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Als sich unter den ersten Frankenkönigen das durch die wiederholten Einfälle der Barbaren fast ganz zerstörte Mainz allmählich aus seinem Schutt emporrichtete, entstanden, in der Richtung vom Rhein nach dem Kästrich, drei Kirchen nebeneinander: zunächst dem Rhein die Liebfrauenkirche, in der Mitte der Dom und gegen den Kästrich das alte Baptisterium des heiligen Johannes. Letztere jetzt der evangelischen Gemeinde eingeräumte Kirche ist ihrer Stiftung nach die älteste unter den dreien. Um das Jahr 534 soll sie der Bischof Sidonius, durch die Freigebigkeit Berthoaras, der Tochter König Theodeberts, des Enkels Chlodwigs unterstützt, als Taufkirche gebaut haben. Mehrere Jahrhunderte blieb sie, die noch späterhin in Urkunden unter dem Namen des alten Doms vorkommt, die Hauptkirche der Stadt und des Erzstifts, weshalb auch in ihr der Leichnam des Apostels der Deutschen niedergesetzt und sein Herz begraben wurde. Aber schon zu den Zeiten Bonifaz' war neben ihr die alte St.-Martins-Kirche entstanden, deren Stiftung in das sechste Jahrhundert hinüberreicht. An der Stelle dieser älteren Martinskirche führte Willigis die neue Domkirche auf. Sie brannte aber am Tag ihrer Einweihung wieder ab, und an dem heutigen Dom gehört nur noch der höchst einfache östliche Chor mit den beiden Armen des Kreuzes dem ursprünglichen Bau an. Willigis fing sogleich wieder an zu bauen, aber erst Bardo weihte den neuen Dom in Gegenwart Konrads des Saliers feierlich ein.
Am jüngsten ist der Ursprung der dritten, Unserer Lieben Frau gewidmeten Kirche (B. M. V. ad gradus), welche zwar schon 805 in Urkunden vorkommt, doch wohl erst nach 1084 von Erzbischof Siegfried I. ausgebaut wurde. Willigis kann sie weder gegründet noch ihr die jetzt am Dom befindlichen vielbesprochenen ehernen Türflügel geschenkt haben. Mehrmals brannte sie ab, doch immer schöner erhob sie sich aus der Asche. Der letzte, 1804 niedergerissene Bau fiel in die Blütezeit des gotischen Stils, und ihr unschätzbares, das Weltgericht und die Auferstehung darstellendes Portal, das mit dem Straßburger Münster und dem Kölner Dom zu den größten Merkwürdigkeiten am Rheinstrom gezählt wurde, zeigte denselben in seiner reichsten und schönsten Entwicklung. Von dieser Herrlichkeit ist uns nichts erhalten als die von Heinrich Brühl 1801 entworfene Zeichnung und Bernhard Hundeshagens noch nicht veröffentlichte Restauration, welche zur höchsten Bewunderung hinreißt. Letzterer besitzt auch viele der Figuren, welche die Nischen zwischen den Pfeilern ausfüllten, namentlich das Hauptbild, die Himmelskönigin mit dem Christuskind auf dem Arm, die zwischen den Eingängen auf einer schlanken, zierlich gearbeiteten Säule unter einem von Engeln getragenen Thronhimmel stand.
Gerade wie hier neben der Hauptkirche zum heiligen Martin die Taufkirche zum heiligen Johannes stand, so war es zu Tours in Frankreich und zu Worms der gleiche Fall, wo, wie zu Mainz, die Taufkirche älter gewesen ist als der Dom. Und wie sich zu Mainz hinter dem östlichen Chor des Doms die Liebfrauenkirche zu den Greden (ad gradus) erhob, so fand es sich in Köln und Trier wieder, so daß es Mainz allen diesen Städten gleich- und zuvortat. Mit dem Dom zu Köln darf sich der Mainzer zwar nicht messen, er hat weder dessen riesige Verhältnisse noch ist er so aus einem Guß in der Zeit entstanden, wo die eigentümliche Baukunst des Mittelalters ihre höchste Vollendung erreicht hatte; dafür ist er aber auch kein Torso geblieben, und seine ungleichartigen und doch so harmonisch als möglich verbundenen Teile reichen meist in ein höheres Alter zurück. Wie wir gerne in einer Stadt weilen, deren Häuser und Straßen von den verschiedensten Zeiten zu uns sprechen; wie es uns entzückt, was in Köln selber mehr noch als in dem so oft bombardierten Mainz der Fall ist, die Geschichte gleichsam architektonisch vorgetragen zu sehen, so hat der Besuch des Mainzer Doms, dessen Bogen und Pfeiler, dessen zahllose Denkmäler und Kunstschätze uns bald von den fernsten, bald von den neuesten Zeiten unterhalten und fast zehn Jahrhunderten zum Dolmetscher dienen, gleiche, ja wegen der räumlichen Nähe der entlegensten Epochen noch größere Reize. Sechsmal hat die Flamme diese Hallen durchwütet, alles Brennbare verzehrt und selbst feste Steinmauern so durchfressen, daß sie zweimal von Grund aus neu aufgeführt werden mußten. Diese mächtigen Türme, gleich flehenden Armen zum Himmel emporgerichtet, reizten seinen Zorn nur, statt ihn zu versöhnen, und die Glocken droben auf ihren Stühlen, bei drohenden Ungewittern geschwungen, zogen die Blitze, die sie brechen sollten, vielmehr heran. Was der Wetterstrahl verschonte, das verheerten die Stürme, welche Balken von Kelterbaumdicke bis nach Hochheim entführten, wobei freilich, wie die Zeitgenossen versichern, der Teufel im Spiel war.
Auch die kleinen Leidenschaften der Menschen wurden dem Gotteshaus verderblich. Daß Arnold von Seelenhofen den Domschatz angegriffen hatte, brachte die Bürger so gegen ihn auf, daß sie im Verlauf des Streits die Kirche erbrachen, gleichfalls beraubten und dann in Verteidigungszustand setzten, um sich seiner als einer starken Feste gegen den heranziehenden Erzbischof zu bedienen.
Einige Jahrhunderte später wollten die Schweden den Dom in die Luft sprengen, weil die Ingenieure an seiner Stelle eine Sternschanze zu errichten gedachten. Gustav Adolf verschonte ihn zwar, ließ aber, zum Zeichen, daß es in seiner Gewalt gestanden hätte, ihn zu zerstören, die Ecken der Pfeilerbasen wegschlagen. Er selbst ritt vom Leichhof her in das Gotteshaus, tränkte sein Pferd aus dem Weihwasserbecken zur Linken und schlug von den beiden Pilastern am Fuß der Treppe mit eigener Hand mehrere Stücke nieder, deren Lücken noch jetzt der Schwedenhieb heißen. Nach dem letzten, durch die Belagerung von 1797 herbeigeführten Brand mußte der verödete Tempel zehn Jahre zum Fouragemagazin dienen; im Jahr 1813 zwang man ihn, sechstausend flüchtige Franzosen zu beherbergen, hierauf wurde er zum Schlachthaus für die Garnison ernannt und erhielt endlich seine Beförderung zum Salz- und Getreidemagazin, Ehrenstellen, die er sehr willkommen heißen mußte, denn so entging er wenigstens der völligen Demolierung, welche ihm der sonst verdiente Präfekt Jean Bon St. André unter dem Vorgeben, daß er eine Ruine und keiner Wiederherstellung mehr fähig sei, geschworen hatte. Aber der edle Portalis und Napoleon wurden seine Retter. Alle diese Gefahren hat das ehrwürdige Gebäude bestanden, so vielen Schicksalsschlägen getrotzt, und aus dem Raub und Brand der Jahrhunderte erhebt es sich jetzt in seinem vorigen Glanz, ja durch die liebevolle Fürsorge der Gläubigen und Kunstfreunde noch verschönt und bereichert. Der zugleich freundliche und erhebende Eindruck, den der Dom in seiner jetzigen Restauration gewährt, läßt uns nicht ahnen, in welchen Wechselfällen, welchen Drangsalen er diese heitere Stirn bewahrt hat.
Der Fortschritt in der Entwicklung des Baustils, wie ihn der Dom in steinernen Urkunden zeigt, bewegt sich von der uralten Tür auf dem Goldschmiedsplätzchen neben der preußischen Hauptwache und jener, welche zur Linken des Pfarrchors in die Vorhalle des südlichen Seitenschiffs führt, über den genannten östlichen Chor, springt nach der Gotthartskapelle vor, kehrt ins Schiff der Kirche zurück, begibt sich ins Kapitelhaus – die sogenannte Memorie –, gelangt darauf in das westliche Kreuz mit dem bischöflichen Chor und der Sakristei und zerstreut sich endlich in die Kapellen zu beiden Seiten der Nebenschiffe. Jene uralten Türen im vorbyzantinischen, das ist römischen Stil erinnern ganz an die wenigen Überreste karolingischer Baukunst, als wären sie von der älteren Martinskirche, welche Willigis vorfand, übriggeblieben. Der östliche Chor mit seinen strengen und einfachen Verhältnissen, wie sie an der steinernen Kanzel und den Fenstervertiefungen auffallen, zeigt – wie auch das, was an Fenstern und Abseiten von Bardos Erneuerung übriggeblieben sein mag –, den reinen Rundbogen, der sich auch an der Gotthartskapelle (um 1136) noch nicht verleugnet. Die um 1191 erneuerten Gewölbe des Mittelschiffs haben dagegen in ihren Gurtbogen schon eine gelinde Zuspitzung des reinen Halbkreises; an dem Kreuzgewölbe, das den bischöflichen Turm mit der Kuppel trägt, tritt der Spitzbogen noch mehr hervor, und die Gurtbogen des westlichen Chors sowie der Pfeiler, welcher zur Befestigung des Gewölbes und des Turms in ziemlich später Zeit vor den Pfarrchor gesetzt wurde, stellen ihn in seiner vollen Entfaltung dar, nicht weniger die ganz gotischen Seitenkapellen. Die Meinung, daß der westliche Chor erst angebaut worden sei, als dieser Pfeiler den östlichen versperrt habe, widerlegt sich aus den scharfen Spitzbogen, welche er bildet und die der westliche Chor in gleicher Entschiedenheit noch nicht überall zeigt. Vielmehr rief diesen das Bedürfnis hervor, da der Dom nicht bloß als Hauptkirche der Stadt, sondern als Kathedrale des Erzstifts, als Metropolitankirche des gesamten Deutschland dienen sollte, mithin wohl Grund war, dem bescheidenen, räumlich beschränkten Pfarrchor den großartigeren und reicher ausgestatteten bischöflichen entgegenzustellen. Als später jener Pfeiler den östlichen Chor verdeckte und der westliche allein dem Volk noch sichtbar blieb, mußte diesem eine Sonderbarkeit auffallen. Anfänglich stand nämlich im westlichen Chor der Hochaltar ganz am Ende, wo jetzt der bischöfliche Thron ist, und zwar so, daß der dahinterstehende Priester das Gesicht gegen Osten kehrte; daher war es das Wahrzeichen des Doms, daß der messelesende Priester sich beim Dominus vobiscum nicht herumdrehte, weil er die Gemeinde, welche er segnen sollte, schon vor sich hatte. Heutzutage gilt dies nicht mehr, da der Hochaltar jetzt unter der Kuppel steht, und zwar so, daß der zelebrierende Priester das Antlitz gegen Westen wendet, was nicht bloß gegen die christliche Observanz, sondern gegen den Brauch aller Völker verstößt und um so weniger zu billigen ist, als jene Sitte nicht auf willkürlicher Übereinkunft, sondern auf einem Naturgefühl beruht, indem das Gemüt des Betenden, wenn er nach Morgen blickt, mit dem Umschwung der Erde der Fortbewegung aller Himmelskörper in gleicher Strebung verharrt, mit der ihn die entgegengesetzte Richtung in Widerspruch brächte. Wahrzeichen des Doms kann freilich diese Abweichung von der Ordnung ebensogut sein als jene ältere, keiner Regel zuwiderlaufende Sonderbarkeit.