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Eine andere Ehrenrettung von Mainz möge sich anschließen. Wer diese Stadt erbaut hat und woher sie ihren Namen leitet, ist keineswegs ein Geheimnis. Dennoch findet man hierüber in den alten Chroniken eine Menge fabelhafter Angaben, die den Namen von Sagen nicht verdienen und die wir keiner Erwähnung wert achten würden, wenn die Erfahrung nicht zu oft lehrte, daß sich auch aus den willkürlichsten Erfindungen unwissender Mönche, wenn sie nur alt sind, immer noch etwas lernen läßt. Hoffentlich glaubt heutzutage niemand mehr an die gefabelte trojanische Herkunft der Franken, niemals wird auch nur im Traum versucht sein, die Erbauung von Mainz mit der Zerstörung Trojas in den nächsten Zusammenhang zu bringen. Der angebliche Trojaner Magantius, welchem Mainz Namen und Dasein verdanken sollte, schuldet ersterem und das, was er von letzterem in unerleuchteten Köpfen besaß, umgekehrt erst ihm und der von Virgil dem halbgelehrten Mittelalter eingeimpften Wut, alles und jedes (zumal alles Fränkische) von Troja herzuleiten. Das ist, mit Schiller zu reden, der Fluch der Lüge, daß sie fortzeugend Lügen muß gebären. Troja selbst war zwar etwas mehr als Lüge, es war Sage und Poesie; aber die Gründung Roms durch Abkömmlinge des trojanischen Aeneas ist eine Lüge, die Virgil selbst vergebens bemüht war, zur Poesie zu erheben. Noch einige Grade handgreiflicher ist die Tochterlüge von dem Trojaner Franko, dem ersonnenen Stammvater der Franken, und so fortschreitend die Enkelin, welche Mainz von einem troischen Magantius herleitet.
Noch höher hinauf mit dem Ursprung dieser Stadt will die andere Herleitung von Magog, einem Enkel Noahs, welche neuerdings ein Engländer unter dem viel zu stolzen Titel der Sage von Mainz aufgewärmt und mit poetisierenden Floskeln verbrämt hat. Mich wundert nur, daß man diese scharfsinnige Hypothese nicht schon zur historischen Begründung der Mainzer Demagogenkommissionen usw. gehörig zu nützen wußte.
Bescheidener als die beiden ersten scheint eine dritte Fabel, welche Mainz weder aus der Arche Noahs noch aus Trojas hölzernem Roß hervorgehen, sondern von Trier aus stiften läßt; wenn man aber weiß, wie alt das allerdings uralte Trier nach dem Mönchslatein erst ist, so ahnt man schon, daß sie der letzteren wenig nachgibt und erstere noch bedeutend übertrifft. Zweihundert Jahre vor Trojas Zerstörung soll nämlich, dieser Fabel zufolge, der aus Trier entronnene Zauberer Nequam das goldene Mainz gestiftet haben. Die Inschrift: »Moguntia ab antiquo Nequam« auf einem Stein, den niemand gesehen hat, muß zum Beweis dienen. Soviel scheint gewiß, daß ein Mainzer diese Fabel nicht erfunden hat, wie würde er sich sonst einen Taugenichts zum Stammvater ersehen haben?
Mainz hatte überhaupt das Schicksal, von der Fabel und selbst von der ehrwürdigeren Sage arg verunglimpft zu werden. Es ist bekannt, daß in allen zum Sagenkreis Karls des Großen gehörigen Gedichten Mainz in einem üblen Licht erscheint. Der Verräter Ganelon in der Ronceval-Schlacht ist ein Mainzer, aller Verrat geht auch in den späteren Liedern von Mainz aus, so daß Verräter und Mainzer zuletzt als gleichbedeutende Ausdrücke gebraucht werden. Zu besonderer Genugtuung gereicht es mir, die Ehre von Mainz gegen solche Verunglimpfungen in Schutz nehmen zu können. Ich verdanke dies dem wenigen, was aus den obigen Mönchsfabeln zu lernen war. Bei nochmaliger Ansicht wird man finden, daß die beiden ersteren auf nichts ruhen als auf der Ähnlichkeit des Namens Maguntia mit dem aus der Schrift überlieferten Magog und dem erst hierzu erfundenen Magantius. Bei dem Zauberer Nequam der dritten Fabel verhält es sich nicht anders, obgleich die Namensähnlichkeit nicht sofort einleuchtet. Nun setze man aber, was keine Bedenken hat, da die fabelnden Chroniken lateinisch geschrieben waren, statt Zauberer Magus. Nur der Name Nequam macht uns jetzt noch zu schaffen. Aber unsere bisherigen Erfahrungen führen auf die Vermutung, daß auch er aus Mainz gebildet sei. Und so ist es in der Tat, nur sollte es niemand merken, deshalb wurde eine Übersetzung ins Lateinische beliebt. Jedermann kennt die noch in »Meineid« fortlebende Stammsilbe »Mein«, die sonst auch für sich und in anderen Zusammensetzungen, z. B. Meintat (Verbrechen), Meinrat (Verrat) usw. vorkam. Immer bedeutet sie falsch, böse, und so erklärt es sich einfach, warum Nequam (Bösewicht) der fabelhafte Stammvater der ehrlichen Mainzer wurde. Ehrlich bleiben sie, weil Mainz nicht von Mein (Verrat), sondern vom Main, dem gegenüber mündenden Fluß benannt ist.
Und so wird auch der Verräter Ganelon nur durch Mißverstand zum Mainzer geworden sein. Vielleicht hatte er in den ältesten Heldenliedern, die noch deutsch gesungen wurden, einen Beinamen von Mein (Verrat), wie auch der romanische Name Ganelon (vergl. ingannare) auf Betrug hinweist. Dieser Beiname wurde, als man romanisch zu singen anfing, nicht mehr verstanden und auf Mainz gedeutet. Mithin tragen die Mainzer, die der deutschen Sprache treu blieben, am wenigsten die Schuld, wenn sie in den fränkischen Heldenliedern als meineidige Verräter erscheinen.