Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

862

Republikanisch oder kosakisch?

In hundert Jahren, so sagte Napoleon Bonaparte, wird Europa republikanisch sein oder kosakisch. Die hundert Jahre sind reichlich um, und wenn wir uns heute umblicken und Europa noch immer nicht ganz kosakisch finden, sondern die zwei Prinzipien in einem noch immer nicht entschiedenen Kampfe, so ist das, alles in allem, eine Wirkung der vielgeschmähten Friedensverträge von 1919.

Diese Verträge sind keine Meisterstücke. Sie wimmeln von lokalen Ungerechtigkeiten; die Grenzziehungen zeugen oft von Willkür, öfter noch von ethnographischer Ahnungslosigkeit. Vor allen Dingen aber sind sie dem Besiegten in ungewöhnlich schroffen und unhöflichen Formen offeriert worden. Clemenceau, dieser Dämon des Hasses, mußte seinen Triumph bis zur letzten Nuance auskosten. Aber ein Jahr später schon war dieser unerbittliche Sieger ruhmlos in Pension geschickt. Ganz richtig erkannte sein Volk, daß der Mann, den es eben noch bekränzt hatte, eine Gefahr für die Zukunft bedeuten würde. So wurde der Alte verabschiedet. Es war der erste Sieg des europäischen Geistes nach dem Krieg, und keine stärkere Tat zum Abbau des Hasses zwischen Deutschland und Frankreich ist seitdem geschehen. Frankreich verstieß seinen Sieger. Vergeßt es nicht in Deutschland!

Es soll hier nicht die Frage aufgeworfen werden, ob wir nicht bessere Friedensbedingungen erzielt hätten ohne die stumpfe Obstruktionspolitik des ersten republikanischen Außenministers. Genug, Brockdorff-Rantzau las in Versailles seine ohnmächtige Verwahrung sitzend vor, und für diese von Alldeutschlands Unverstand beklatschte Demonstration hat das Deutsche Reich fünf Jahre lang vor dem Gesindeaufgang der Weltpolitik stehen müssen. Erst der verlorene Ruhrkrieg zeigte wenigstens den republikanischen Parteien, daß ohne Erfüllung des Friedensvertrages Deutschland in Stücke gehen würde.

Von dieser Einsicht aus dem Zwang der Verhältnisse bis zur leidenschaftslos vernünftigen Betrachtung ist aber noch eine große Strecke. Noch immer machen sich jene mondsüchtigen Deklamatoren breit, die in der Wahnvorstellung leben, mit der Beseitigung des Artikels 231 – der sogenannten Schuldlüge – könnte der Vertrag vom ersten bis zum letzten Blatt ungültig gemacht werden und Deutschland seine »widerrechtlich entrissenen Gebiete«, seine Kolonien etcetera zurückverlangen und die Zahlung der Reparationen einstellen. Wie lautet denn dieser ominöse Paragraph? »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.« Wenn sich selbst ein Mann wie der greise Delbrück einbildet, hier sei der Punkt, von dem aus sich die 440 Artikel aus den Angeln heben lassen, so kann man nur bedauernd sagen, daß die verdienstlichen Elemente seines langen Wirkens in diesem Falle leider durch einen partiellen Unverstand ernsthaft überschattet werden. Wie kann man aus einem klaren Text solche Mysterien herausklauben? Denn in diesem Artikel steht nur, was schon vor zehn Jahren beweisbar gewesen ist und was auch heute nicht erschüttert werden kann. Es ist manches leichtfertig Gearbeitete in dem Vertrag, aber diese Sätze sind ganz vorzüglich abgedichtet gegen skeptische Einwände. Denn sie geben nicht mehr wieder als die schlichte und unbestreitbare Tatsache, daß Deutschland und seine Verbündeten angegriffen haben. Ob der Angriff von den Kabinetten in Berlin und Wien provokatorisch gemeint war oder ob man sich nur durch Ungeschick das Odium erwarb, angreifende Partei zu sein, das war 1919 ebensowenig wie 1871 eine Frage, die paritätisch geteilt wurde. Das zu untersuchen, ist Sache der historischen Forschung, bestenfalls ein Lernstoff für die kommende Generation, dieselben Dummheiten nicht zu wiederholen.

Zehn Jahre nach Versailles sollten wir uns nicht mehr gegen einige schmerzliche, aber auch ganz klar liegende Erkenntnisse sträuben. Bei den Fahnen der Andern war die bessere Sache. Wir sind nicht nur unterlegen, weil »alle gegen uns waren«, sondern weil auf der andern Seite für ein paar Ideen gekämpft wurde, die wohl geeignet waren, Völker zu entflammen, während der deutsche Kriegsgeist nichts enthielt als eine phantastische Mischung von Unschuldsgefühlen und unregulierbaren Eroberungsgelüsten. Niemand hat im Kriege enträtseln können, was man sich unter dem vielberedeten »deutschen Frieden« zu denken habe, und heute ist das ebenso unmöglich. Aber wenn wir versuchen, aus den bekanntgewordenen Dokumenten, Reden und Pressewünschen die Summe zu ziehen, so ergibt sich etwa das folgende Bild: das siegreiche Deutschland hätte ohne Zweifel Stücke von Belgien annektiert, wenn nicht das ganze; im Baltikum wären Sekundogenituren deutscher Fürstenhäuser aufgemacht worden, in Polen, vielleicht auch in Serbien, hätten es sich die Habsburger bequem gemacht, das Elsaß wäre am Ende doch dem bayrischen Königreich einverleibt worden. Kein konstruktiver Gedanke, kein Plan eines europäischen Systems lebte in der damaligen Führerschaft Deutschlands, keine Vision eines künftigen Europa, wie sie Wilson, der in der Aktion Versagende, doch im Hirn getragen hat. Mehr Land, mehr Kolonien, mehr Rohstoffe, mehr Reichtum – das war das deutsche Programm! Ein Sammelsurium hohenzollerisch-habsburgischer Lehnsstaaten, dazu, als natürliche Folge, die verrücktesten Ejakulationen des sieggeschwollenen Militärpreußentums mit seinen antidemokratischen Doktrinen – das hätte die Welt ertragen sollen, ohne nicht zwei, drei Jahre später wieder zu den Waffen zu greifen? Wer glaubt denn, daß die von Deutschland auferlegten Friedensverträge Bestand gehabt hätten? Republikanisch oder kosakisch, Freiheit oder Knutenautorität? Darum ging es in den vier Kriegsjahren. Das hat auch der Zarismus erfahren müssen. Ungeschick der deutschen Außenpolitik, Vabanquespiel seiner eignen Diplomatie hatten ihn an die Seite der Demokratien geführt. Er wollte ganz folgerichtig als Erster den Krieg liquidieren, um zu den in den Maximen verwandten Kaiserreichen zurückzufinden. Er ist dabei zerbrochen.

Die Entente hatte nicht nur die frischeren und bedeutenderen Männer, sie hatte auch die stärkeren geistigen Anziehungskräfte. Die Entente hatte das Wilsonprogramm von der Befreiung der kleinen Nationen und das Völkerbundsprojekt. Eine wahrhaft geniale Kombination von nationalen und internationalen Gedanken! Das sicherte ihr eine ungeheure Überlegenheit gegenüber Deutschland, wo man nichts zu präsentieren hatte als die Ehrgeize und Appetite des albernsten Nationalegoismus. Es hat bei uns vor dem Kriege nur ein paar Nachdenkliche gegeben, die sich den Kopf zerbrochen haben über die Zukunft unsrer nationalen Minoritäten, und über die höchst verwickelten österreichischen Dinge gab es überhaupt keine Spezialisten von Einfluß. Im allgemeinen hoffte man, daß der alte Franz Joseph die Probleme seines Staates überleben würde. Aber selbst diese Erwartung hat der hohe Verbündete nicht erfüllt, und schon mit dem ersten Kriegstage zerbrachen ein paar Sprossen der habsburgischen Völkervolière, und die Vögel flogen nacheinander aus. In dem Augenblick, wo es Masaryk und Benesch gelungen war, die Ententemächte von der Notwendigkeit der Auflösung des Habsburgerreichs zu überzeugen, war für die der Krieg auch gewonnen. Denn jetzt gab es endlich eine Vorstellung von der künftigen Verfassung Europas. Die Andern hatten einen festen Plan, während bei uns ziellos über sogenannte Kriegsziele orakelt wurde. Und es darf auch nicht vergessen werden: die Entente hat ihr Wort gehalten. Sie hat das Wilsonprogramm erfüllt, sie hat der Bildung der neuen Staaten nichts in den Weg gelegt, sie hat den Völkerbund geschaffen.

Es ist beklagenswert, daß der Versailler Vertrag in Deutschland immer nur mit dem Wortschatz eines etwas abgestandenen Nationalismus behandelt wird. Auch dort, wo man das gemeingefährliche Hugenbergspiel nicht mitmacht, kann man doch die schon stereotyp gewordene Versicherung nicht unterdrücken, daß »das deutsche Volk diesen Vertrag innerlich niemals anerkennen werde«. Das klingt, wie gesagt, nicht mehr sehr frisch und erinnert lebhaft an den Lapidarsatz, mit dem man uns allen in der Schule die Entstehung des siebenjährigen Krieges eingetrichtert hat: »Maria Theresia konnte den Verlust Schlesiens nicht verschmerzen.« Als ob es auf die »innerliche Anerkennung« ankäme! Tatsächlich ist nach diesem Vertrag Europa neugestaltet worden, und obgleich es darin von Ungerechtigkeiten, Schiefheiten und Willkürlichkeiten strotzt, so sind seine Buchstaben in diesen zehn Jahren doch Fleisch geworden, das heißt: wer sie fortradieren will, verletzt lebendiges Fleisch und reißt alle Wunden wieder auf, die langsam verheilen. Deutschland ist einiges Unrecht geschehen, gewiß, aber es ist nicht ein Hundertstel so schlimm wie das, was es selbst gegen Europa vorhatte. Denn es hat Europa nicht gekannt und nicht kennen wollen. Es hat sich die Ohren verstopft, wenn dieser Name fiel, es hat ihn gehaßt. Deutschland hat einen Prozeß gegen die Weltgeschichte geführt, und diesen Prozeß hat es verloren. In solchen Prozessen gibt es keine Appellationsinstanz. Wo der Vertrag unbillige Härten aufwies, hat die Zeit selbst sie geräuschlos beseitigt. Die sogenannten Ehrenpunkte, die Auslieferungen von Kriegsverbrechern etcetera, sind alle still verschwunden. Und diese gleichsam automatische Revision wird weitergehen im selben Maße, in dem Deutschland die europäischen Realitäten von heute anerkennt. Aber niemals wird jene Generalrevision kommen, von der die Revanchebolde und zum Teil auch die Gemäßigten träumen. Was und zu welchem Ende soll revidiert werden? Was ist damit gedient, daß jedes einzelne Dorf, das vor zehn Jahren polnisch oder französisch wurde, einmal wieder deutsch wird? Was wäre damit erreicht, als eine neue Farbenänderung der Minoritätenfragen? Die Entwicklung in Europa, das sollte man auch in Deutschland begreifen, zielt nicht auf neue Grenzziehungen, sondern auf allmähliche Unschädlichmachung der Grenzen, darauf, ihnen ihren bösartigen Stacheldrahtcharakter zu nehmen. Will es der deutsche Nationalismus auf einen zweiten Prozeß gegen die Weltgeschichte ankommen lassen? Das ist kein aussichtsreiches Unternehmen, und es kann auch nicht übersehen werden, daß die in diesen Wochen bei dem sonst so sträflich ignorierten Weltgewissen deponierten Proteste sich allesamt durch konsequent durchgeführte Ideenlosigkeit auszeichneten. Das Gerassel mit den Ketten von Versailles klingt immer blecherner, der Geschmack der Öffentlichkeit an diesen Geräuschen nimmt rapide ab, aber das Gras, das über der Schuldfrage bereits in üppiger Fülle wächst, wird unsern Universitäten noch lange duftendes Heu liefern.

Die Weltbühne, 9. Juli 1929


 << zurück weiter >>