Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Saal

Die seichte Stelle im Main, die der Stadt den Ursprung gab, ist noch jetzt vorhanden. Sie befindet sich vor dem Fahrtor, das von der Fähre den Namen hat, die gewiß schon früh bei der Furt angelegt wurde, da nicht ein jeder geschickt noch in der Lage war, sie zu durchreiten.

Das Palatium Karls des Großen, das wohl nicht hauptsächlich der Jagd wegen erbaut wurde, weil sonst das jenseitige Ufer gewählt worden wäre, lag dicht am Strom, an der Stelle, welche jetzt die Leonhardskirche einnimmt. Es wird nicht sehr geräumig gewesen sein, weil schon sein Sohn ein größeres zu erbauen sich veranlaßt sah. Als Kaiser Friedrich II. den Platz, wo es gestanden hatte, der Bürgerschaft schenkte, um daselbst eine Kapelle zu erbauen, waren die schon früh in Verfall geratenen Gebäude gänzlich verschwunden, woraus sich die Annahme widerlegt, daß der mittägliche Turm mit dem sonderbaren steinernen Kreuz und den kleinen, durch Säulchen geteilten Fenstern noch von Karls Palatium herrühre. Die anfänglich der Heiligen Jungfrau und dem Ritter St. Georg geweihte Kapelle wurde hernach in ein Kollegiatstift verwandelt und, als sie den Arm des heiligen Leonhard erwarb, nach diesem benannt. Reisenden Maurern wurde sonst ein künstlich hängendes Gewölbe in der Kapelle zur Linken als eine Merkwürdigkeit gezeigt. Allgemeinere Beachtung verdient der Reichsadler, mit dem Ludwig der Bayer die Spitze des nördlichen Kirchturms verzieren ließ, weil das Stift dem päpstlichen Bannfluch um seinetwillen getrotzt hatte.

Das neue Palatium Ludwigs des Frommen, auch Der Saal genannt, lag gleich dem Fahrtor in der von ihm benannten Saalgasse. Auch von ihm ist heutzutage nichts mehr übrig, denn auch die Kapelle im Saalhof, der jetzt an der Stelle steht, wird dem ersten Bau Ludwigs schwerlich angehört haben, sollte sie auch bis in die karolingische Zeit hinaufreichen.

Ludwig hätte seines Vaters Palast erweitern und einen Neubau vermeiden können; weil aber jener Überschwemmungen ausgesetzt war, so zog er es vor, an einer höher gelegenen Stelle des Ufers einen neuen, ausgedehnteren Bau zu unternehmen. Dieser war von der späteren Stadt durch keine Mauer geschieden, sondern bildete ein Ganzes mit ihr und wurde in die späteren Ringmauern mit eingeschlossen. Unter Richard von Cornwallis erwarben die Bürger das ausdrückliche Versprechen, daß der kaiserliche Palast nie befestigt werden solle. Eine befestigte Burg würde Burgmänner aus dem umwohnenden Adel erhalten und die Stadt einem Dynasten unterworfen haben.

Die Hauptfront des Palastes, welche die Wohnzimmer des Kaisers enthielt, war gegen den Fluß gekehrt. Auf der nördlichen Seite befand sich ein beträchtlicher Vorplatz, von dem der jetzige Römerberg ein Überbleibsel ist. Gegen Osten lagen Nebengebäude und die Kapelle, gegen Westen ein Bogengang, der bei üblem Wetter zu Veranstaltungen diente. Der Saalhof (»des Riches Sal«, auch das höchste königliche Palatium genannt) wurde der Lieblingsaufenthalt der Karolinger. Ludwig der Deutsche und seine Gemahlin Hemma starben darin. Durch ihn wurde Frankfurt weltliche Hauptstadt (Metropolis civilis), wie das benachbarte Mainz Metropolis ecclesiastica des ostfränkischen Reichs war. Die sächsischen Könige besuchten ihn noch oft, seltener die rheinfränkischen, häufiger wieder die Hohenstaufen, ja der römische König Heinrich, Friedrichs II. Sohn, bewohnte ihn zehn Jahre lang. Von da an bis zu seinem gänzlichen Verfall hatte nur der kaiserliche Schultheiß seine Wohnung darin.

Wie Frankfurts erstes Entstehen sich an den Saalhof knüpfte, so blieben auch seine späteren Schicksale genau mit ihm verbunden. In der ältesten Zeit gab es nur dreierlei Bewohner der Stadt. Die angesehenste Klasse bildeten die Ministerialen – Beamte, welche den persönlichen Dienst des Königs, wenn er in den Palast einkehrte, versahen, den Hoffesten beiwohnten, die Gefälle des Palastes und der Villa verwalteten und über die Untergeordneten Gericht hielten. Die Masse der Einwohner waren hofhörige Handwerker und Gewerbetreibende, aus denen späterhin die zünftigen Bürger hervorgingen. In der Mitte standen wenig ansässige Freie, welche Freihuben in der Feldmark besaßen und sich nicht in des Königs Dienst begeben hatten. Zu diesen kamen hernach die unter dem Namen Königsleute begriffenen Freien, welche vom Land in die Stadt ziehend sich dem Hofrecht unterwarfen, um des Königsschutzes teilhaftig zu werden. »Handel, das Wechseln der Münzen, Kunstfleiß, die Bearbeitung der edlen Metalle, viele über die gewöhnliche Handarbeit sich erhebende, später erst in Zünfte beschränkte Beschäftigungen, Anbau der Feldmark der Stadt durch Knechte, Garten- und Weinbau waren die Quellen ihres Erwerbes und Wohlstandes.« Sie hatten anfänglich, mit Ausnahme der Besitzer von Freihuben, nur nutzbares Eigentum, das aber bald gegen Zahlung der Reichssteuer in volles überging. Von nun an bildete die Masse der Grundeigentümer, zu denen auch die Ministerialen wegen ihrer Besitzungen gehörten, die eigentliche Gemeinde, während die hörigen Zunftgenossen noch lang davon ausgeschlossen blieben. Nur die Geschlechter, aus denen jene mittlere Klasse bestand, rechnete man zur Bürgerschaft.

Die Karolinger hatten den Palast Frankfurt sehr reich dotiert. Weit umher auf beiden Mainufern war fast alles Land königliches Eigentum, dessen Ertrag zur Unterhaltung des Palastes, zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, gelegentlich auch wohl zu den Bedürfnissen des anwesenden Hofes verwendet werden sollte. Da aber die Ministerialen, welche diese Einkünfte verwalteten, selbst mit ihrer Besoldung darauf angewiesen waren, so wurden sie bald von ihnen verschlungen. Die Könige, die nur selten anwesend waren, kannten den Wert der Besitzungen nicht, die sie nach und nach teils sich entfremden ließen, teils durch Geldnot gedrängt mit grenzenloser Verschwendung verschleuderten. Einiges wurde den Ministerialen als Lehen zugeteilt, anderes durch Verjährung aus nutzbarem in wirkliches Eigentum verwandelt, manches der Geistlichkeit zu frommen Zwecken überwiesen, vieles gegen geringe Darlehen verpfändet, das meiste ohne Zweifel veruntreut. »Die deutschen Könige erschienen immer geldbedürftiger und geneigter, die Fiskaleinkünfte für den augenblicklichen, selbst geringen Vorteil hinzugeben. Von der Thronbesteigung König Rudolfs von Habsburg an waren das Verpfänden der Reichseinkünfte und die Erhöhung solcher Pfandschaften, wodurch zuletzt ihre Wiedereinlösung unmöglich wurde, an der Tagesordnung, und lieferten den Stoff zu einem bedeutenden Teil der in diesem Zeitraum ausgefertigten königlichen Urkunden. Schon in der Mitte des 15. Jahrhunderts blieb beinahe nichts mehr zu verpfänden übrig. So sank die Nationalstärke mit der Macht des Regenten dahin, und es entstand der Krieg aller gegen alle, jene ewigen Fehden, die früher in Deutschland, wenigstens in solchem Grade unbekannt, alle Kraft des Landes aufzehrten und zuletzt die alten Grenzen des Reichs zur Beute den Nachbarn hingaben. – Die völlige Zersplitterung aller zu dem Palast gehörigen Einkünfte brachte als nächste Folge hervor, daß dieser Palast nicht mehr in baulichem Zustand erhalten werden konnte und verfiel.«

Da die Mittel fehlten, den verfallenen Palast wiederherzustellen, so wurde auch er verpfändet, und zwar an einen Dynasten der Umgegend, Gerhard von Bruberg. Schon früher hatten die seltene Anwesenheit der Könige und die Unmöglichkeit, von der Reichsdienstmannschaft weitere Vorteile zu ziehen, den ersten Stand der Einwohnerschaft, die Ministerialen, der städtischen Gemeinde entfremdet. Nach der Verpfändung des Palastes verschwanden sie völlig. Während sie ihre befestigten Landsitze in der Nachbarschaft bezogen, kamen ihre Höfe in der Stadt größtenteils in den Besitz des zweiten Standes der Bürger, der sich jetzt zum ersten erhoben sah.

Glücklicherweise war die Stadt selbst durch ein von König Wilhelm erteiltes Privilegium vor jeder Veräußerung gesichert. Allein schon die Verpfändung des Palastes an einen Dynasten bedrohte sie mit Unfreiheit, zumal durch die Auswanderung der Ministerialen die alte königliche Stadtverfassung, welche der Anmaßung kräftigen Widerstand leisten konnte, teilweise zerstört und noch keine neue vorhanden war. »Doch die Kraft, die die angesehensten Bürger, die alten Geschlechter der Gemeinde, als Führer derselben entfalteten, sammelte alle Hoheitsrechte, welche die Königskrone vergeudet hatte, unter der Mauerkrone der städtischen Herrschaft und leitete den emporstrebenden Freistaat einer beglückenden Zukunft entgegen.«

Der erste Schritt zur Gründung der reichsstädtischen Selbständigkeit Frankfurts war die Erwerbung der Befugnis, die veräußerten königlichen Rechte wieder einzulösen. König Ludwig der Bayer, der Freund und Wohltäter Frankfurts, erteilte der Gemeinde Geheiß und Vollmacht, in seinem und des Reiches Namen alle Güter und Gülten in und bei Frankfurt, die von ihm oder seinen Vorfahren verpfändet oder wiederkäuflich verkauft worden sind, es sei Waage, Zoll, Juden, Ungeld, Bornheimer Gericht, Schultheißenamt oder was es auch sei, einzulösen und bis zur Wiedererstattung durch das Reich zu behalten. Diesen wichtigsten ihrer Gnadenbriefe erwarb der Stadt, nebst vielen anderen, einer der reichsten und angesehensten Bürger, Jakob Knoblauch, der bei Ludwig dem Bayer in persönlichem Wohlwollen stand. Er tat noch mehr: er löste selber die Ruine des Saals von den Pfandinhabern ein, ließ sie sich zu Weiberlehen geben und baute sie wieder auf. Hierdurch befreite er seine Mitbürger von einer großen, begründeten Furcht und sicherte ihnen die unbestrittene Herrschaft innerhalb der Ringmauern der Stadt.

Nicht geringeres Verdienst um Frankfurt erlangte, obwohl kein geborener Frankfurter, Jakob Knoblauchs Schwiegersohn, Siegfried zum Paradeis. Auch das Schultheißenamt oder eigentlich das Recht, dasselbe zu besetzen, hatten die Könige verpfändet. Ulrich von Hanau, der gefährlichste unter allen benachbarten Dynasten, befand sich im Besitz dieses höchst wichtigen Rechts. Er selbst bekleidete jetzt die Stelle als Oberschultheiß und ließ sie durch einen Unterschultheiß versehen. Dieser war Heinrich im Saal, nach dem Saalhof genannt, von dem er einen Teil besaß oder in Anspruch nahm, was ohne Zweifel seine Abneigung gegen die Knoblauch verstärkte. Als Landvogt der Wetterau hatte Ulrich schon großen Einfluß in die äußeren Angelegenheiten Frankfurts, das Schultheißenamt sicherte ihm noch größeren in die inneren, und das Ansehen, das er vom kaiserlichen Hof genoß, wandte er unablässig zur Vermehrung seiner Gewalt an. In der Tat gelang es ihm, durch kaiserliche Verfügungen, auf die Besetzung des Schöffenstuhls einen Einfluß zu erwerben, der ihm den Weg zur Beherrschung der Stadt bahnte, ja es schien schon um ihre Freiheit getan, als ihm der Kaiser befahl, für sein und des Reiches Bedürfnis an allen Toren Frankfurts einen Zoll zu erheben. Siegfried zum Paradeis war es, der durch seinen persönlichen Einfluß und die energischen Bemühungen, welchen er sich unterzog, alle diese Schläge von der Stadt abwandte und so der Retter ihrer Freiheit wurde. Er tat es nicht ohne Gefahr seines Lebens, denn er mußte vor den herrschsüchtigen Zünften fliehen, die Heinrich im Saal durch die Aussicht, Anteil an der Gewalt zu erwerben, dem Unterdrücker aller städtischen Selbständigkeit gewonnen hatte. Dennoch setzte er es durch, daß der Kaiser dem Landvogt Ulrich von Hanau befahl, Heinrich im Saal des Schultheißenamts zu entsetzen und mit dieser Stelle seinen Widersacher Siegfried zum Paradeis zu bekleiden. Hierdurch war er jedoch erst Unterschultheiß, als Stellvertreter des Dynasten, welcher noch immer Oberschultheiß und Pfandherr des Schultheißenamts blieb. Seinen fortgesetzten Bemühungen am kaiserlichen Hof gelang es indessen, auch den Besitz jener Reichspfandschaft den Händen Ulrichs zu entwinden, der vom Kaiser gezwungen wurde, sich der Auslösung zu unterwerfen. Hierdurch war nun Siegfried Pfandherr des Schultheißenamts und wirklicher Schultheiß zugleich. Aber Siegfried hatte nicht für sich und seine Familie, sondern für den Rat und in dessen Auftrag gehandelt, diese erlegte die Einlösungssumme und erwarb die Reichspfandschaft, nicht Siegfried, der seinen Einfluß zum Wohl des Gemeinwesens geltend gemacht hatte, ohne sich irgend einen Vorteil zuzusichern. »Ihm hat Frankfurt in der Folgezeit seine Erhaltung und alle daraus auch für die jetzigen Tage entsprungenen Vorteile allein zu verdanken.«

Den beiden Ehrenmännern, welche Frankfurts Freiheit und Blüte begründeten, verdient ein dritter beigesellt zu werden, der kämpfend – zunächst nur für den eigenen Herd – ein Wohltäter seiner Mitbürger wurde. Nach einem Herkommen, das sich in den Zeiten der dinglichen Unfreiheit selbst der persönlich freien Königsleute gebildet hatte, konnten diese ihre Töchter einem Ministerialen nicht versagen. Hatte die Tochter eines Frankfurter Bürgers einem königlichen Dienstmann gefallen, so trat, im Namen des Königs, dessen Marschall vor das Haus des Vaters und sprach etwa folgende Reime:

»Hört zu, ihr Herren überall
Was gebeut der König und Marschall,
Was er gebeut, und das muß sein:
Hier ruf ich aus N.N. mit N.N.s Töchterlein,
Heute zu Lehen, morgen zur Ehen,
Über ein Jahr zu einem Paar.«

Johann Goltstein, ein reicher Mann und Schöffe, sollte seine Tochter wider seinen und vermutlich auch wider des Mädchens Willen einem Ministerialen hingeben, der sich auf das verhaßte Herkommen des Ehezwangs berief. Zum Glück war damals König Heinrich, Kaiser Friedrichs II. Sohn, in Frankfurt anwesend. An diesen wandte sich der bedrängte Vater und erlangte von seiner Milde die Aufhebung des Ehegebots. Heinrich versprach den vier wetterauischen Städten Frankfurt, Wetzlar, Friedberg und Gelnhausen, künftig keinen ihrer Angehörigen mehr zwingen zu wollen, daß er seine Tochter oder Enkelin einem von dem königlichen Hofgesinde zur Ehe gebe, sondern sich bei den Bürgern auf eine einfache Fürbitte zu beschränken. Insbesondere befreite er die Tochter seines Getreuen Johann Goltstein von der erzwungenen Ehe mit dem Hofdiener. »Es scheint«, sagt Lersner, »daß von diesem Brauch das noch jetzt übliche Lehenausrufen der Kinder übriggeblieben ist, welche auf den ersten Mai in einem grünen Wägelchen von Haus zu Haus fahren und obige Worte, wiewohl etwas undeutsch und gebrochen, mit hellem Hals ausrufen.« Ob diese Sitte noch in Frankfurt lebt, wissen wir nicht; am Niederrhein hat sich aber das Mailehen in den Dörfern erhalten, wo am ersten Mai die jungen Burschen alle mannbaren Mädchen für das ganze Jahr unter sich zu verteilen pflegen.

Der Saalhof, auf den wir die wichtigsten Momente der Frankfurter Geschichte bezogen haben, zeigt heutzutage von dem ursprünglichen karolingischen Bau keine Überreste mehr, wenn nicht die Kapelle zu diesen Zeiten hinauf reicht. Der turmartige Bau, welcher sie enthält, mag der von Jakob Knoblauch vorgenommenen Erneuerung angehören. Sonst ist auch von dieser wenig oder nichts übrig. Die Familie Knoblauch hatte einige ihrer Verwandten in den Mitbesitz des Saalhofs aufgenommen. Die Läden und Stände, welche die Miterbschaft während der Messe im Saalhof vermietete, warfen so reichliche Einkünfte ab, daß 1604 die Gebäude erweitert werden konnten. Dieser Neubau, der seitdem noch in Türen und Fenstern verändert worden ist, betraf nur die nach der Saalgasse gehende Seite; die Gebrüder Bernus, welche den Saalhof gekauft hatten, erneuerten 1717 auch die Wasserseite zunächst dem Rententurm, so daß jetzt auf den Saalhof und seine Kapelle das Sprichwort wohl paßt: eine große Monstranz und wenig Heiligtum.

siehe Bildunterschrift

Frankfurt am Main

 


 << zurück weiter >>