit Wohllaut füllt.