Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Der Kaiser von Europa

Es ist kein leichtes Vorhaben, in der ›Weltbühne‹ über den Jubilar des Deutschen Theaters zu schreiben. Denn hier hat S.J. durch lange Jahre das Schaffen Max Reinhardts kritisierend, beratend, helfend, verteidigend begleitet; immer mitfreuend und mitleidend. In Max Reinhardts Durchbruchsjahren ist die alte ›Schaubühne‹ sein beredtester Advokat, oft genug sein Sturmbock gewesen. Aber S.J., der so fanatisch lieben konnte, war kein blinder Liebender. Nach dem ersten Jahrzehnt erscheint er schon distanziert, und schon im »Jahr der Bühne« VII. (1917/18) liest man über den »Fall Reinhardt«: »... gemeint ist der chronische Fall, der Zustand, daß Max Reinhardt es seinen Anhängern unendlich schwer macht, ihm Dankbarkeit, Liebe und Treue zu bezeugen.« Und weiter: »Der schöne Schein wird über den Geist gestellt, und das muß sich rächen, weil vom schönen Schein das Ballett, die Pantomime, der Zirkusrummel zu leben vermag, aber nicht eine Bühne, die auf die Meisterwerke der Weltdramatik gegründet ist. Die sind ja nun einmal vom Geist erzeugt, und nur der Geist kann sie wieder erzeugen.« Kaum Härteres hat S.J. jemals gegen den oft Bewunderten geschrieben, auch später nicht, als er die Idee des Großen Schauspielhauses mit guten Argumenten ablehnte. Nur die Lebensläufe hatten sich getrennt, nur die Entfernung war größer geworden. Max Reinhardt wird zu einer leuchtenden Erinnerung, und in die ›Schaubühne‹ dringt das garstige Lied der Politik.

Vor dreizehn Jahren hat S.J. den Fall Reinhardt chronisch genannt. Er ist chronisch geblieben. Damals war Max Reinhardts eben begonnene Expansion durch den Krieg unterbrochen worden. Inzwischen ist er der berühmteste Theatermann der ganzen Welt geworden. Es gibt heute nirgendwo mehr eine ernste Bühne, die nicht etwas von seinen Anregungen verspürt hätte. Er kann, wo er will, spielen; in jedem Kontinent wird ihn eine gebildete Schicht empfangen, der er mehr als ein bekannter Name ist, die eine deutliche Vorstellung von seiner Kunst hat. Er hat alle Theater der Welt gewonnen und sein eignes in Berlin, sein Deutsches Theater, darüber verloren.

»... daß es Max Reinhardt seinen Anhängern so unendlich schwer macht, ihm Dankbarkeit, Liebe und Treue zu bezeugen.« Das Theater der Reichshauptstadt verdankt Max Reinhardt seine Weltgeltung, den Ruf, die erste Theaterstadt der Welt zu sein. Er hat den magischen Bogen über der Szene neu gespannt; ein genialer Mensch berührte Kulissenkram, und der blühte unter seinen Händen in neuen Farben auf. Er hat das Theater aus dem schäbig werdenden Prunk seiner Isolierung herausgeführt, er hat es der bildenden Kunst seiner Zeit wieder vermählt. Er gab ihm die tiefen leuchtenden Hintergründe, das lichte Waldgrün des »Sommernachtstraums«, das tiefe Blau des Mittelmeerhimmels, die graue Melancholie der nordischen Abende. Kein Laube und Dingelstedt hat so gründlich Schule gemacht wie Max Reinhardt; ein paar Jahre nach seinem ersten Auftreten sahen die deutschen Theater schon anders aus. Aber die »Hypertrophie der Talente«, die S.J. bei Reinhardt vermerkt, führte ihn früh aus festem Kreis nach überall hin, in andre Länder, in ungewohnte Kunstbezirke. Was der Künstler Reinhardt dem berliner Theater auch geschenkt hat, der Unternehmer Reinhardt hat viel davon zurückgenommen. Der Künstler Reinhardt hat das berliner Theater wahrhaft verschwenderisch bedacht, der Unternehmer Reinhardt hat es desorganisiert, ja anarchisiert. Alles was später beklagt wurde: die Ensemblezersplitterung, die große Aufmachung für die Premiere, während zweite Besetzung für spätere Aufführungen vorbehalten bleibt – alles was weiterhin in einer sozial fragwürdig werdenden Zeit durch die Verhältnisse schnell vollendet wurde, das findet sich, wenigstens in der Kontur, schon in der ersten Glanzzeit Reinhardts angedeutet, und spätere Direktoren brauchten zur Rechtfertigung nur auf das illustre Vorbild hinzuweisen.

In dem schönen Jubiläumswerke »25 Jahre Deutsches Theater« (R. Piper & Co.) verteidigt Arthur Kahane Max Reinhardt gegen den Vorwurf »wilhelminisch« zu sein. Nein, »wilhelminisch« – das heißt: schlechte Form aber echte Epauletten; Panoptikum. Das traf niemals auf Max Reinhardt zu. Dessen Stil ist nicht wilhelminisch, wohl aber imperial in einem höhern Sinn; es ist der Stil des großen kunstliebenden Herrn, der aus dem Leben ein ewiges Fest macht, dessen Einzelheiten die feinsten und nobelsten Köpfe ersinnen, die diffizilsten und nervösesten Hände schaffen. Wenn Europäertum heute die vornehme Tradition einer alten Kulturschicht bedeutet, ererbte Fähigkeit, die edelsten Stile der Vergangenheit nachfühlend zu genießen, in dem farbigen Abglanz des Lebens schon das Leben, in ein paar Geigenstrichen Mozarts, in einem Pastorale Watteaus schon Duft und Ton einer Wirklichkeit zu empfinden – wenn das ein Signum des kulturellen Europäertums ist, dann ist Max Reinhardt der unerreichbare Herrscher im Reich des farbigen Abglanzes, dann ist er in Wahrheit der Kaiser von Europa.

Ein großer Erfüller, der dem Theater die Schwere nimmt, das fette Pathos, die geschwollene Geste, und es in einen immerwährenden venetianischen Karneval verwandelt. Bei diesem Festesrausch ist nur eine einzige Person zu schlecht fortgekommen: das deutsche Drama. Was hat Max Reinhardt für die lebenden Dichter bedeutet? Er hat Wedekind durchgesetzt, Sternheim, Georg Kaiser in seinen Anfängen. Die Neuromantiker haben ihm ein paar Jahre lang Gelegenheit zu glanzvollen Inszenierungen in historischen Stilen oder in freien phantastischen Variationen gegeben. Aber die Neuromantik war eine schnell vorübergehende Mode, und seitdem sind die Beziehungen Reinhardts zu den Schaffenden der Zeit immer karger geworden. Als Max Reinhardt zuerst auftrat, löste er die tristen Armeleutestücke der neunziger Jahre ab, und vielleicht lag das Geheimnis seines Erfolgs grade darin, daß er das Theater wieder festlich und kostbar machte und ihm den Geruch des Alltags nahm. Und heute, auf der höchsten Stufe seines Ruhms, lebt das Armeleutestück rings um ihn wieder auf, da springt die soziale Wirklichkeit wieder auf die Bretter, bewegt sich laut und ungelenk; aber sie ist wieder jugendlich, und sie hat wieder die Leidenschaft der Zuschauer für sich. Es muß also doch Fragen geben, die dauernder sind als das Reinhardtsche Bacchanal. Und während der Jubilar von seinen Freunden gefeiert wird, streiten junge Leute in öden Vorortsälen wieder über den Sinn des Theaters, um den sie noch unklar kämpfen, den sie aber gegenwärtig und lebendig erfassen wollen, wenn sie sich auch Gegenwart und Leben noch nicht ohne politische Verbrämung vorstellen können. Was wissen sie von Max Reinhardt? Und wüßten sie mehr von ihm, würden sie seiner Magie erliegen? So bleibt der Verdacht nahe, daß das Wort Ferdinand Lassalles von dem Kranichflug der Klassiker über das deutsche Volk auch für Max Reinhardt gilt. Sein Flug war immer hoch, und er ist über die Massen dieser arbeitenden und kämpfenden Stadt hinweggegangen. Max Reinhardt hat viele Herzen bezwungen, viele Menschen erobert, aber er hat die Massen dieser Stadt Berlin nicht erobert, weil ihm niemals daran gelegen war. Im Grunde genommen ist sein Theater immer höfisch gewesen, wenn auch der richtige Monarch dazu fehlte. Er brauchte immer das ideale Publikum, das vorbereitet kommt oder seiner Sphäre unterliegt, sobald es nur sein Haus betreten hat. Und wenn er auch einmal für eine Pantomime den japanischen Blumensteg übernommen hat, das war nur eine flüchtige technische Sensation. Als geistiger Leiter vieler Bühnen achtete er sorgfältig auf die unübersteigbare Barriere zwischen Bühne und Zuschauer, zwischen Kunst und Leben. Die Zeit mit ihren scharfen Fragen und naseweisen Antworten war ihm stets das Profane schlechthin und deswegen verbannt. So hat er sich sein europäisches Kaisertum errichtet und darüber vergessen, daß es noch ein andres, ein junges, ein gärendes, ein unzeremoniöses Europa gab, das zu gewinnen war, das er verschmäht hat und das jetzt nachdrängt. Noch währt der alte Zauber, noch strahlt alles wie einst. Aber die Heimkehrer von dem großen Reinhardt-Fest, sie wirken seltsam und fremd, sie kommen wie aus einem Traum in den ganz anders aussehenden Morgen. Wie oft hat er das nicht selbst inszeniert? Wir kennen es aus seinen altenglischen und spanischen Komödien: vermummte Männer kehren schläfrig heim; ein Fackelträger geht voran. Aus der Ferne klingt ein zarter verlöschender Geigenton. Noch einmal bricht der Mond weiß hervor, phantastische Schatten zittern an der Wand. Langsam verlöschen die Lichter.

Die Weltbühne, 3. Juni 1930


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