Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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Elsaß

Auf dieses blühende Land ist uns kaum einen Blick zu werfen vergönnt. Es wird fast in seiner ganzen Länge von der Ill und dem Napoleonskanal durchschnitten, der den Rhein mit der Rhône und so das Nordmeer mit dem Mittelländischen verbinden soll. Die Niederungen zwischen der Ill und dem Rhein bieten, den Blick auf die Doppelkette des Schwarzwalds und der Vogesen ausgenommen, wenig Reizendes dar. Erst jenseits der Ill öffnen sich die großartigen und doch lieblichen Täler des Wasgaus, wo jetzt der so oft als unpoetisch verschriebene Gewerbefleiß mitten in der abenteuerlichsten Romantik – am brausenden Wasserfall, bei dem zerfallenden Felsenschloß, neben wundertätigen Heiligenbildern – seinen Sitz aufgeschlagen hat.

Auch der Weinbau, unter allen landwirtschaftlichen Beschäftigungen die ansprechendste, gedeiht an den östlichen und südlichen Abhängen der Wasgaukette. Und so dürfen wir sagen, es ist auch hier besser geworden, als es war. Es wäre undankbar, die Wohltaten des Mittelalters, indem wir sie genießen, verkennen zu wollen; auch soll das Ei nicht klüger sein wollen als die Henne; zuweilen hat es aber das Küchlein besser als die Glucke. So muß auch hier die neuere Zeit durch das Verdienst der älteren gegen diese im Vorteil erscheinen. Aus den betriebsamen Tälern, die uns jetzt entzücken, zogen einst Ritter und Reisige sengend und raubend in die friedliche Ebene. Und doch prangt diese noch heute mit mächtigen Städten und himmelanstrebenden Domen, die in jener kräftigen, großfühlenden Zeit erbaut worden sind. Das Straßburger Münster spricht dem Mittelalter beredter das Wort als alle Anpreisungen seiner unbedingten Verehrer. Das Münster ist es auch, das unaufhörlich von Deutschland predigt, obgleich die wackeren Elsässer in ihrer altväterischen Sinnesweise deutsche Art und Sitte schätzen und solcher Mahnung nicht bedürfen.

An Sagen und geschichtlichen Überlieferungen ist kaum ein deutsches Land reicher als das Elsaß. Das Verdienst, sie zu sammeln und einzukleiden, erwerben sich die Brüder Adolf und August Stöber zu Niederbronn. Manche darunter sind ziemlich allgemein bekannt; andere verdienen es zu werden. Zu jenen gehören die von der heiligen Odilie und von dem Riesenfräulein von Nideck; doch ist letztere von den deutschen Dichtern Langbein, Rückert und von Chamisso wohl kaum so glücklich behandelt worden als von ihrer ersten Entdeckerin, Frau Charlotte Engelhart, geborenen Schweighäuser. Durch diese erhielt sie Grimm, aus dessen »Deutschen Sagen« sie in so manche Gedichtsammlung überging. Da jene älteste Bearbeitung nur wenigen zugänglich ist und zugleich als Probe der Straßburger Mundart gelten kann, so teilen wir sie nachstehend mit. Das ehemalige Raubschloß Nideck liegt in der Nähe des Breuschtals an einem wilden Wasserfall, der sich von einer achtzig Fuß hohen Felsenwand stürzt.

Im Waldschloß dort am Wasserfall
Sinn d' Ritter Rise gsinn;
Ä mol kummt's Fräule hrab ins Tal
Unn geht spaziere drinn.
Sie tut bis schier noch Haslach gehn,
Vorm Wald im Ackerfeld
Do blibt sie voll Verwundrung stehn
Unn sieht, wie's Feld wurd bstellt.
Sie luegt dem Ding ä Wil so zu,
Der Pflui, die Ross, die Lütt
Ischer ebs neu; sie geht derzu
Unn denkt: die nimm i mitt!
Drno huurt sie an de Bode hin
Unn spreit ihr Fürti us,
Fangt alles mit der Hand, tut's nin
Unn lauft gar froh noch Hus.
Sie springt de Felswei nuf ganz frisch.
Dort wo der Berg jetzt isch so gäh,
Unn me so krattle muß in d' Höh,
Macht sie nur eine Schritt.
Der Ritter sitzt just noch am Tisch
»Min Kind, was bringste mit?
D'Freud luegt der zu de Auge nus;
Se krom nur gschwind din Fürti us;
Was hesch so Zawelichs drin?«
»O Vatter, Spieldings gar ze nett,
I ha noch nie ebs Schöns so ghett«,
Unn stelltem alles hin.
Unn uf de Tisch stellt sie de Pflui,
D'Bure, unn ihri Roß,
Lauf drum 'erum unn lacht derzu,
Ihr Freud isch gar ze groß.
»Ja Kind, diß isch ken Spieldings nitt,
Do hest ebs Schöns gemacht«,
Saht der Herr Ritter glich unn lacht,
»Geh nimm's nur widder mit!
Die Bure sorje uns für Brot,
Sunsch sterbe mir de Hungertod;
Trah alles widder furt!«
's Fräule krint, der Vatter schilt:
Ȁ Bur mir nit als Spieldings gilt,
I lüd nit, daß me murrt.
Pack alles sachte widder in
Unn trahs aus nemli Plätzel hin
Wo des genomme hest!
Baut nit der Bur sin Ackerfeld,
Seh fehlt's bi uns an Brot unn Geld
In unserm Felsennest!«

Diese auch am Rhein häufig wiederkehrende Sage schließt zuweilen mit der altertümlichem Wendung, daß dem Riesen vor dem winzigen Bauern doch heimlich graut, denn er sagt zu der Tochter: »Tu's weg, mein Kind; wir müssen fort aus diesem Land, und sie werden hier wohnen.« Der Ackerbau, wie alle menschliche Betriebsamkeit, ist dem Riesen verhaßt, er ahnt, daß er und sein Geschlecht einst von Bürgern und Bauern verdrängt werden. Und so spricht diese Sage gleichsam prophetisch aus, was wir in den gewerbefleißigen Wasgautälern erfüllt sahen.

Auch an der großen deutschen Heldensage hat das Elsaß keinen geringen Anteil. Die Katastrophe des nur in Eckeharts lateinischer Umdichtung erhaltenen Liedes von »Walther und Hildegunde« begibt sich im Vogesenwald an dem sogenannten Wasgenstein, der auch in den »Nibelungen« erwähnt wird und von dem Walther in der »Vilkinasage« den Namen trägt. Es ist der höchste Punkt der Vogesen, an welchem vorzeitig die alte Heerstraße von Elsaß nach Lothringen vorbeizog. Der Ort heißt noch heute Framont (Mons fractus) und liegt drei Stunden Weges von der Abtei Senones, sechs von Molsheim, unweit der Quelle der Plaine, die in die Meurthe mündet.

Der durchbrochene Berg wird uns so genau beschrieben wie kaum ein anderer Schauplatz unserer Heldenlieder. Zwei gewaltige Felsen fügen die Häupter zusammen und bilden unten ein enges Tor, zu dem nur ein schmaler Pfad Zutritt gibt. Auf diesem mußten die Reisenden durch die Höhle, welche Räubern oft zum Schlupfwinkel diente. Sie ist unten mit grünem Gras bewachsen, oben vom Gipfel des Felsen überwölbt. Eine weite Aussicht in der Ferne bieten ihre äußeren starren Wände. Dies ist der Wasgenstein der Heldensage, wo Walther von Wasgenstein den kühnen Kampf mit den Helden von Worms focht und Hagen von Tronje, wie ihm der alte Hildebrand in den »Nibelungen« vorwirft, teilnahmslos auf dem Schild saß, während ihm Walther so viele der Freunde schlug. Auch König Pharamunds Grab soll nach der Sage auf diesem Felsen liegen, an den sich noch andere Überlieferungen knüpfen.

Ganz in der Nähe finden sich noch die Trümmer eines alten Schlosses. Ob hier oder auf dem zerstörten Bergschloß Wasenberg bei Niederbronn im unteren Elsaß das urkundlich nachgewiesene Rittergeschlecht derer von Wasichenstein zu Hause war, bleibt noch zu ermitteln. Merkwürdig ist aber das von Mone bekannt gemachte Siegel dieser Ritter, welche sechs abgehauene Hände im Schild führten. Da jenem Walther von Wasgenstein des Heldenlieds im Kampf mit Hagen, als dieser doch endlich zu den Waffen griff, die rechte Hand abgehauen wurde, so ist die Beziehung auf die Sage nicht zu verkennen. Ob Siegfrieds Ermordung im Wasgau oder im Odenwald stattgefunden hat, läßt sich aus dem Lied nicht mit Gewißheit entnehmen. Die Burg, von welcher der grimme Hagen benannt ist, Tronje oder Kirchberg, wird aber im elsässischen Nordgau zu suchen sein. Auf so manchem Blatt der deutschen Volks- und Kulturgeschichte steht der Name des Elsasses dankbar eingetragen. In den Münstern von Thann und Straßburg, wozu noch der des gegenüberliegenden Freiburg zu rechnen ist, hat die deutsche Baukunst das Höchste erreicht, was sich in der Verbindung des Erhabenen mit dem Zierlichen leisten ließ.

Fast jede Stadt, jedes Städtchen des Elsasses hat einen modernen Heiligen, das heißt, einen berühmten Mann hervorgebracht. Bei Mülhausen ist das Städtchen Ensisheim der Geburtsort des bekannten neulateinischen Lyrikers Balde, dessen schwungreiche Oden unser Herder verdeutscht hat. Das benachbarte Kolmar ist mit Recht stolz auf seinen Pfeffel, den liebenswürdigen Greis, der mit dem mythischen Homer das Los leiblicher Blindheit teilte. Man beabsichtigt ihm ein Denkmal zu errichten. Das schönste Denkmal, das Dichtern gesetzt werden könnte, wären wohlfeile, geschmackvolle und fehlerlose Ausgaben ihrer Werke, jener unvergänglichen Denkmäler, die sie sich selber gesetzt haben. Eines solchen Monuments ist freilich noch kein deutscher Dichter gewürdigt worden. Bei Pfeffel, der in Deutschland viel zuwenig bekannt ist, wären namentlich wohlfeile Ausgaben des Gediegensten, was er hervorgebracht hat, zu wünschen. Wenn man aber einst zu der Einsicht gelangen wird, daß wir vor allem solchen Männern Monumente schuldig sind, deren nachwirkende Verdienste gleichwohl nicht durch bleibende Denkmale von ihrer eigenen Stiftung anerkannt werden, wie dies bei Feldherrn, Staatsmännern usw. der Fall ist, so werden die Kolmarer wohl zuerst ihrer Rösselmänner gedenken. Ein Johannes Rösselmann war es, der sie aus der angemaßten Gewalt Walthers von Geroldseck, Bischof von Straßburg, durch eine List befreite, die an die Einnahme Trojas mittels des hölzernen Rosses erinnert. Als nämlich Rudolf von Habsburg das von den Söldnern des Bischofs besetzte Kolmar belagerte, ließ sich Johann Rösselmann in einem riesenmäßigen Faß in die Stadt schaffen, schlüpfte in der Nacht heraus und öffnete, von den berauschten Wächtern unbehindert, den Habsburgern das Tor. – In diesem Sinne hat das arme Dorf Waldbach oder Waldersbach bei Rothau seinem berühmten Seelsorger Friedrich Oberlin, einem der edelsten Menschenfreunde, ein bescheidenes, aber doch mit dem Bild des Unvergeßlichen durch den Straßburger Bildhauer Ohnmacht geziertes Denkmal gewidmet.

Von Kolmar kommen wir auf Schlettstadt, das auch seine Heiligen hat, den Reformator Bucer und den Humanisten Bilde von Rheinach (Beatus Rhenanus). So hat Weißenburg seinen Otfried, Hohenburg seine Heirvat von Landsberg, Kaisersberg seinen Geiler; auch Sebastian Brant und Thomas Murner, aber schwerlich Fischart, waren Elsässer. Von Straßburgs gefeierten Namen nenne ich nur den ältesten, Gottfried von Straßburg, den liebesseligen, süß redenden Dichter des »Tristan«. Auch in der neueren Zeit hat diese Stadt bildend auf Deutschland zurückgewirkt, indem Goethe dort im Kreise geistig erregter Freunde die Jahre verbrachte, welche den ersten Ausströmungen seines Genies unmittelbar vorangingen.

 


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