Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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St. Bilhilde

Die schönste Aussicht bot sich uns aus dem vierten Fenster dar, denn es ließ uns tiefer als das erste und dritte in den herrlichen Rheingau blicken. Wir sahen Biebrich und Wiesbaden in fast greifbarer Nähe, das herzoglich-nassauische Jagdschloß, die Platte, auf seiner Taunushöhe winkend und schimmernd, das obstreiche Schierstein, Walluf, die Pforte des Rheingaus, und Ellfeld, seine Hauptstadt, mit den alten Burgen am Eingang, ja selbst in dem Tal, das sich hinter ihm öffnet, den Turm der Ruine Scharfenstein bei Kiedrich auf dem Bergkegel über der Rittersruhe ganz deutlich und wie durch Ferngläser näher gerückt. Zu unseren Füßen lag die Nordseite der Stadt, die Drei Bleichen bis zum Münstertor, dahinter das Gartenfeld und die Bruchwiesen mit der Inundationsschanze, neben der diese Niederungen unter Wasser gesetzt werden können. An die Bruchwiesen knüpfte der Türmer seine Erzählung von der Gründung des Altenmünsterklosters, von dem das Münstertor noch heute den Namen führt. Denn nachdem er zur Linken der Rheinallee die Stelle der St.-Theonestus-Kirche, wo St. Alban als Märtyrer litt, sowie die der Kapelle des heiligen Wendelinus, des Schutzpatrons der Gärtner, bezeichnet hatte, dessen Verehrung dem Gartenfeld so natürlich scheint, mußten ihn die Bruchwiesen wohl an die Heilige erinnern, durch die deren Besitz an seine Vaterstadt kam.

»Die heilige Bilhilde«, begann er, »stammte aus einer reichen fränkischen Familie, die sich nach Chlodwigs Sieg über die Alemannen in der Gegend von Hochheim angesiedelt hatte, wo man noch in neuerer Zeit bei dem Ziehbrunnen auf die Grundmauern einer alten Burg gestoßen ist. In der hiesigen Gegend, wo der Arianismus lange gewuchert hatte, hielt es damals schwer, in den Grundsätzen der reinen Lehre unterwiesen zu werden. Bilhildes Eltern schickten deshalb ihr einziges Kind in noch zarten Jahren nach Würzburg, wo es zwar den Unterricht der Katechumenen, aber die heilige Taufe nicht empfing, weil man voraussetzte, es sei getauft. Gleichwohl schlugen die Lehren des Heilands kräftig Wurzel in Bilhildes junge Brust, und früh erwachte in ihr der Wunsch, ihr Leben, ihre jungfräuliche Blüte dem Heiland zu widmen. Die dringenden Bitten der Eltern bestimmten sie jedoch, eben um Christi willen dem Herzog Hettan von Thüringen die Hand zu reichen, indem jene hofften, es werde ihrer Tochter, wenn sie die Seinige würde, gelingen, diesen kriegerischen Fürsten für das Christentum zu gewinnen, wie Klothilde, Chlodwigs Gemahlin, den Frankenkönig zur Taufe beredet hatte. Allein, wie Vogt sagt, die süßen Versuche der Bekehrung blieben bei einem Mann fruchtlos, der nur den Krieg und folglich eine Religion liebte, welche Kriegsgötter zur Verehrung aufstellte. In diesem Glauben starb er auch auf dem Schlachtfeld. Seine Witwe, welche die Ausbreitung des Christentums unter den Thüringern eifrig betrieben hatte, mußte nun den Haß des Volkes empfinden, das ihr so viele Wohltaten schuldig war. Verfolgt und zur Flucht genötigt, rettete sie sich auf einen Kahn, der, ohne Ruder und Steuer, ein Spiel der Wellen schien. Aber wie von unsichtbarer Hand geführt, trieb er aus dem kleinen Fluß in den Main und auf diesem in kurzer Zeit am schönen Hochheim, Bilhildes Heimat, vorüber, nach Mainz, wo durch eine neue wunderbare Fügung ihr Oheim Siegbert eben den bischöflichen Stuhl bestiegen hatte. Dieser empfing seine gottselige Nichte huldreich und liebevoll, und da ihre Eltern unterdes heimgegangen waren, so verhalf er ihr zum Besitz ihrer hinterlassenen beträchtlichen Güter. Diese verwandte sie zu gottgefälligen Werken, indem sie zu Ehren der Heiligen Jungfrau, der sie ihre wunderbare Rettung zuschrieb, das Jungfernkloster Altenmünster stiftete und reichlich ausstattete, den Bürgern von Mainz aber den sogenannten Bruch schenkte, den diese teils als Gartenfeld, teils zur Viehweide benutzten. Man erzählt, Bilhilde sei zuerst im Zweifel gewesen, an welchem Ort sie Kirche und Kloster stiften solle, ob auf dem Berg, wo jetzt unsere Stephanskirche steht, oder am Fuß des Kästrichs, in der vom Zeibach bewässerten Ebene. Als sie endlich zur Besichtigung beider Bauplätze hinausfuhr, gaben die Pferde vor ihrem Wagen den Ausschlag, denn die Anhöhe hinauf waren sie durch keine Gewalt zu zwingen, in die Ebene aber lenkten sie mit freudigem Wiehern.

Doch das Seltsamere ist noch zurück. Als nämlich das Kloster erbaut stand und Bilhilde als dessen Äbtissin feierlich eingekleidet werden sollte, träumte eines Nachts den frömmsten unter den Nonnen, welche sie sich zugesellen wollte, ihre künftige Vorsteherin sei eine Heidin, da sie das Sakrament der Taufe noch nicht empfangen habe. Hierüber waren sie sehr erstaunt, noch mehr aber auf ihre Meldung Bilhilde selbst und ihr Oheim, der Bischof. In einem feierlichen Hochamt wandte sich Siegbert um Erleuchtung zum Himmel und vernahm bei der Wandlung die Stimme eines Engels, die den Traum der Nonnen bestätigte. Denn Gott mochte in seiner Barmherzigkeit nicht zulassen, daß seine Dienerin ohne den Anspruch auf himmlischen Lohn ihm auf Erden so viele Opfer bringen sollte.«

 


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