Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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Der Eichelstein

Nach dieser Herzensergießung führte mich der Greis über den Flur seiner Wohnung in das zweite Turmzimmer, dessen nach Südosten gerichtetes Fenster eine Aussicht von überraschender Schönheit darbot. Zwar macht sich jene allmählich ansteigende beackerte Fläche, welche den Namen Hechtsheimer Berg führt, in der Nähe so breit, daß der Blick in das obere Rheintal zu dringen verhindert wird. Sie entzieht ihm selbst das benachbarte Weißenau, dessen Kirchturm allein noch sichtbar bleibt. Aber über dem Hechtsheimer Berg schiebt sich das viel entferntere Gebirge der Bergstraße und des Odenwaldes mit seinen blauen Gipfeln im Halbzirkel vor, und das von der Wendung des Stroms getäuschte Auge wähnt es größtenteils, gleich den Vogesen und dem Donnersberg, auf der linken Rheinseite gelegen.

In der Fläche fragte ich zuerst nach Darmstadt. Um es zu finden, mußte ich mich, von dem Turm der Weißenauer Kirche ausgehend, links halten. Bei der ganz durchsichtigen Luft wurde es dem unbewaffneten Auge völlig erkennbar. Zunächst schließt sich das Gerauer Ländchen an mit Groß- und Klein-Gerau, dann Trebur, dessen Kaiserpalast wir noch öfter zu erwähnen haben, zuletzt der vielfach gewundene Main mit den befestigten Inseln vor der Mündung, dem rötlich strahlenden Kostheim am Ufer, und höher, gleichsam schwelgend auf seinem weintriefenden Hügel, das selige Hochheim. Unmittelbar uns zu Füßen lag auf dem Jakobsberg die Zitadelle, welche mein Führer nach ihrem ersten Erbauer wohl auch die Schweikardsburg nannte, so wie bei ihm der Eichelstein, der als stumpfer Turm auf der Spitze des Forts steht, für gewöhnlich der Drusus hieß. Beide lagen noch innerhalb des alten römischen Kastells. Die Schweikardsburg bildet ein Viereck mit zugespitzten Winkeln. Wir können sie mit ihren vier Bastionen und den im inneren Raum stehenden Gebäuden, von welchen das größere, neuere, der österreichischen, die kleineren, welche noch Reste des Jakobsberger Klosters sind, der preußischen Besatzung dienen, so genau übersehen, daß wir es später nicht nötig finden würden, eine Erlaubniskarte zu ihrem Besuch zu lösen, wenn nicht der Eichelstein, dieses rätselhafte Altertum, eine Besichtigung in der Nähe verdiente. Überdies wird man durch die reizende Aussicht, welche diesem Berg schon früh den Namen Mons speciosus erwarb, für die Mühe mehr als reichlich belohnt. Einstweilen verlassen wir aber unseren Standpunkt am zweiten Fenster des Stephansturms um so weniger, als eben der ehrwürdige Türmer den Faden seiner Mitteilungen wieder aufnimmt.

»Als sich Drusus durch die Befestigung von Mainz im Rücken gesichert hatte, unternahm er seinen letzten Heerzug in das jenseitige Germanien. Bis an die Elbe drang er vor, mehrmals versuchte er vergebens, hinüberzusetzen, zuletzt mußte er sich zurückziehen. Denn ein Weib von mehr als menschlicher Gestalt begegnete ihm und sprach: ›Drusus, wohin noch reißt dich deine unbegrenzte Begierde? Das Schicksal vergönnt dir nicht, dies alles zu schauen. Kehr um, du stehst am Ziel deiner Taten und deines Lebens!‹ – Durch diese Erscheinung erschreckt, brach er mit dem Heer auf und zog in Eilmärschen dem Rhein zu. Aber in der Wetterau stürzte er mit dem Pferd, brach sich den Schenkel und starb am dreißigsten Tag. Tribunen und Zenturionen trugen den entseelten Helden erst nach Moguntiacum, dann nach Rom, wohin ihn Tiberius im härtesten Winter zu Fuß begleitete. Wie hier sein Leichenbegängnis gefeiert wurde, kümmert uns nicht, wohl aber, was zu seinem Gedächtnis in Mainz geschah. Von zweien Denkmälern, welche ihm die öffentliche Dankbarkeit widmete, hat man gewisse Kunde. Sie sind bis auf unsere Zeit gekommen und erst neuerlich verschwunden. Von einem dritten, das noch unerschütterlich fest steht, ist es zweifelhaft, ob es zu seiner Ehre errichtet wurde. Das erste, der einst an der Bockspforte eingemauerte viereckige Denkstein, zeigte den Feldherrn in Lebensgröße halb erhaben ausgehauen, ganz geharnischt, mit zurückgeschlagenem Kriegsmantel, eine Stierhaut über dem Kopf, den Spieß in der Rechten, in der Linken den Schild. Auf jeder der vier Seiten las man die Worte: ›In memoriam Drusi Germanici.‹ Das zweite war der dreieckige Altar, der einst bei dem sogenannten Drusenloch an der dekumanischen Pforte stand. Das dritte endlich, den Eichelstein, sehen Sie hier vor sich. Eine ziemlich konstante Tradition versichert, es sei ein Denkmal des Drusus, aber entscheidende Zeugnisse fehlen. Im Mittelalter wußte man allerlei Fabeln von ihm zu erzählen; z. B. ein heidnischer König habe an die Auferstehung und das Jüngste Gericht nicht glauben wollen und auf seinem Totenbett befohlen, einen solchen Berg auf sein Grab zu setzen, daß er so leicht nicht heraus könne. Eine Variation dieser Sage gibt dem heidnischen König den Namen Eigel, den, wie ich höre, auch der nordische Tell, ein fabelhafter Schütze, geführt haben soll, auf den deshalb ein gewisser Mone das Denkmal beziehe. Eine andere Fabel, welche die römische Zeit und die der Kreuzzüge vermengt, berichtet, ein König namens Aureolus, dem Agrippa verwandt, sei bei einem Sturm auf Sidon tödlich verwundet worden und zu Worms gestorben. Die Mainzer, deren Wohltäter er gewesen wäre, hätten darauf Sidon erobert und große Steine von dessen Burg zu Schiff heimgebracht, aus denen sie den Eichelstein zu Ehren des Königs erbaut hätten. In allen diesen Überlieferungen erscheint der Eichelstein immer als ein Grabdenkmal, und dies ist wohl alles, was man daraus entnehmen kann, wenn man nicht auch darauf Gewicht legen will, daß jener König nicht Eichel, sondern Eigel hieß.«

In der Tat glaube ich, wenn es mir erlaubt ist, den Erzähler zu unterbrechen, sollte man das Denkmal Eigelstein, nicht Eichelstein heißen. Jenen Namen führt auch zu Köln ein uraltes Stadttor. Das dritte Denkmal, das hier in Betracht kommt, ist das bei Ygel in der Nähe von Trier, dessen römischer Ursprung, wie der des unseren, unzweifelhaft ist. Hier erhebt sich, nach Goethe, über dem Ganzen ein Adler, den Ganymed entführend, als ein Sinnbild der Unsterblichkeit, wodurch es sich gleichfalls als ein Grabdenkmal zu erkennen gibt. Auch bei unserem Eigelstein vermutet man, daß einst ein Adler seine Spitze geziert habe, und wenn er wirklich einem Verstorbenen zu Ehren errichtet wurde, wie es fast gewiß ist, so wird der bei Apotheosen gebräuchliche Adler nicht gefehlt haben. Die Namen Eigel und Ygel von Aquila oder dem gleichbedeutenden deutschen Agita abzuleiten, hat kein Bedenken, und man braucht das französische Aigle nicht zu Hilfe zu rufen. Die Ableitung von Eichel, weil der Turm einst eine eiförmige Zurundung gehabt und einer Eichel geglichen habe, scheint gesucht, da, die Zurundung zugegeben, die Ähnlichkeit mit der Eichel doch keineswegs naheliegt. Auch ist die Wortform »Eichel« – statt Eigel, das die Sage und die Analogie der Kölner und Trierer Denkmale verbürgt – wohl erst infolge der gelehrten Hypothese in die Mainzer Mundart gekommen.

»Nur die innere Gußmauer des Eigelsteins«, fuhr der Türmer fort, »hat sich erhalten; die Bekleidung mit starken Quadern ist, wie bei den Pfeilern der Wasserleitung, verschwunden. Eine turmartige Aushöhlung hatte er ursprünglich nicht, erst der Kurfürst Anselm Franz von Ingelheim ließ durch seine Mitte eine starke Wendeltreppe brechen, durch die man hinaufsteigen und die herrliche Aussicht genießen kann.

 


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