Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Unter dem Titel »Dreie gegen Einen« erzählte die ›Frankfurter Zeitung‹ kürzlich von einem »Stück kapitalistischen Machtkampfes«. Die Geschichte ist wert, in großen Zügen nacherzählt zu werden. Eine wormser Lederfabrik war in Schwierigkeiten geraten und brauchte eine Atempause, um sich umzustellen. Die beteiligten Banken waren einverstanden, und die Sanierung ging planmäßig und hoffnungsvoll vor sich. Die Arbeitsmenge konnte erhöht werden, und Mitte 1930 waren schon 35 Prozent der Forderungen zurückgezahlt. Da platzte im Herbst plötzlich die Nachricht herein, daß die drei Hauptkonkurrenten der Firma einen maßgeblichen Teil der Bankforderungen, nämlich 56 Prozent, erworben hätten. Jetzt saß also die Konkurrenz im Haus und verlangte Einblick in die Geschäftsgebarung, und der Konflikt war da. Die Firma versuchte ein Arrangement und fand auch Hilfe, um die drei neuen Gläubiger abzufinden, die allerdings nicht hundertprozentig hätten befriedigt werden können. Die Auseinandersetzung drohte langwierig zu werden, und um ihre sechshundert Arbeiter vor der Entlassung zu schützen, verkaufte die Firma das Werk an eine ihr noch erhaltene Bankverbindung. Da stellte die Konkurrenzgruppe kaltblütig den Konkursantrag und erwirkte ein gerichtliches Veräußerungsverbot. Die Firma hat Beschwerde eingelegt; die Angelegenheit schwebt noch.
Ein Drama aus dem Leben unsrer Zeit, nennt die ›Frankfurter Zeitung‹ diesen Vorgang, in dem sich wichtiges von den gegenwärtigen Triebkräften und Methoden widerspiegle. Fügen wir dem hinzu, was die Frankfurterin nicht ausspricht, wenn sie es auch andeutet. Der Kapitalismus ist nicht mehr imstande, in den Wirrwarr dieser Notzeit Ordnung hineinzubringen. Seine Methoden sind die eines juristisch kouvertierten Faustrechts. Er kennt keinen Gemeinsinn, keine Schonung. Er hat heute, in seiner größten Daseinskrise, noch immer nicht die rüden Verelendungstendenzen seiner stürmischen Flegeljahre überwunden. Wie kann man von ihm Verständnis für die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse erwarten, wenn er innerhalb seiner eignen Klasse nur die Prinzipien einer schroffen und rücksichtslosen Draufgängerei gegenüber Schwächern gelten läßt? Wie kann man von ihm Solidarität mit der Ganzheit des Volks erwarten, wenn er seine Raubtiergelüste nicht vor einem Niederbrechenden der eignen Art zügeln kann?
Vielleicht könnte ein aufgeklärter Kapitalismus, der auf gefährdete Außenposten zu verzichten weiß, nochmals seine Lebensdauer strecken. Dessen heutige Träger jedoch bemühen sich krampfhaft um den Nachweis, daß »aufgeklärter Kapitalismus« ein Widerspruch in sich ist, daß die Devise noch immer lautet: Alle gegen Alle!
*
Der Herr Reichsgerichtspräsident Doktor Bumke hat einen Vergleich zwischen dem Reich und Thüringen zuwege gebracht. Das heißt: der Herr Reichsgerichtspräsident hat für die Niederlage des Reichs eine etwas gefälligere Formel gefunden. Thüringen erhält die gesperrten Polizeigelder als Weihnachtsgratifikation, dafür aber soll das »Gesamtministerium« wachen, daß der nationalsozialistische Innenminister in seinem Ressort keine einseitige Parteipolitik treibt. Da das thüringische Landesministerium aus einem volksparteilichen Angsthasen und ein paar Philistern vom Landbund besteht, die allesamt nicht wissen, wo Gott wohnt, so bedeutet dies Ergebnis den vollen Triumph Fricks, der als gelernter Demagoge seine organisierten Massen gut zu bewegen weiß und als gelernter Beamter mit dem bureaukratischen Apparat leicht fertig wird. Herr Bumke hat durch diesen Vergleich die Republik ernstlich geschädigt, sich aber eine Ehrenbank im Dritten Reich gesichert.
Der Besiegte dieses sogenannten Vergleichs ist Joseph Wirth. Schon neulich, als er den Remarque-Film ohne Schwertstreich preisgab, war Herr Wirth definitiv auf die Verlustliste zu setzen. Er kennt die Größe seiner Niederlage, sein Verzicht auf die Herausgeberschaft der ›Deutschen Republik‹ beweist, daß er ein Blatt, das schwarzrotgoldene Ideologie kultiviert, nicht mehr mit seinem Namen zu decken vermag. Setzen wir drei Kreuze auf den Grabstein des tapfern Republikaners Joseph Wirth.
Wahrscheinlich wird den Vergleich mit Frick niemand schärfer verurteilen als Wirth selbst, niemand die verlorene Bataille des Verfassungsstaates härter empfinden als er. Wenn ihn Männer seines Vertrauens jetzt fragten, warum er dem zugestimmt habe, warum er nicht schon nach dem Spruch der Oberprüfstelle um seinen Abschied eingekommen sei, würde er wahrscheinlich antworten: er bleibe nur, um ärgeres zu verhindern. Wir kennen Weise und Text. So setzt einer nach dem Andern seinen Ruf zu, immer »um zu verhindern.« Herr Wirth hat nichts verhindert als eine klare Front. Wenn er rechtzeitig ausgesprungen wäre, so gälte er heute als mutiger Mann und Hoffnung für morgen; er hat sich selbst um die Möglichkeit gebracht, Mittelpunkt des republikanischen Widerstandes zu werden. Es gäbe einige Illusionen über das Kabinett Brüning weniger, wenn Wirth nicht den schlechten Handel mit seinem geachteten Namen gedeckt hätte. Kein Politiker, der auf sich hält, sollte sich dazu hergeben, als demokratischer Wandschirm zu fungieren, hinter dem ganz andre Geister am Werke sind.
An dieser Stelle ist im Laufe der Jahre oft von Joseph Wirth die Rede gewesen. Einst freudig zustimmend, dann immer skeptischer. Jetzt bleibt nichts als die schlichte Registrierung: Mann über Bord! Dabei soll auch jetzt zugestanden werden, daß Wirth wohl im besten Glauben gehandelt hat und am Ende einem System zum Opfer gefallen ist, dessen Perfidie er nicht gewachsen war: dem System Brüning. Schließlich ist die Auseinandersetzung mit einer widerspenstigen Landesregierung nicht allein Sache des Reichsinnenministers sondern ebensogut die des Reichskanzlers. Wenn ein Landesminister so unverschämt frondiert, wie es Frick tat, so ist das mehr als eine Ressortangelegenheit. Was vorlag war: Aufsäßigkeit Thüringens gegen das Reich; gemacht hat man daraus: einen Konflikt Thüringens mit einem allzu rechthaberischen Reichsinnenminister, der nur durch einen Unparteiischen zum Einlenken bewogen werden konnte. Hier hätte der Reichskanzler als verantwortlicher Führer des Kabinetts seine volle Autorität einsetzen müssen. Im Jahre Dreiundzwanzig bestand Reichskanzler Stresemann auf der Strafexekution gegen Sachsen und Thüringen; Ebert, Geßler und Seeckt traten auf seine Seite, die sozialdemokratischen Minister verschwanden still. Der Innenminister Wirth aber ist ganz allein geblieben, sein Reichskanzler stellte sich tot, wie bei allen wichtigen Entscheidungen. Wir haben vor geraumer Zeit schon festgestellt, daß es zum System Brüning gehört, die nicht von der Rechten kommenden Minister sich abnutzen zu lassen. Der noch immer sehr wichtige Herr Treviranus, zum Beispiel, wirkt »ohne Portefeuille«; seit er seine törichten Reden eingestellt hat, ist er überhaupt nicht mehr zu fassen. Wirth, auf sich allein angewiesen, durfte sich in dem Zwist mit Frick aufreiben, Curtius, von den Hetzhunden des Nationalismus in die Ecke getrieben, versucht einen unvermittelten Kurswechsel, der ihn nicht retten wird. Und wenn sich in nächster Zeit herausstellen wird, daß es mit dem Finanzprogramm nicht recht klappt, dann wird auch der joviale Dietrich den tobenden Interessentenhaufen zum Fraße vorgeworfen werden, obgleich jedes Kind weiß, daß Brüning selbst bei den Finanzplänen ausschlaggebend gewesen ist und daß sich die Referenten des Finanzministeriums bei jeder Frage von Belang nicht an den heitern Propagandisten der Seeweine wenden sondern lieber gleich an den Chef des Kabinetts selbst. Herr Brüning schont sich, und er weiß, wozu er sich schont. Wenn in absehbarer Zeit Hugenbergsche und Hitlersche Parteiminister um Herrn Brüning sitzen, wird man staunen, wie gesprächig der schweigsame Mann sein kann, wie ritterlich er vor bedrohte Kollegen treten kann.
Die Verfassung ist nur noch dazu da, um der Reaktion die angenehmem Möglichkeiten der Legalität zu sichern. Die Verfassung ist nur noch ein tückisches Fangnetz für allzu loyale Republikaner, die nicht wagen, mit einem Ruck die papiernen Maschen zu zerreißen. Der wirkliche Kampfplatz ist nicht mehr der Boden des Verfassungsstaates. Wer dem Fascismus mit Erfolg begegnen will, muß sich auf sein eignes Aufmarschgelände begeben und ihn dort zu treffen suchen.
*
Jeden Abend kommt es im Ufa-Palast am Zoo zu Krawallszenen. Hugenbergs »Flötenkonzert«, in seiner Mischung von aktueller Verhetzung und zeitlosem Kitsch, wird von den Berlinern nicht widerspruchlos geschluckt. Die Polizei wirft noch immer hinaus, zeigt sich aber nicht mehr so parteiisch wie bei der Premiere. Der Polizeioffizier, der damals eine unangebrachte und ruhestörende Ansprache gehalten hat, soll inzwischen sogar vom Dienst suspendiert worden sein. Warum aber verlangt die preußische Regierung nicht ein Verbot dieses Films? Jeden Abend veranstalten Massen von Stahlhelmern im Ufa-Palast ihre antirepublikanischen Demonstrationen, die Lokalanzeiger-Sottisen, die von der Leinewand tönen, werden durch einstudierte Zwischenrufe unterstrichen. Es sind wiederholt Personen beobachtet worden, die an bestimmten Stellen den Arm heben, worauf Beifall dröhnt. Es gibt auch keine Bestimmung, wonach Äußerungen des Mißfallens nicht gestattet sind. Und die Zischer werden jeden Abend belästigt und körperlich bedroht.
Die Zensur arbeitet. Das Ehedrama Döblins ist in München verboten worden. In aller Heimlichkeit ist von der Prüfkammer Seeger ein Kriegsschuldfilm abgewürgt worden. Und da sollte eine Albernheit zur Glorifizierung imperialistischer Kriege anstandslos passieren dürfen, ein Machwerk, das von Geschichtslügen dicht durchsetzt ist? Solange der Staat nicht eingreift, sind die Republikaner im Recht, wenn sie zur Selbsthilfe greifen. Deshalb darf dieser Filmkrieg nicht unterschätzt werden, denn hier regt sich zum ersten Mal wieder der Geist eines populären Widerstandes. Der Fascismus hat bisher nur das Argument der Faust gekannt; er ist heute schon verblüfft, daß die andre Seite nicht mehr auf die Waffen des Gemüts allein vertraut. Das Jahr 1930, dies grimassenhafte Jahr, schließt mit der ärgsten Erschütterung der so trügerisch konsolidierten deutschen Wertbestände. Der Kapitalismus rafft in hektischer Gier, wo es kaum noch was zu raffen gibt, und durchlebt nochmals einen künstlichen Jugendrausch. Das pseudodemokratische System hat nicht mehr den Glauben an seine Mätzchen und verliert sich in dilettantischer Verordnungsspielerei. Und in den Massen selbst regt sich die Opposition gegen die Harmonieprediger in Partei und Gewerkschaft. In diesen primitiven und noch halb unbewußten Regungen liegt die Gewähr, daß in der letzten Partie der Fascismus doch sein Spiel verlieren wird.
Die Weltbühne, 30. Dezember 1930