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Vor etwa drei Wochen wurde vor einer der stillen, vornehmen Kirchen des alten Westens eine elegante Hochzeitsgesellschaft durch die Verzweiflung einer alten Frau erschreckt, die dem Brautvater zurief, er möge ihr den Sohn aus dem Zuchthaus wiedergeben. Diese Szene war kolportagehaft genug, aber die weit zurückliegenden Anlässe und die juristischen Hintergründe dazu sind es nicht minder. Die alte Frau, die den reichen Mann anklagte, ist die Mutter jenes Lagerhalters Bullerjahn, den das Reichsgericht wegen Landesverrats zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt hat. Dieser Prozeß ging in Formen vor sich, die in einem Rechtsstaat sonst verschmäht werden, denn Bullerjahn bekam den Zeugen, der ihn belastete, einem französischen Mitglied der militärischen Kontrollkommission ein schwarzes deutsches Waffenlager verraten zu haben, weder zu Gesicht noch wurde er ihm namentlich benannt. Dem Reichsgericht genügte die Versicherung eines Herrn X, daß der Angeklagte schuldig sei, genau so wie das Kriegsgericht von Cherche-Midi den Hauptmann Dreyfus überführt sah, nachdem Major Henry ein paar Dokumente im Beratungszimmer überreicht hatte. Die französischen Richter-Offiziere hatten das Argument für sich, daß diese Dokumente von ihrem Chef, dem Kriegsminister, stammten. Sie durften sich also salviert fühlen. Welche unbekannte Autorität aber hat die Herren unsres höchsten Gerichts bewogen, einen bisher makellosen Angeschuldigten zu fünfzehn Jahren Z. zu verurteilen? Gesetzt, wir konzedierten einem Gericht, unter besondern Umständen auch einmal auf eine sonst nicht übliche Weise zur Urteilsfindung zu gelangen, wie hier durch Anhörung eines im Dunkel Bleibenden – wir würden nach langem Zaudern etwa fünf, sechs Menschen in Deutschland zu nennen wagen, die sich durch Charakter und Geist so hoch erheben, daß wir eine solche Entscheidung über einen Mitbürger in ihre Hände legen möchten. Die Autorität des Reichsgerichts war weder ein Staatsmann noch ein Weiser, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann, noch dazu ein Leiter der Firma, der durch Bullerjahns angeblichen Verrat Unannehmlichkeiten widerfahren sind. Wir wollen Herrn Generaldirektor Paul von Gontard nicht verletzen, wenn wir ihm die moralische Qualifikation in dem oben entwickelten hohen Sinn nicht zuerkennen können. Was hier gegen ihn eingewendet werden muß, das ginge die Welt nichts an oder würde, wo es nach Pulver riecht, nur als der von ihm vertretenen Branche eigentümlich erachtet werden, wenn es sich dabei nicht um einen Unglücklichen handelte, der vergebens ums Wiederaufnahmeverfahren kämpft. Auch Herr von Gontard ist auf seine Weise das Opfer der patriotischen Verblendung des Reichsgerichts geworden, das einen Mann aus der Rüstungsindustrie für ein Wesen zu halten scheint, das von einigen Fehlern frei ist, die dem Menschengeschlecht sonst erblich anhaften.
Herr von Gontard war Generaldirektor der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, eines der Werke, die dem Ring der Rüstungsindustrie angehörten. Sein Name wurde vor dem Kriege einmal von Karl Liebknecht genannt, und zwar gelegentlich einer jener Korruptionsaffären, die diesen an sich schon interessanten Erwerbszweig noch bewegter machen. Herr von Gontard bezog ein Jahresgehalt von 30 000 Mark, dazu 7 Prozent Tantieme vom Reingewinn und die üblichen Spesen. Sein Anstellungsvertrag wurde im Mai 1916 um fünf Jahre verlängert. Nach seinem etwa in der Vertragszeit eingetretenen Tode sollte sein Sohn Nachfolger werden. Dieser Kontrakt wurde 1922 verlängert. Allerdings hatte sich seither etliches verändert. Der Versailler Vertrag war in Kraft, und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken führten jetzt den höchst zivilen Namen Berlin-Karlsruher Industriewerke A.-G. Dieser farblose Name war nicht imstande, einen Überfall durch die Interalliierte Kontrollkommission zu verhindern, das Ergebnis ist ebenso bekannt wie die vaterländische Vendetta des Herrn von Gontard an dem Lagerverwalter Bullerjahn, dem angeblichen Verräter. Der Aufsichtsrat von Berlin-Karlsruhe, dem damals der große Louis Hagen aus Köln vorstand, erhöhte das Gehalt Gontards von 2500 Mark auf 5000 Mark. Das geschah mit rückwirkender Kraft ab 1. Januar 1924. Der siebenprozentige Anteil am Reingewinn blieb dazu. Man darf nicht behaupten, das wäre eine Kopfprämie für die Erlegung des Verräters gewesen, es ist nur festzuhalten, daß sich Herr von Gontard damals im Zenith seiner Erfolge befand.
Trotzdem wird die Geschichte seiner Aktien-Gesellschaft jetzt dunkel und verworren, es gibt Konflikte, es entstehen Akten. Der Herr Generaldirektor läßt sich ein respektables Konto gutschreiben, wie man behauptet, 650 000 Mark in drei Jahren. 200 000 Mark im Jahre 1925, die gleiche Summe im nächsten Jahre und 50 000 Mark im Jahre 1927. Über das Drum und Dran dieser Manipulation besteht beträchtliche Unklarheit. Individuen, die nicht wert sind, den Namen Deutsche zu führen und rechtens vors Reichsgericht gehören, verbreiten die odiose Lesart, Herr Louis Hagen habe die Anweisung gegeben, einen Betrag von, sagen wir 310 000 Mark Aufwandsentschädigung zurückzustellen, der sich nachher auf mysteriöse Weise vergrößerte. Nun wird man einwenden können, daß so nullenreiche Summen doch ordnungsmäßig verbucht werden müssen. Wer so naiv fragt, weiß nicht, was bei der Bilanzaufstellung großer Gesellschaften alles gefällig ist. Warum auch diesem Staat, der ein faules, verweichlichendes Sozialrentnertum züchtet und die Mittel dazu von der schwerringenden Industrie holt – warum also diesem Staat mit dem bolschewistischen Steuersystem wieder Hunderttausende in den Rachen werfen? So haben diese 310 000 Mark möglicherweise einen harmlosen Namen erhalten, etwa »Einführungskonto« oder so ähnlich. Wie daraus allerdings 650 000 Mark geworden sind, das mag der liebe Gott wissen. Jedenfalls wurde in der Generalversammlung vom 14. Juli 1928 die Bilanz der Verwaltung, die einen Verlust von 14 800 000 Mark aufwies, mit überwiegender Mehrheit abgelehnt; die Bilanz der Opposition dagegen hatte über eine Million Gewinn errechnet. Die Folge war, daß der Aufsichtsrat zurücktrat. Angenommen wurde die Bilanz der von Justizrat Hirschel geführten Opposition; durch Schreiben vom 5. Oktober legte Gontard sein Amt nieder.
So beträchtlich auch die patriotischen Meriten des Herrn Generaldirektors gewesen sein mögen, es gab doch Neider, die seine materiellen Verdienste im Verhältnis dazu allzu hoch fanden und ihn schließlich stürzten. Sie sprachen davon, daß Herr von Gontard überdies noch Barentnahmen von über 200 000 Mark gemacht habe, daß er sich Zinsen im Betrage von 61 000 Mark habe gutschreiben lassen, daß er gute Freunde mit Zuwendungen von etwa 32 000 Mark erfrischt habe. Auch wird ihm vorgeworfen, daß er an Vorstandsmitglieder, mit denen er sich gut stand, mehr Dividenden ausgeschüttet habe, als eigentlich vorgesehen war. Kurzum, die Kosten der generaldirektorialen Großzügigkeit wurden mit Millionensummen beziffert. Darob setzte es, wie gesagt, Konflikte, es entstanden Akten, und was eben noch eine erlaubte kaufmännische Handlung war, das erhielt nunmehr jene häßlichen klapperdürren Bezeichnungen, die das Strafgesetzbuch für die Aktionen mißgeschickter Geschäftsleute bereit hält. Schließlich scheint alles das in einem Meer allseitiger Unlust versackt zu sein, vielleicht ist auch im Stillen eine Einigung erfolgt, und geblieben ist aus dieser Zeit beklagenswerter Mißverständnisse nur die abscheuliche Nachrede, Herr von Gontard habe von englischen Firmen, beispielsweise von der sheffielder Firma Jonas & Golver sehr erhebliche Provisionen bezogen. Wenn wir auch nicht in der Lage sind, die vielfachen Irrwege der Entwicklung einer frühern Waffenfabrik in ein friedliches und nur bürgerlichen Zwecken dienendes Unternehmen zu verfolgen, im Gegenteil, wir wären glücklich, wenn die Berlin-Karlsruher am Frieden mehr verdienten als am heldischen Kriegsspiel, uns interessieren auch die fetten Jahre des Herrn von Gontard nicht sehr, und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe geben wir nur wieder, weil sie uns geeignet erscheinen, seinen Ruf als Kronzeuge des Reichsgerichts zu erschüttern. Es sitzt ein Mann hinter Zuchthausmauern, den wir für unschuldig halten, und diese Meinung wird von einigen Millionen unsrer Mitbürger geteilt. Dieses Urteil ist aber nur möglich geworden, weil das höchste Gericht einem andern Manne eine in der deutschen Rechtsgeschichte noch nicht dagewesene Sonderrolle gestattet hat. Dieser Andre, dieser Kronzeuge X., ist Herr Paul von Gontard, eine Persönlichkeit, die selbst aus zu vielen Stoffen gemischt ist, um als reine Rechtsquelle zu fließen, ein erfolgreicher und rücksichtsloser Geschäftsmann, wenn auch mehr in eigner Sache als zum Besten seiner Firma, ein routinierter Spekulant, der selbst zu vielen Verdachten offen gewesen ist, als daß sein Zeugnis einen Unbescholtenen für immer vernichten dürfte.
Wir wissen nicht, ob sich Herr von Gontard jemals über das Schicksal des Lagerhalters Bullerjahn den Kopf zerbrochen hat. Er hat seiner Tochter eine Hochzeit bereitet, die 40 000 Mark gekostet haben soll und mit jenem aufdringlichen Luxus vor sich ging, zu dem reiche Leute mit schlechtem Geschmack durch die Lektüre von Modejournalen angeregt werden. Es ist also nicht anzunehmen, daß Herr von Gontard sich über das Niveau einer noch immer besitzenden Oberschicht erhebt, die gedankenlos genug ist, in dieser Zeit krassesten Elends die Langmut der Armen durch ein törichtes Schaugepränge auf die Probe zu stellen. Da rief plötzlich eine alte Frau ein paar Worte, Herr von Gontard verfärbte sich, die ganze feine Gesellschaft verlor die erhabene, für die gaffende Menge aufgeklebte Haltung, und die Braut stürzte fassungslos in den Wagen, das Entsetzen der jungen Generation in den Augen, wenn sie erkennt, worauf das Glück der Väter ruht.
Die Weltbühne, 16. Dezember 1930