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Hinter Höchst mündet die aus der Wetterau, Deutschlands Kornkammer, herschlängelnde Nidda, und nun haben wir nicht weit mehr zur Galgenwarte, die einst die westliche Seite des Frankfurter Weichbilds beschützte, wie die Bockenheimer, die Friedberger und die Darmstädter Warte die übrigen. Daß sie Gallenwarte, wohl gar St.-Gallus-Warte heißt, ist eine strafbare Zippigkeit des gebildeten Frankfurters, denn nur einem sehr bösen Gewissen geziemt die Scheu vor dem Galgen, und St. Gall hat hier nichts zu schaffen. Aus den Frankfurter Annalen ihres auch für die Geschichte der Stadt zu früh verstorbenen ersten Bürgermeisters Thomas († 1838), können sie lernen, daß das Galgenfeld als der Gerichtsplatz einst der vornehmste Teil der Gemarkung und so auch das Galgentor, das sie nicht bloß abreißen, sondern so gut wie eingehen ließen, als das vornehmste Tor am schönsten und bedeutungsvollsten verziert war, nämlich mit dem großen Wappen und den Standbildern der beiden Stadtpatronen, des heiligen Karls des Großen und Bartholomäus. Durch das Galgentor pflegten die deutschen Könige ihren Einzug in die Stadt zu halten. Hier lag also wohl auch das Wahl- oder Klapperfeld, von dem Schlagen auf die Schilde so geheißen, wodurch das Heer seinen Beifall zu erkennen gab. In dem Galgen- und dem anstoßenden Streitfeld mußten sie oft geraume Zeit liegen. Seit der bestrittenen Königswahl Heinrich Raspes, des Landgrafen von Thüringen, und der Schlacht, die er gegen Konrad, den Sohn des gebannten zweiten Friedrich, vor Frankfurt gewann, hatte sich nämlich das Herkommen gebildet, daß bei streitigen Wahlen der Neugewählte sechs Wochen und drei Tage vor Frankfurt liegen mußte, um abzuwarten, ob sein Gegner ihm nicht den Einzug wehre. Dagegen war die Stadt bei unbestrittenen Wahlen bei Acht und Bann gehalten, den gewählten König unweigerlich einzulassen, wie das kaiserliche Landrecht dies gar hübsch ausdrückt.
Wie Dampfschiffe und Eisenbahnen überhaupt die Bestimmung zu haben scheinen, Deutschland und den Rhein in ihre alten Rechte wiedereinzusetzen, so wird auch das Galgentor die frühere Wichtigkeit wiedererlangen, wenn die Eisenbahn fertig ist, die vor demselben münden soll. Bis dahin lassen wir uns, da wir keine Könige sind, den Einzug durch das Bockenheimer Tor gefallen, obgleich wir nicht über so schöne Vorplätze nach der Zeil gelangen, wo sich jetzt alle Pracht und Herrlichkeit Frankfurts zusammendrängt. In der neuen Mainzer Straße, auch wohl Millionärsstraße genannt, die wir gekreuzt haben, finden sich nur die Paläste reicher Privatleute, die ebensoviel Aufwand machen, als ihnen bequem ist, während die Zeil jetzt die großartigsten öffentlichen Anstalten, die glänzendsten Gasthöfe und die schmucksten Läden vereinigt, denn auch der elegante Detailhandel ist in den letzten Jahren zum großen Nachteil der neuen Creme und des Liebfrauenbergs nach diesen Boulevards gezogen. Um vor dem Umfang, dem äußeren Gepränge und der kostbaren inneren Einrichtung der Gasthöfe nicht zu stutzen, muß man sich erinnern, daß sich in dieser Stadt die Hauptstraßen Teutschlands, mithin der Welt, sowohl nach der Länge als nach der Breite durchkreuzen und daher nicht leicht anderswo ein so bedeutender Reiseverkehr gefunden wird. Das Fremdenblatt, das doch bei weitem nicht alle Durchreisenden nennen kann, zählt ihrer jährlich an sechzigtausend, die wenigstens eine Nacht in der freien Stadt zugebracht haben; und wie viele bleiben wochen- und monatelang! Dafür ist man auch nirgends besser bedient, speist und schläft nirgends üppiger und schwelgerischer als in den Gasthöfen Frankfurts, welche schon längst für die Hohe Schule der deutschen Kellner und Wirte bekannt sind. Auch den schimmernden Läden, welche sich neben ihnen angesiedelt haben, sind die Schwärme dieser Zugvögel willkommen, sie bieten alle blendenden Reize auf, den einen oder anderen einzufangen; und selten zieht wohl einer ungerupft von dannen, und dieser ist noch dazu sicher, zu Hause gescholten zu werden, denn in Frankfurt, glaubt man aller Enden, müsse alles aus der ersten Hand, mithin wohlfeiler und besser als anderswo, zu haben sein. Gern verweilen wir bei diesen Läden und staunen über die Riesenfortschritte des Luxus und der Überfeinerung; die Kunst- und Buchläden machen uns wie mit jeder neuesten Erscheinung, so mit manchem nie gesehenen Prachtwerk bekannt, und wenn wir uns an Kupfer- und Stahlstichen müde gesehen haben, ersucht uns ein Gemäldekabinett in den höflichsten Ausdrücken, einzutreten, wenn wir auch nichts zu kaufen beabsichtigen sollten.
Bei der neuerdings berühmt gewordenen Konstablerwache treten wir jetzt durch die längst weggebrochene Bornheimer Pforte in die volkreiche Fahrgasse, die uns aber, wunderlich genug, nicht nach dem Fahrtor, sondern gleich nach der Mainbrücke führt. Indem wir diese betreten und von dort zurückblicken, strahlt uns zunächst die schöne Häuserreihe entgegen, die den Kai bis zum Obermaintor ziert und oben mit der städtischen Bibliothek schließt, einem Gebäude, das, wie die Anstalt selbst, schwerlich reicher ausgestattet wäre, wenn es ein Fürst gegründet hätte. Diese Straße heißt die Schöne Aussicht, weil sie ihren Bewohnern eine solche nach dem Odenwald und ins Obermaintal gewährt, vielleicht auch weil mit ihr der Anfang gemacht wurde, der Stadt nach dem Main hin ein moderneres Ansehen zu geben. Die Mitte der Flußseite nehmen noch ältere Gebäude ein, worunter sich der Saalhof, das Fahrtor mit dem Rententurm und die Leonhardskirche befinden. Hinter dem Freihafen folgen dann wieder moderne, zum Teil palastähnliche Gebäude, ja der Kai des Untermaintors hat vor dem unteren den Vorzug der Asphaltpflasterung, die sich sehr reinlich ausnimmt und auch den Füßen wohltut. Mir gedenkt noch wohl, wie die Schöne Aussicht erst in der Anlage begriffen war und wie sie in späteren Jahren, da sie bereits ausgebaut stand, gegen die untere, gar schwarz und düster dreinschauende Hälfte gewaltig abstach. Damals überließ sich noch niemand der Hoffnung, daß dieses Mißverhältnis je auszugleichen sei. Jetzt muß man schon fürchten, daß die Bau- und Verschönerungslust zu weit greifen und auch die genannten Gebäude des mittleren Teils wegreißen werde, deren historisches, auch wohl architektonisches Interesse durch Gebäude modernen Stils, wären sie noch so prächtig, doch nicht ersetzt werden kann.
Wie wir die Mainseite der Stadt verjüngt finden, so hat sie sich auch nach allen übrigen Richtungen hin gehäutet und das Mittelalter abgestreift. Die Mauern sind geschleift, die Türme nicht geschont, die Wälle abgetragen und in den Gräben niedergezogen. Die Stelle dieser Festungswerke nehmen jetzt geschmackvolle Gartenanlagen und anmutige Spaziergänge ein. In dieser neuen Schöpfung hat dem Urheber derselben, dem Senator Guiolett, die Dankbarkeit der Frankfurter ein schönes Denkmal gewidmet. Der städtischen Pflanzung schließen sich zahlreiche Lustgärten und Villen reicher Privatleute an, unter welchen wir nur die Bethmannsche Anlage erwähnen wollen, die sich in die öffentliche zu verlieren scheint und wenigstens den Fremden nicht verschlossen ist. Die Zahl der Landhäuser wächst von Jahr zu Jahr, die schönsten findet man an beiden Mainufern, längs der Bockenheimer Straße und auf den Höhen des Röder- und des Mühlberges. Auch im Innern schafft die Baulust Düsteres in Heiteres um, und der Verschönerungstrieb wagt sich sogar schon an die schmutzigen Hallen und Buden des Marktes und des sogenannten Pfarreisens. Allerdings war es zu wünschen, daß auch dieser Mittelpunkt des städtischen und bürgerlichen Verkehrs gesäubert und mit den glänzenden Außenseiten der übrigen Stadtteile einigermaßen in Einklang gebracht würde.
Dem Rang, den Frankfurt unter den deutschen Städten einnimmt, scheint uns die Sorgfalt, die es auf sein Äußeres verwendet, wohl angemessen. Als Handelsstadt ist Frankfurt nur die zweite Deutschlands, denn Hamburg, an der Brust des Meeres gelegen, duldet keine Rivalin. Aber Frankfurt hat noch andere Quellen des Wohlstands als den Handel. Wir haben gesehen, welche Menge von Reisenden seine glückliche Lage ihm zuführt. Für die Reichstage, die Königswahlen und Krönungen, welchen es im Mittelalter und bis in das laufende Jahrhundert einen Teil seiner Blüte verdankte, entschädigen es jetzt die permanenten Sitzungen des Bundestages, und der Aufwand so vieler Gesandter, eines so beträchtlichen Personals, ist gewiß nicht ganz gering anzuschlagen. Alles zusammengenommen dürfte Frankfurt wohl für die reichste Stadt Deutschlands gelten, obgleich wir gern gestehen, hierüber kein Urteil zu haben.
Weniger sollte es befremden, wenn wir Frankfurt die Hauptstadt Deutschlands nennen, und doch begegnen wir hier vielleicht noch größerem Widerspruch. In dem Sinn, wie Paris und London Hauptstädte ihrer Länder sind, werden die Deutschen freilich nie eine Hauptstadt haben. Unter den Karolingern war Frankfurt bekanntlich Residenz und hierdurch zugleich Hauptstadt des mit Deutschland fast identischen östlichen Frankenreichs, und seine Eigenschaft als Wahlstadt, die freilich erst ziemlich spät zu ausgesprochener Anerkennung gelangte, konnte sich nur aus der noch immer fortwirkenden Ansicht, daß es die Hauptstadt des Reichs sei, hervorbilden. Da jetzt nach tausend Jahren Deutschland als Staatenbund ein neues, hoffentlich gesünderes Leben beginnt, dürfen wir die Stadt abermals sein Haupt nennen, die den Mittelpunkt seiner Einheit ausmacht, da in ihr seine Fürsten, wenn auch nur durch Gesandte, beständig versammelt bleiben.
Von Frankfurt als seiner Hauptstadt hat Deutschland keine Art von geistigem Despotismus zu fürchten. Nicht als ob es nicht Geist genug hätte, ihn zu üben, oder als ob es seinen Bewohnern am Besten gebreche; die Frankfurter sind vielmehr ein sehr geistreicher Menschenschlag, und selbst in den unteren Klassen findet man fast durchgängig belebte, wohlbegabte Gesichter. Ich hatte auf die bewegten Züge der Frankfurter, den schnellen Wechsel von Empfindungen, den ihr Mienenspiel ausdrückt, sooft mir dazu die Gelegenheit wurde, ein achtsames Auge, und immer fand ich dabei Unterhaltung und Ergötzen, während man vielen norddeutschen Gesichtern gegenüber sich nicht leicht der Langeweile erwehrt. Mein Freund, der Maler S., dem ich diese Bemerkung mitteilte, bestätigte sie und zeigte mir Köpfe gemeiner Frankfurter und Sachsenhausener, die er schon lange in seiner Mappe liegen hatte. Es waren gar stattliche Personen darunter. Ich riet ihm, einige derselben in gute Kleider zu stecken und mit Stern und Ordenskreuz zu behängen. Er tat es, schrieb die Namen bekannter deutscher Staatsmänner darunter und jeder, der sie sah, sagte betroffen: »Ich hätte nicht gedacht, daß dieser Mann eine so bedeutende Physiognomie hätte.«
Warum ich aber nicht glaube, daß Frankfurt, wenn es als deutsche Hauptstadt der Mittelpunkt deutschen Lebens wäre, einen geistigen Despotismus üben würde? Weil der von dort ausgehende Geist gewiß keine grelle provinzielle Färbung haben, vielmehr alle landschaftlichen Schroffheiten und Härten, die zuletzt doch nur Beschränktheiten sind, vermitteln und versöhnen und so die Gegensätze des südlichen und nördlichen, westlichen und östlichen Deutschland aufheben würde.
Man braucht mir nicht zu sagen, daß Frankfurt als deutsche Hauptstadt erst dann rechte Bedeutung erlangen könnte, wenn der Bundestag in dem öffentlichen Leben der deutschen Staaten und Völker tiefere Wurzeln schlüge; ich weiß dies sehr wohl, gebe aber die Hoffnung nicht auf, daß es noch dahin kommen werde.
Warum trägt dieser Abschnitt die Überschrift Teutschenburg? Man erinnert sich aus dem Artikel Mainz, welchen Unterschied wir zwischen Sage und bloßer Fabel machen. Erstere hat echten historischen Gehalt, während letztere, als müßige Erfindung unwissender Mönche, selten ein Körnlein Wahrheit verbirgt. Wenn z. B. Frankfurt das römische Artaunum gewesen sein oder Helenopolis geheißen haben soll, weil es entweder der trojanische Helenus oder jene Kreuzerfinderin, die Mutter Konstantins, von der am Rhein so viel gefabelt wird, erbaut habe, so ist daraus schwerlich etwas zu lernen. Wenn ferner die Fabel berichtet, Frankfurt habe einst Teutoburgum oder Teutschenburg geheißen, so ist dies um nichts besser; vielleicht steckt aber doch die Vorstellung dahinter, daß diese Stadt ein den Deutschen vorzüglich wichtiger Ort, eine Hauptstadt der Deutschen, sei.