Karl Simrock
Der Rhein
Karl Simrock

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Die Hauptstraßen

Doch der Ankömmling hat keine Zeit, sich solchen Erwägungen hinzugeben; er überläßt sich nicht einmal dem Genuß des Anblicks, sondern eilt der Stadt zu, die ihn, obgleich eine Festung, doch mit offenen Toren statt Armen empfängt. Oft und gern wird er künftig, wenn sein Aufenthalt von längerer Dauer ist, nach der Brücke zurückkehren. Ist er von kürzerer, will der mit dem Dampfschiff angekommene Fremdling vielleicht schon morgen oder in einer halben Stunde nach Worms oder Bingen, nach Frankfurt oder Alzey abgehen, so vertraue er sich meiner Führung. Ich bin nicht zum ersten Mal hier; Mainz, die Geburtsstadt meiner Eltern, ist mir lieb und wert, es liegt mir dran, sie aus dem Ruf zu bringen, als ob sie aus engen, krummen und winkeligen Gassen bestünde.

Nach einem kurzen Spaziergang auf der Schiffbrücke führe ich meinen Gast dem näheren Eisentor vorbei, durch den Turm des Fischtors auf den Platz vor der preußischen Hauptwache und dem ältesten Teil des ehrwürdigen Doms, wo einst die zierliche Liebfrauenkirche stand, ein Musterbild gotischer Baukunst, das erst 1804 als ein Opfer der Zerstörungswut eines modernen Herostratus, des schon erwähnten Herrn St. Far, gefallen ist. Ihre Abtragung wurde für die Summe von 1200 Franken versteigert. Der dadurch gewonnene Raum bildet in Verbindung mit dem nun folgenden Heu-, dem Speise- und dem Fruchtmarkt, welch letzterer auch einen berühmteren Namen führt, auf der Ost- und Nordseite des Doms einen zwar nicht regelmäßigen, aber weiten, länglichen Platz, der, einer Straße ähnlich, den Gedanken an die berüchtigten Winkelgäßchen von Mainz nicht aufkommen läßt. Den Dom zu beschauen ist die Zeit zu kurz, ich führe den Fremden nur einen Augenblick hinein, um sein Erstaunen über die Großartigkeit dieses Baus und seinen Reichtum an Denkmälern, wodurch er alle mir bekannten Kirchen übertrifft, zu belauschen. Durch die Gotthartskapelle treten wir hinaus und gelangen durch das Gewühl des Marktes auf den Gutenbergplatz, wo zwischen dem Theater und der künftigen Fruchthalle vor der Johanniskirche Thorwaldsens Meisterwerk, das riesenhafte Standbild des Erfinders der Buchdruckerkunst, meinen eiligen Reisenden von neuem zu fesseln droht. Aber er reißt sich endlich los und folgt mir durch die geräumige Ludwigsstraße, die einst Napoleons Namen führen sollte, nach dem Tiermarkt, der sonst Dietmarkt hieß, wo uns der ehemalige gräflich-bassenheimische Palast zuerst in die Augen fällt. Zwischen ihm und dem vormals gräflich-steinischen Hof läuft die Gaugasse bergauf zu dem gleichnamigen Tor, an der Stephanskirche vorbei, von deren Turm sich Mainz und seine Umgegend noch paradiesischer darstellen als von der nur für den ersten Anlauf genügenden Brücke. Um zu dieser zurückzukehren, eilen wir durch die Tiermarktstraße auf den Platz vor dem Münstertor, durch das mein Reisender nach Bingen gelangen könnte, wie vorhin durch das Gautor nach Alzey.

Wir wenden uns aber rechts und treten in die breite, schnurgerade Straße, die unter dem Namen Große Bleiche fast so berühmt ist wie die Zeil zu Frankfurt, der sie zwar an Opulenz nachsteht, die sie aber durch Regelmäßigkeit übertrifft. Hier wie vorher in der Tiermarktstraße nenne ich ihm die Namen der vornehmsten Paläste, an denen wir vorüberschreiten, und werfe mit den Namen Erthal, Schönborn, Wolf-Metternich, Dalberg, Stadion wie mit Rechenpfennigen um mich. Auf dem Platz des Obeliskenbrunnens zeige ich ihm die Bibliothek, die Gemäldesammlung und das städtische Museum, die das alles unter dem Namen »Der Bursch« bekannte Eckhaus enthält, nur im Flug; warne ihn vor der astronomischen Uhr, deren Beschreibung und Präkonisierung niemand zur Betrachtung der Kunstschätze gelangen läßt, beschäftige sein Ohr noch eine Weile mit Inkunabeln, Psalteriums, Katholikons, Votiv- und Legionensteinen, Altären, karolingischen Säulenknäufen, bis ich ihn glücklich an das galoppierende goldene Roß im Fronton der preußischen Artilleriekaserne gebracht habe.

Mit wenig Schritten stehen wir vor der Peterskirche auf dem Paradeplatz, schreiten zwischen den Resten des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, das jetzt Handelszwecken dienen muß, und dem deutschen Ordenshaus, dem gegenwärtigen großherzoglichen Palast, durch und haben nun den Rhein und die Landungsplätze der Dampfschiffe wieder erreicht, wo ich den hier aufgegabelten Traveller mit den glänzendsten Vorstellungen von den räumlichen Verhältnissen von Mainz entlassen könnte. Damit ihm aber diese nicht wieder genommen werden, wenn ich ihn seiner eigenen Führung zurückgäbe, bringe ich ihn im Hof von Holland oder im Rheinischen Hof, einem der beiden glänzenden, unmittelbar am Rhein gelegenen Hotels unter, wo Retourwagen nach allen Enden der Welt zu seiner Fortschaffung bereitstehen; oder will er mit der Post reisen, so braucht er, um diese zu finden, nur durch das Eisentor nach den Drei Reichskronen zu gehen, einem trefflichen, auf dem geräumigen Platz Zum Brand gelegenen Gasthof.

 


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