Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Bilanz 1929

Über diesem Jahresende liegt wie ein giftiger grauer Nebel die Erinnerung an die Inflationszeit. Die blendende Fassade der letzten Jahre muß jetzt mit Wucherzinsen bezahlt werden. Ein inmitten all des Jammers witzig gebliebener Kopf hat für den ganzen Komplex der Maßnahmen, die getroffen werden sollen, um einerseits dem, der hat, weitere Kapitalbildung zu ermöglichen, ohne andrerseits dem, der gar nichts hat, das Verhungern zu erschweren, die humorvolle Bezeichnung Finanzreform gefunden. Dabei weist das von den Herren Wirtschaftskapitänen angestimmte Miserere unbezweifelbar einige falsche Töne auf. denn vieles an dem Elend ist Regiearbeit. Man entsinnt sich noch von frühern Jahren des Krisengeschreis, das jedesmal erhoben wurde, wenn über Reparationen gesprochen werden mußte. Was soll das Gezeter über die angeblich ungünstigem Bedingungen des Youngplans? Grade in der Industriepresse, die heute den Dawesplan für besser hält und sein Fortbestehen wünscht, wurde seinerzeit zuerst der Ruf nach einer andern Regelung, nach der Festsetzung einer Endsumme laut, und der Reparationsagent Parker Gilbert wurde als ein Ausbund von Weisheit gepriesen, nachdem er sich dieser Ansicht angeschlossen hatte. Doch mit der pariser Konferenz begann auch das Wehgeheul von Schachts Satelliten. Dann eröffnete Hugenberg seine Hermannsschlacht, die Geschäftswelt sah sich plötzlich am Ende aller Dinge. In einer Zeit ängstlicher Spannung verkrachten Banken und Kommunen, und die reichen Leute, die sonst das Volk ebenso gern zum Zahlen wie zum Bluten aufrufen, verschoben ihr Kapital über die Grenze. Die ökonomische Wirklichkeit dieses vergangenen Jahres war schon ernst genug, daß wir heute jedoch wieder in die Nähe des Generalbankrotts gerückt sind, daran ist vor allem die infame tendenziöse Panikmacherei der Bank- und Industriedespoten schuld, die ebenso ungern Reparationen abführen wie sie ihren Angestellten und Arbeitern anständige Löhne zahlen. Dieser Zweifrontenkrieg hat Deutschland gründlich zermürbt. Es ist keine leichte Aufgabe, in einem Atemzuge den äußersten Nationalismus und die äußerste soziale Reaktion zu predigen. Das ist restlos gelungen, aber um einen schrecklichen Preis: die so üppig ausgemalten Katastrophenphantasien sind Wirklichkeit geworden. Das System der Stabilisierung, das sich seit 1924 immer mehr gefestigt hatte, ist von seinen eignen Nutznießern erschüttert worden. Das ist die Bilanz von 1929.

*

Es ist eine sehr zerknitterte deutsche Delegation, die diesmal nach dem Haag fährt. Kanzler Müller hat dankend abgesagt, und dabei ist er trotz seines leidenden Zustandes in seinem Kabinett noch immer die deutsche Eiche unter Mimosen. Haupt der Mission wird also Herr Curtius, ein tüchtiger Industrieadvokat, auf internationalem Terrain nicht eingespielt und deshalb allen unbarmherzigen Vergleichen mit seinem bedeutenden Vorgänger ausgeliefert. Auf der andern Seite dagegen erscheinen die besten Außenminister der Gegenwart. Neben Herrn Curtius tritt Herr Moldenhauer, Reichsfinanzminister malgré lui, Aushilfe, weil sich niemand fand, um Hilferdings Erbschaft unter Schachts Diktatur zu übernehmen. Dafür wird aber Herr Moldenhauer höchst wahrscheinlich die Hauptkosten der Auseinandersetzung mit Philip Snowden zu tragen haben, dessen rasiermesserscharfe Dialektik soeben wieder in dem Rededuell mit Winston Churchill wahre Triumphe gefeiert hat. Wie erinnerlich, war Herr Snowden während der vorigen haager Konferenz der Liebling unsrer nationalen Blätter, weil er es den Franzosen so mächtig gab. Dann kam der Liquidationsstreit, den der alte Schatzkanzler mit einer auch in England vielfach abgelehnten Schroffheit durchführte, was die Liebe etwas verminderte. Wenn Herr Snowden diesmal nicht noch im letzten Augenblick neue Reibungsflächen mit Frankreich entdecken sollte, besteht die heitere Möglichkeit, daß er die deutsche Delegation zum ausschließlichen Objekt seiner angenehmen Laune machen wird, und das dürfte der Liebe wohl endgültig den Schlußpunkt setzen.

Somit wären die Aussichten ziemlich trostlos, doch hält sich Herr Hjalmar Schacht bereit, um notfalls als Korsettstange zu fungieren. Offiziell wird der Reichsbankpräsident wohl nur als Hauptexpert mitgehen. (Im Augenblick ist die Frage noch nicht entschieden.) Das ›Berliner Tageblatt‹ allerdings ließ durch seinen erfahrenen Schachtexperten Herrn Günther Stein dem Wunsch Ausdruck geben, Herr Schacht möge als Hauptdelegierter die Konferenz besuchen, damit er auch an der »tatsächlichen Verantwortung« teilhabe. Eine verteufelt gescheite Idee! Wem ist Herr Schacht verantwortlich? Dem Parlament –? Ihm genügt es, wenn der Reichsverband der Deutschen Industrie zu seinen Taten Beifall trampelt. Und seit wann wird grade der Herr mit der brennenden Zigarre zum Aufseher der Pulverkammer bestellt, wenn man nicht die Kraft hat, ihm vorher den Glimmstengel aus der Hand zu schlagen? Auch als schlichter Sachverständiger wird Herr Schacht genug Gelegenheit haben, Unfug zu stiften. Keine Sorge, er wird auch diesmal als Fachmann für diplomatische Zwischenfälle nicht enttäuschen, das ist er seinem Publikum schuldig. Er ist in der Tat der starke Mann; er hat einen großen Teil der Presse und der Öffentlichkeit hinter sich; er hat die Regierung zur Kapitulation gezwungen. Dabei ist sein internationales politisches Ansehen höchst zweifelhaft. In Frankreich gilt er noch immer als Vertreter jener deutschen Scharfmacher, die überhaupt keine Verpflichtung zu Reparationen anerkennen, und gewisse unbedachte Äußerungen von ihm haben diesen Verdacht erheblich gestärkt. Eine Interpretation der deutschen Misere grade durch Herrn Schacht würde von den Franzosen nicht gläubig hingenommen werden.

Hjalmar Schacht im Vordergrund, das bedeutet die Demolierung von Stresemanns außenpolitischer Erbschaft. Ein knappes Vierteljahr ist Gustav Stresemann tot. und schon ist ein kostbarer Teil seines Legats verwirtschaftet. Auch das gehört zur Bilanz von 1929.

Die Weltbühne, 31. Dezember 1929


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