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Daß in Mainz eine der vornehmsten Schulen des Meistergesangs geblüht habe, melden unverwerfliche Zeugnisse. Fabelhaft ist freilich, was von dem frühen Entstehen solcher Schulen und den zwölf Meistern gemeldet wird, welche Kaiser Otto als der Ketzerei bezichtigt, nach Pavia beschieden und, als er sie schuldlos befunden, mit Freiheit begnadigt haben soll. Als der erste der zwölf Meister wird Frauenlob genannt, was den Ursprung der Schulen in das vierzehnte Jahrhundert rücken und den frühen Vortritt von Mainz bewähren würde. Die Meister beriefen sich auch auf ein altes Buch, das in der Johanniskirche zu Mainz angekettet war, wo auch der angeblich von Kaiser Otto verliehene goldene Kranz aufbewahrt wurde. Aus der Art, wie Frauenlob in den oben besprochenen Sängerkriegen von dem Merker abgefertigt wird, läßt sich eben nicht darauf schließen, daß er in der Meisterschule, wenn in dieser der Krieg stattfand, vorzügliches Ansehen genossen hätte, und es hat wohl wenig Grund, wenn er gewöhnlich für den Stifter der Mainzer Gesangsschule angesehen wird. Man könnte an den viel älteren Heinrich von Ofterdingen denken, der zuweilen auch unter den zwölf alten Meistern vorkommt und dessen Bezug auf Mainz aus mehreren Anzeichen erhellt. Denn nicht nur gab es dort in dem Stadtteil, welcher der Kirschgarten hieß und unmittelbar unter dem alten Palast König Dagoberts lag, ein altes Haus, das den Namen zum Afterding führte, sondern von diesem seinem Stammhaus nannte sich auch das patrizische Geschlecht derer von Afterdingen, in welchem der Name Heinrich mehrmals urkundlich vorkommt. Die Siegel dieser Heinriche zeigen das wenig veränderte Wappen der Familie Gensfleisch, sie würden also demselben Geschlecht angehören, das den Erfinder der Buchdruckerei hervorbrachte.
Noch ein anderer Grund pflegt für den Mainzer Ursprung Heinrichs von Ofterdingen angeführt zu werden. In dem bekannten »Sängerkrieg auf der Wartburg«, in dem Ofterdingen eine Hauptrolle spielt, ist auffallend viel von Mainz die Rede, was nicht befremden würde, wenn es bloß da geschähe, wo von kirchlichen Streitigkeiten die Rede ist, wobei Mainz als Haupt der deutschen Kirche nicht umgangen werden konnte. Nun aber geschieht es auch bei anderen Anlässen, wo seine Erwähnung gar nicht an der Stelle scheint. So sagt die Landgräfin von Thüringen, den Schauplatz auf ihrer Wartburg bei Eisenach vergessend:
Vor Megenz gât
der wîle wol des klâren Rînes vil.
Hieraus läßt sich aber nur schließen, daß ein Teil des »Wartburgkriegs« in Mainz entstanden sein muß; über Ofterdingens Herkunft, der so wenig diesen Sängerkrieg als die »Nibelungen« gedichtet haben kann, gibt es uns keinen Aufschluß. Beide Werke schreiben Mainzer Gelehrte ihrem wahrscheinlichen Landsmann ohne alle Veranlassung zu. Bis jetzt ist uns Heinrich von Ofterdingen, der nach den frühen Erwähnungen um den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts geblüht haben müßte, eine mehr mythische als historische Person. Wir besitzen kein Werk dieses Sängers; das eine, das sich ihm zuschreibt, der »Laurin«, ist offenbar späteren Ursprungs. Da andererseits der Dichter der »Nibelungen« unbekannt war, so hat dies zu der ganz haltlosen Behauptung von Heinrichs Autorschaft an demselben verleitet, weil so mit einem Schlag jedwedem das, was ihm fehlte, gefunden schien: dem Dichter ein Gedicht und dem Gedicht ein Dichter. Die Hypothese ist aber um so unglücklicher, als bei den »Nibelungen«, die aus so verschiedenartigen, aus dem Volksgesang erwachsenen Teilen bestehen, von einem Dichter gar keine Rede sein kann. Daß in Mainz ein Haus der Nibelungen vorkommt, darauf ist bei der großen Verbreitung des Namens am ganzen Ober- und Mittelrhein gar kein Gewicht zu legen. Als der »Wartburgkrieg« gedichtet wurde, mußte sich schon ein mythisches Dunkel um den Namen Heinrichs von Ofterdingen gesammelt haben; und ihn selbst für den Verfasser zu halten, ist nicht besser, als wenn man den Spielmann Volker von Alzey für den Dichter der »Nibelungen« erklärte. Diese und den »Wartburgkrieg«, Werke, die um ein volles Jahrhundert auseinander liegen, einem und demselben Dichter zuzuschreiben, ist, gelinde gesagt, unbesonnen. Für Mainz bleibt die Wahrscheinlichkeit, einen Teil des »Wartburgkriegs« und den Helden dieses Gedichts, Heinrich von Ofterdingen, hervorgebracht zu haben.