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Die babylonische Gefangenschaft der heiligen Kirche ist zu Ende. Ein Vertrag zwischen der römischen Kurie und dem Königreich Italien beschließt den seit 1870 bestehenden Zustand, wo Lamarmoras piemonteser Regimenter die Schlüsselsoldaten entwaffneten und den Kirchenstaat besetzten. Pius IX. zog sich unter feierlichen Verwünschungen in den Vatikan zurück, den erst Pius XI. jetzt verlassen wird. Auch gläubige Katholiken haben immer bezweifelt, ob ihr Oberhirt damals richtig gehandelt hat und ob es nicht besser gewesen wäre, mit den Ministern des Königs zu einer Übereinkunft zu gelangen. Wenngleich diese Herren ihre Laufbahn auch fast alle als verschwörerische Carbonari oder als zottige Garibaldianer begonnen hatten, so waren sie damals schon zu fein gebügelten Liberalen verblaßt.
Aber was unter dem grollenden Pio nono noch ein recht fragwürdiges Exempel war, das wurde unter dem verbindlichen Leo zu einer neuen Kraft. Die Priesterwirtschaft des Kirchenstaates stand allerorten in halbkomischer Erinnerung. Liebenswerter erschien die klagende Kirche als die triumphierende, und so ist ihr, alles in allem, die Zeit der Gefangenschaft ganz ausgezeichnet bekommen. Die Ungläubigen pfiffen schon lange nicht mehr das freche Couplet vom letzten Pfaffendarm, an dem der letzte König hängt. Sie waren tolerant geworden und widmeten der Kirche ein rein ästhetisches Vergnügen. Sie betrachteten die römische Kirche als Trägerin einer edlen, alten Kultur und übersahen darüber die Träger ihrer Unkultur, die vielen kleinen Torquemadas, die in Ermangelung größerer Objekte kleinstädtische Schwimmanstalten versiegelten und die Tänzerinnen auf den Stadttheatern zwangen, Strümpfe anzuziehen. Waren die Freigeister versöhnlich geworden, so hatten die Frommen jetzt etwas, das ihre Phantasie kämpferisch erregte. Seltsame Fabeln rankten sich um den »Gefangenen im Vatikan«: Schauergeschichten von dem echten Papst, der in unterirdischen Verließen schmachtete, während eine Kreatur der Brüder Freimaurer den Thron Petri innehatte. Solche Ammenmärchen verwirrten zwar einfache Gemüter, aber förderten trotz alledem Peterspfennig und Pilgerfahrten. In seinen »Höhlen des Vatikan« hat sich André Gide mit voltairischem Witz über diese Geschichten lustig gemacht.
Jetzt öffnen sich die Türen des prachtvollen Kerkers. Der Pontifex maximus will nicht länger lokale Sehenswürdigkeit bleiben und rückt zu den Erscheinungen von internationaler Popularität. Diese Zeit ist geheimnislos, und ihre Lieblinge gleiten über die Filmleinwand oder durch die Arena, die Unsichtbarkeit ist das schlechteste aller Geschäfte; fände Einer heute die Tarnkappe, er würde sie als unverwendbar liegen lassen. Die kostbarsten Dichter schreiben plumpe Sensationen und lassen sich am Punching-ball photographieren. Das gleiche Verlangen nach der Öffentlichkeit, das die Harems sprengt, fremde Barbarenkönige auf die europäischen Rennplätze und den Prinzen von Wales unter arbeitslose Volksmassen treibt, zieht auch den Herrn der katholischen Christenheit aus dem musealen Pomp seines Palastes. Bald wird der heilige Stuhl auf profanen Pirellireifen über die italienischen Chausseen sausen und unvorsichtiges Geflügel totfahren.
Übrigens umfaßt der geplante neue Kirchenstaat nur ein sehr bescheidenes Gebiet innerhalb des römischen Stadtbildes, und die weltliche Macht, die der heilige Vater dort ausüben kann, wird nicht größer sein als die des Königs von Yvetôt. Bedenklich ist, daß dieser Vertrag nicht mit dem alten italienischen Staat, der in innern Angelegenheiten immer recht liberal gewesen ist, abgeschlossen wird, sondern mit dem neuen, der Mussolini heißt. Damit ist das Pontifikat dem Fascismus verkoppelt. Es ist möglich, daß dessen Gebieter heute einen solchen Erfolg sehr notwendig braucht, aber der Papst hat sich damit auch jener Gewalt verbündet, die von allen nichtfascistischen Italienern als usurpatorisch betrachtet wird. Es ist deshalb ganz folgerichtig, daß französische Blätter, die den Fascismus befehden, heute bereits die Forderung erheben, die höchste Würde der Christenheit in Zukunft auch für Nichtitaliener offen zu lassen, damit sie nicht automatisch zu einem Werkzeug italienischer – also fascistischer – Staatspolitik werde.
Die Beziehungen zwischen Consulta und Vatikan waren nicht immer sehr glanzvoll. Mit Schmerzen nur ließ die Kurie Don Sturzo fallen, jenen großen Priester, der eine katholische Volkspartei geschaffen hat, den Mussolini als seinen gefährlichsten Gegenspieler betrachtete und der heute unversöhnt in der Emigration lebt. Der Fascismus ist eine ungeheure, aber auch befristete Macht. Was wird das Papsttum beginnen, wenn sie einmal zusammenbricht? Und was werden die Andern tun, wenn sie Hirtenstab und Rutenbündel als Alliierte finden –?
Mussolinis Politik liebt es, mit der Lösung alter Konflikte zu prunken, mit Lösungen, die durchweg nur auf dem Papier stehen. Es ist auch niemand da, der widerspricht. Diese Lösung der »römischen Frage« soll ein Köder für die katholische Welt sein. Mussolini stellt sich ihr als Befreier ihres geistlichen Oberhauptes vor. Aber er weiß auch, daß er gebraucht wird. Dieser frühere Marxist weiß sehr wohl, daß die politischen Schöpfungen des Katholizismus heute recht fragwürdig geworden sind und daß die klassenmäßigen Gruppierungen auch jene Gebilde ergreifen, die der Glaube an einen höhern, über menschlichen Einrichtungen thronenden Gedanken geschaffen hat. Man kann der Klugheit der römischen Diplomatie zutrauen, daß sie auch ohne Marxismus zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen ist. Zwar hat sie in England und den Vereinigten Staaten viele treibende Seelen aufgefischt, aber schon der mexikanische Kulturkampf hat sie reicher Einnahmen beraubt. In Europa zählt Frankreich nicht mehr mit, trotz allen Versuchen, eine neue katholische Bewegung zu schaffen. Spaniens Gebieter, der dicke Primo, steht nicht mehr zuverlässig fest, morgen schon können ihn radikale, priesterfeindliche Gewalthaber ablösen. In Italien gibt es nur Benito. Bleiben nur Deutschland und Österreich mit den starken politischen Organisationen der Katholiken.
Diese Parteien haben sich im Laufe der letzten Jahre beträchtlich gewandelt, und man braucht nicht anzunehmen, Rom wäre daran unbeteiligt. Des Monsignore Seipel Christlich-Soziale allerdings huschten immer nur auf weichen Filzsohlen über den Boden des republikanischen Laienstaates. Doch jetzt haben sie wieder ihre guten alten Nagelschuhe angezogen, und ein ideenloser Fascismus, ein Fascismus der dummen Kerle, ein Fascismus ohne Mussolini – eine schreckliche Vorstellung! – trampelt alles kaputt. Das heutige Österreich gibt das traurige Modell eines Staates, wo die Klerikalen alles zu sagen haben.
Und Deutschland? Man muß die selbstgewollte Blindheit unsrer demokratischen und sozialistischen Republikaner teilen, um nicht zu sehen, wohin die Reise geht. Seit von Konkordat und Schulgesetz gesprochen wird, hat sich das Zentrum langsam aber nicht unauffällig gewandelt. Erzberger ist nicht mehr, und Herrn Doktor Wirth hat die hohe Parteileitung schon lange den demokratischen Schellenbaum entwunden und ihm dafür eine stille Opferkerze in die Hand gedrückt. Mit dem wieselnasigen Herrn Prälaten Kaas aus Trier ist der deutsche Seipel in prima waschechter Schwärze in jene Region eingezogen, wo allein die bessere Politik zusammengekocht wird. Hier haben wir den traditionellen politischen Priester, der sich von den jovialen süddeutschen Kaplanen der alten Zentrumsfraktion durch eine jesuitische Geschliffenheit unterscheidet – eine scharfe biegsame Klinge, im Feuer des Ehrgeizes gehärtet. Der neue Parteiführer hat bei diesen letzten Koalitionsverhandlungen debutiert, und der Neid muß ihm lassen, daß er Wirkungen erreicht hat, deren Bizarrerie selbst in unserm kunterbunten Parlamentarismus durch ihre Eigenart bestrickt. Herr Kaas wandte die Tintenfischtaktik an; schwarze Wolken verdunkelten, was geschah oder nicht geschah, und rundum rieb man sich die hart geprüften Augen. Angeblich war von Herrn Kaas an Herrn Doktor Stresemann ein Angebot ergangen, das Zentrum würde der Deutschen Volkspartei zwei preußische Ministersitze garantieren. Aber Herr Stresemann hat das nicht so aufgefaßt, der Reichskanzler auch nicht so, und erst nachdem alles verfahren war, eröffnete Herr Doktor Heß den erstaunten Hörern die authentische Auslegung. Unsre aus weltlichen Schulen hervorgegangenen Parlamentarier sind so durchtriebener Kaasuistik nicht gewachsen. Der Herr Prälat aber hat erreicht, was er wollte: das Zentrum zieht sich mit der Empörung des in seinen besten Absichten Mißverstandenen einstweilen zurück. Nicht nur die Große Koalition ist zerplatzt, die Reichsregierung selbst ist jetzt von der Gnade des Zentrums abhängig. Jede geringfügige Abstimmung kann zum Sturz führen. Und in der nächsten Zeit stehen keine Geringfügigkeiten auf der Tagesordnung. Herr Kaas aber zieht sich in sein seligstes Gefilde zurück, nämlich in den Hinterhalt, in jene Ecke, von der aus man graziös ein Bein stellen kann. Wenn das Zentrum in die Regierung zurückkehrt, wird es auf einer andern Seite stehen als bisher. Der vielwissende Theologe wird vollenden, was der bescheidene Laie Wilhelm Marx begonnen.
Es ist töricht, an die katholische Partei die klagende Frage zu richten, wohin das führen soll. Die Sache ist entschieden. Roma locuta, causa finita. Deutschland wird es zuerst zu spüren bekommen. Die liberale Zeit der Kirche ist zu Ende. Der Papst verläßt den Vatikan. Nicht um zu feiern, sondern um zu kämpfen.
Die Weltbühne, 12. Februar 1929