Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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Sagen von Frankfurt

Die wichtigste Frankfurter Sage ist die von seiner Gründung; von ihr sprechen wir zuletzt, um ihr die Geschichte gegenüberzustellen. Eine andere in Frankfurt spielende Überlieferung, »Der Schelm von Bergen«, habe ich in meinen »Rheinsagen« mitgeteilt. Daß ein Scharfrichter zum Ritter geschlagen wurde, weil er die Kühnheit gehabt hatte, unerkannt mit der Königin zu tanzen, die entehrt geblieben wäre, wenn der Ritterschlag den Schelm nicht ehrlich gemacht hätte, läßt sich nach den Begriffen der späteren Zeit wohl hören. Ein Scelmo de Bergen kommt aber schon in einer Urkunde von 1194 vor. Nun hat von Fichard nachgewiesen, daß die Vollziehung des peinlichen Strafurteils vor Einführung des römischen Rechts, wo sie besonders dazu bestellten Nachrichtern übertragen wurde, in Frankfurt den Verlust der bürgerlichen Ehre nicht nach sich zog und bis zum Jahre 1119 der Vogt, welcher den Blutbann hatte, die Vollziehung der Todesurteile Stellvertretern übertrug, die sehr wohl alten, edlen Geschlechtern angehören konnten. Die Sage ruht also auf modernen Begriffen, und jene Begebenheit kann den Ursprung der Schelme von Bergen nicht erläutern; vielleicht enthält sie aber ein Zeugnis, daß diese Edlen einst als Stellvertreter des Vogts mit Vollziehung der peinlichen Urteile beliehen waren.

Eine andere Sage knüpft sich an den Eschenheimer Turm, den einzigen der alten Stadttürme, der nicht niedergerissen und durch Barrieren ersetzt worden ist. Es ist ein fünfspitziger Turm, wie sie am Mittelrhein so häufig, besonders an Kirchen, vorkommen. Vier kleine Türme sitzen wie die Kindlein an der Tulpenzwiebel an dem größeren Hauptturm fest. Letzteren ziert eine Wetterfahne, in welcher die Zahl Neun ersichtlich ist. Das Weitere in der Sprache der Götter:

Hans Winkelsee, der Wilddieb, im Eschenheimer Turm
Spricht zu der Wetterfahne, da sie bewegt der Sturm:
»Nun hast du neun Nächte mir den Schlaf geraubt
Mit deinem Drehn und Wirbeln immer über meinem Haupt.

Für das bißchen Schießen ist die Qual zu lang,
Und am Ende lautet's wohl gar auf den Strang.
Pfui, das leid'ge Zappeln ist ein schlechter Scherz,
Ich gönn' es keinem Tiere, ich treff' es mitten ins Herz.

Sie wissen nicht in Frankfurt, wie der Hänsel schießt,
Daß man zum Gesindel in den Turm ihn schließt.
Würd' ich heute ledig, ich ließe sie aus Gunst
Wohl eine Probe schauen meiner edlen Schützenkunst.

Ich weiß schon, wie ich's machte: in schlafloser Nacht
Bei ew'gem Fahnenschwirren hab ich's ausgedacht.
Ja, in diese Fahne, zum Gedächtnis meiner Pein,
Mit neun Kugeln schöß' ich den schönsten Neuner hinein.«

Das hört der Kerkermeister und bringt es vor den Rat.
Der Schultheiß spricht: »Die Schützen, was nützen die dem Staat?
Er hat soviel geschossen! Er ist wohl hängenswert;
Jedennoch soll es gelten, wenn er die Red' bewährt.«

Die Schöffen, Rät' und Bürger lassen es geschehn.
»Und ist es denn beschlossen, so mag es gleich ergehn:
Bringt ihm seine Büchse, und sagt ihm ohne Hehl,
Unfehlbar müßt' er hängen, geht eine Kugel nur fehl.«

Der Hänsel nimmt die Büchse und küßt sie auf den Mund:
»Nun tu mir heute wieder die alte Treue kund.
Neun Tage nichts geschossen! So schieß nun eine Neun;
Ich hoff es wettzumachen, es soll dich nimmer gereun.«

Hier standen die des Rates, und welch ein Menschenspiel!
Er richtet seine Büchse und äugelt nach dem Ziel.
Ein Schuß, ein Schuß! Getroffen, und an den rechten Ort:
Seht ihr das runde Löchlein in der Wetterfahne dort?

Gib acht, da schießt er wieder! Und auch nicht abgeblitzt!
Ich seh' ein zweites Löchlein, das bei dem ersten sitzt.
Ein drittes jetzt, ein viertes! Der Hansel blickt so frech:
Mit neun Kugeln schießt er den schönsten Neuner ins Blech.

Die Menge jauchzt, die Räte flüstern unter sich.
»Hans Winkelsee, wir wissen ein schönes Glück für dich:
Uns fehlt ein Schützenhauptmann; willst du der sein, so sag's;
Du solltest dich nicht weigern, es gereut dich eines Tags.«

»Stadtschützenhauptmann begehr ich nicht zu sein;
Ich gehe durch die Wälder mit meiner Büchs allein.
Auf den Dächern klirren die Wimpel mir zu sehr;
Ade, hier war der Hänsel, her kommt der Hänsel nicht mehr.«

Ein wenig verbreitetes, bisher ungedrucktes Volkslied hat eine dritte Frankfurter Sage erhalten, die in Frankfurt jetzt ohne Zweifel so unbekannt ist wie das Lied. Es wurde ganz in meiner Nähe, in Poppelsdorf bei Bonn, aus dem Mund einer liederkundigen Frau von Studierenden aufgeschrieben. Unter diesen befand sich merkwürdigerweise ein Frankfurter. Wir drucken es mit diplomatischer Treue hier ab; der gebildete Leser wird über Eigenheiten des Ausdrucks – namentlich das öftere überflüssige »sich« – hinweg auf den tüchtigen Kern sehen.

Zu Frankfurt an der Brücke,
Da zapfen sie Wein und Bier,
Da haben sie ein Mädchen betrogen,
Betrogen um ihre Ehr.

Der Vater ging über die Gassen,
Er ging nach der Weismutter hin:
»Könnt Ihr meiner Tochter nicht helfen,
Daß sie als eine Jungfer besteht? –«

»Eurer Tochter kann ich wohl helfen,
Daß sie als eine Jungfer besteht,
So wollen wir das Kind umbringen
Und legen's der Magd ins Bett.«

Die Magd war waschen und scheuern,
Sie kam sich des Abends spät heim,
Ihr Bettchen wollt' sie schütteln,
Ein kleines Kind fand sie darein.

Die Magd war sehr erschrocken,
Sie rief sich die Tochter an;
Die Tochter war klug von Sinnen,
Sie rief sich den Vater an:
»Die Magd hat ein kleines Kind krieget,
Sie hat es umgebracht.«

»Hat sie ein kleines Kind krieget
Und hat es umgebracht,
So wollen wir sie verklagen,
Zu Frankfurt am hohen Gericht!«

Die Magd hatt' sich einen Freier,
Der kam sich alle Morgen daher,
Er tät sich nichts mehr als fragen,
Wo seine Herzliebste wär'.

»Sie ist sich fürwahr da draußen,
Sie ist sich fürwahr nicht hier.
Sie hat ein kleines Kind krieget,
Sie hat es umgebracht.«

»Hat sie ein kleines Kind krieget,
Hat sie es umgebracht,
So nehm' ich Gott zum Zeugen,
Daß ich nicht Schuld daran bin.«

Er gab dem Roß die Sporen
Und ritt nach dem Galgen zu:
»Schön Schätzchen, wie hängst du so hohe,
Daß ich dich kaum sehen kann!«

»Ich hänge fürwahr nicht hohe,
Ich sitze auf Gottes Bank,
Die Engel aus dem Himmel,
Sie bringen mir Speis und Trank.«

Er gab dem Roß die Sporen,
Und ritt nach der Obrigkeit:
»Ihr Herren, was habt ihr gerichtet,
Ihr Herren habt unrecht getan.«

»Haben wir unrecht gerichtet,
Haben wir unrecht getan,
So wollen wir sie abschneiden
Und hängen eine andre dran!«

Der Vater kam auf dem Platze [?]
Die Tochter wurde geköpft,
Die Weismutter wurde geradbrecht
Zu Frankfurt am hohen Gericht.

Die steinerne Brücke, an der diese Begebenheit spielt, wird jetzt nicht mehr durch das Schandgemälde gegen die Juden entstellt, für dessen Wegschaffung diese einst große Summen geboten haben sollen. Vergebens sucht man auch nach der Hand, durch welche ein Beil ging mit der Unterschrift:

Wer dieser Brücke Freiheit bricht,
Dem wird sein' frevle Hand gericht't.

Die Freiheit der Brücke bestand nämlich darin, daß keiner den anderen schlagen durfte; doch hatte er die Hand nur dann verwirkt, wenn er ihn blutigschlug.

Noch immer steht aber auf seiner Eisenstange der goldene Hahn, von welchem Grimm aus mündlicher Überlieferung folgendes erzählt: »In der Mitte der Sachsenhäuser Brücke sind zwei Bogen oben zum Teil nur mit Holz zugelegt, damit dies in Kriegszeiten weggenommen und die Verbindung leicht, ohne etwas zu sprengen, gehemmt werden kann. Davon gibt es folgende Sage: Der Baumeister hatte sich verbindlich gemacht, die Brücke bis zu einer bestimmten Zeit zu vollenden. Als diese herannahte, sah er, daß es unmöglich war, und wie nur noch zwei Tage übrig waren, rief er in der Angst den Teufel an und bat um seinen Beistand. Der Teufel erschien und erbot sich, die Brücke in der letzten Nacht fertig zu bauen, wenn ihm der Baumeister dafür das erste lebendige Wesen, das darüberging, übergeben wollte. Der Vertrag wurde geschlossen, und der Teufel baute in der letzten Nacht, ohne daß ein Menschenauge in der Finsternis sehen konnte, wie es zuging, die Brücke ganz richtig fertig. Als nun der erste Morgen anbrach, kam der Baumeister und trieb einen Hahn über die Brücke vor sich her und überlieferte ihn dem Teufel. Dieser aber wollte eine menschliche Seele haben, und wie er sich so betrogen sah, packte er zornig den Hahn, zerriß ihn und warf ihn durch die Brücke, wovon die zwei Löcher entstanden sind, die bis auf den heutigen Tag nicht zugemauert werden können, weil alles in der Nacht wieder zusammenfällt, was tags daran gearbeitet ist. Ein goldener Hahn auf einer Eisenstange steht aber noch jetzt zum Wahrzeichen auf der Brücke.«

Besser als an diesen Sagen erbauen sich vielleicht unsere Leser an folgender Anekdote von dem beliebten Komiker Lux, der noch in Frankfurt im besten Andenken steht und in der kurzen Blütezeit der deutschen Bühne das größte Licht des dortigen Theaters war. Steinweg heißt bekanntlich die Straße, welche von der Hauptwache am Paradeplatz nach dem Schauspielhaus führt. Neben dem Gasthaus »Zum Weidenbusch«, dem »Zum Schwanen« gegenüber, liegt das Haus »Zum alten Schwaben«, damals eine Weinschenke, in der sich die Freunde des Theaters und der Lebenslust zusammenfanden und auch Lux seine Abende und einen Teil der Nächte zu verbringen pflegte. Er ließ es sich wohl sein, hatte aber nicht die Gewohnheit, seine Zeche zu bezahlen. Der Wirt tat, als bemerkte er es nicht, fuhr mit höflicher, aufmerksamer Bedienung fort, unterließ aber nicht, in der Stille fleißig zu buchen. Dies hatte er schon jahrelang fortgesetzt, als er eines Tages die Gelegenheit wahrnahm, dem einsamen Gast die Bücher aufzulegen, damit er sich mit eigenen Augen von dem nicht unbedeutenden Betrag seines Guthabens überzeuge. Er tat dies mit aller Achtung und Schonung für das Zartgefühl des trefflichen Mannes, ja er erklärte sich bereit, die Hälfte der Schuld zu streichen; und auch mit der anderen Hälfte wolle er ihn nicht drängen, sondern ihm volle Zeit lassen, sie terminweise nach Bequemlichkeit abzutragen.

»Großen Dank, Herr Wirt«, versetzte Lux trocken, »für Ihre Freigebigkeit. Sie streichen die eine Hälfte meiner Schuld und machen mich dadurch zu Ihrem beständigen Schuldner. Um Ihnen zu zeigen, daß ich Ihre Großmut zu schätzen weiß, streiche ich hiermit die andere Hälfte. Nun sind wir quitt und haben weiter nichts mehr miteinander zu teilen. Leben Sie wohl, und lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden. Ade!« Hiermit hatte er Stock und Hut genommen und war, ehe jener sich fassen konnte, zur Tür hinaus.

Von Stund an mied er das Haus und die Abendgäste ebenfalls, denn es schmeckte ihnen nicht, wenn der Lux mit seinem gesunden Humor nicht Trank und Speise würzte. Als der Wirt die leeren Tische sah, kroch er zu Kreuz, veranstaltete ein großes Versöhnungsfest, lud den Lux in Person dazu ein und war nur froh, wenn er ihm freie Zehrung gestatten durfte.

 


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