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Nicht jede Bewegung, die einstweilen noch in den Katakomben rumort, braucht deswegen schon bestimmt zu sein, den neuen Messias hervorzubringen. Aber was soll man von einer Bewegung halten, die die Massen ignoriert und ausschließlich in Grandhotels und exklusiven Konzertsälen zur Erscheinung kommt? Coudenhove-Kalergi ist ein guter Europäer aber ein noch viel besserer Österreicher. Er hat den rührenden Kinderglauben des Österreichers an die praktische Bedeutung der »einflußreichen Leute«, an die Suggestivkraft von notablen Namen, an die Allgewalt von Konnektionen. Die paneuropäische Oberregie, die ja ganz in den Händen der weiblichen Linie liegt, ist auf ihre Weise vollendet, aber sie übersieht, daß eine politische Idee nicht ausschließlich auf einer zahlenmäßig kleinen, reichlich versnobten Gesellschaftsschicht ruhen kann, die ein wohlgelungenes Frühstück schon als große historische Leistung vermerkt. Es gibt genug ehrgeizige kosmopolitanische Dudelsackpfeifer, die sich auf einem Paneuropa-Kongreß talentvoll produzieren, ohne darüber die Wehrhaftigkeit der eignen Nation zu vergessen, und die halbwegs aufgeklärte Bourgeoisie applaudiert gern einem unverbindlichen Fortschrittsoptimismus und ist dankbar, wenn die soziale Frage nicht in zerlumpter Aufdringlichkeit wie sonst sondern sauber gewaschen und in anständiger kunstseidener Unterwäsche serviert wird. Coudenhove-Kalergi hat eine entwicklungsfähige Idee gehabt, und er hat sie ruiniert, indem er sie zu einer Angelegenheit der Salons werden ließ. Seine Anhängerschaft wirkt abschreckend und kompromittiert die Sache. Niemand kann leugnen, daß Coudenhove in seinen Anfängen ein echter und begeisterter Utopist gewesen ist, aber – o du mein Österreich! – in Wien werden Propheten nicht verbrannt sondern eingeladen. Wären Herodes und Pilatus Österreicher gewesen, sie hätten den schicksalsvollsten aller Utopisten einfach zur Jause gebeten und mit den weiblichen Familienmitgliedern bekannt gemacht und der Menschheit damit zweitausend Jahre Metaphysik erspart.
Coudenhove will den Europäischen Staatenbund (Etats Fédérés de l'Europe). Ein herrlicher Gedanke, für den im Laufe eines Jahrhunderts Unzählige geschwärmt und gelitten haben. Das aber ist der große Irrtum in Coudenhoves Projekt, daß es den gegenwärtigen sozialen Zustand Europas als selbstverständlich hinnimmt und deshalb nur aus dem europäischen Völkerkrieg in den europäischen Klassenkrieg führen kann. Der Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa ist national- und sozial-revolutionären Ursprungs. Wer ihm diese Grundlage nimmt, der bewirkt nur die Auferstehung der Heiligen Allianz und der Karlsbader Beschlüsse. Mit dem dreifachen Hoch auf das »republikanische konföderierte Europa« wurde das Hambacher Fest beschlossen – und es war ein andres Europa gemeint als das Metternichs. Denn auch der große Bakelschwinger in Wien hatte seine klare Vorstellung von einem befriedeten Europa, aber seine Friedensliebe war die des Menageriewärters, der gelegentlich mit dem Eisenhaken durchs Gitter langt, um ein knurrendes Exemplar zur Ruhe zu bringen. Coudenhoves Plan würde nicht zu einer Vereinigung der Völker führen sondern zu einem Pakt der kapitalistischen Regierungen gegen ihre Völker, zu einer Zusammenwerfung aller staatlichen Machtmittel, um die soziale Revolution, oder was dafür gehalten wird, zu verhindern. Da hätten wir also wieder die vormärzliche Kirchhofsruhe, die von Bajonetten und Kanonen prästabilierte soziale Harmonie. Hundert Jahre nach der Julirevolution preist ein liebenswürdiger Amateur das als Fortschritt an.
Es ist kein großes Wunder, daß ein solches Projekt auch dort Anhängerschaft gefunden hat, wo man sonst nicht sehr für Internationalität zu haben ist; daß Herr Loucheur, der Propagandist für schwerkapitalistische Riesenkartelle ebenso viel für Paneuropa übrig hat wie Herr Seipel mit seinen Jesuiten. Denn ein so aufgebauter Staatenbund könnte wohl innerkontinentale Kriege verhindern, aber er müßte in jedem andern Staat, der auf einem andern sozialen System ruht, seinen Todfeind sehen, und müßte deshalb folgerichtig zum Heiligen Krieg gegen Moskau aufrufen. Coudenhove selbst ist unpolitisch genug, in seinen Reden und Artikeln immer wieder zu betonen, daß es Europa vor dem Bolschewismus zu retten gelte. Niemand, der auf sich hält, sollte den Namen des Bolschewismus unnütz im Munde führen. Denn Bolschewismus ist eine herzlich vieldeutige Sache. Bolschewismus ist für den jungen Mann, der das Ableben seiner Tante abwartet, eine Erhöhung der Erbschaftssteuer; Bolschewismus ist in München, zum Beispiel, eine Jeßner-Inszenierung; Bolschewismus ist in allen Industriekontoren der Welt die Ankündigung von Tarifkämpfen. Eine bequemes Schreckgespenst, das sich leicht herbeizaubern läßt; und ebenso leicht läßt sich gegen die große außerhalb des paneuropäischen Paradieses gehaltene sozialistische Macht die Bezichtigung erheben, sie sei die Anstifterin aller nur denkbaren Unannehmlichkeiten.
Man kann neugierig sein, wie sich der Prophet Paneuropas etwa die aus der Kolonialfrage erwachsenden Reibungen denkt. Offen gestanden, er denkt sich nicht viel. Artikel 13 seines Paktentwurfs lautet: »Alle europäischen Bürger genießen in den tropischen Kolonien europäischer Bruderstaaten in Afrika wirtschaftliche Gleichberechtigung. In den übrigen Kolonien der Bundesstaaten genießen sie mindestens Meistbegünstigung gegenüber Bürgern von Staaten, die dem Bunde nicht angehören.« Und was genießen nun eigentlich die Eingeborenen? Sie werden nicht mitgezählt, sie sind von ihren bösen Tiergöttern und von dem sanften Ethiker Coudenhove ausersehen, die alte Tyrannei weiter zu ertragen. Europäisch sein, das hieß früher antiimperialistisch sein, hieß Verzicht auf die Ausbeutung fremder, primitiverer Rassen. Europäer nannten wir früher die Bekämpfer kolonialer Greuel, einen Europäer nannten wir Eduard Douwes Dekker, der als Multatuli seine leidenschaftliche Stimme gegen die Versklavung Indonesiens erhob. Coudenhoves Europa jedoch proklamiert für sich das Recht, denjenigen Teil der Menschheit, der noch nicht gelernt hat, sich zu wehren, zu unterdrücken und zu plündern. Weiß Coudenhove nicht, daß es schon lange eine Bewegung gibt: »Afrika den Afrikanern«? Es gilt heute, die Blutschuld Europas an der tropischen Welt zu tilgen, den Kolonialimperialismus abzubauen, nicht einen erschütterten, innerlich faulen Zustand für sakrosankt zu erklären, bis der Tag des Gerichtes kommt, wo Kontinent gegen Kontinent steht.
Paneuropa ist nicht der Friede, sondern nur ein neuer und etwas umständlicher Weg zum nächsten Weltkrieg. Man muß Coudenhove eine gute Portion Naivität zubilligen, aber auf die Dauer wirkt es ärgerlich, wenn eine grundreaktionäre Konzeption mit einem Aufwand vorgetragen wird, als ginge es um die Revolution, wenn die Sache Metternichs mit der Sprache Mazzinis verteidigt wird.
Aristide Briands Europa-Memorandum ist nicht ohne weiteres mit den Projekten Coudenhoves zu identifizieren. Die Bewunderer Coudenhoves erblicken in ihm zwar den Inspirator Briands, aber der geniale Schlaufuchs versteht es meisterlich, beflissene Dilettanten, die zudem noch repräsentativ wirken, als Galopins zu benutzen, ohne daß sie es merken, und er ist zu sehr Franzose, also zu höflich, um sie die Wahrheit ahnen zu lassen. Der alte Staatsmann blickt in die Zukunft seines Landes, und er sieht sie umwölkt. Er sieht sein Frankreich in liebenswürdiger Rückständigkeit mitten zwischen groben ökonomischen Tendenzen, die Länder und Völker in einen schrecklichen Konkurrenzkampf reißen, und möchte für eine Zeit, wo neue Kräfte entscheiden werden, seiner Nation wenigstens einen Abglanz ihrer einstigen Präponderanz sichern.
Es steckt viel Verschmitztheit in Briands Vorschlag, aber man muß auch zugeben, daß der Wunsch, die überlieferte Vormacht einer Nation zu erhalten, sich niemals sympathischer maskiert hat. Poincaré schreit in einem solchen Fall »La victoire« und schwingt die Friedensverträge. Briand ist viel weiser als der lothringische Fanfaron, er glaubt nicht an den ewig gleichen Kurs feierlich untersiegelter Papiere, die beschrieben worden sind, weil es dem Gott der Schlachten so gefiel. Man sollte, in Berlin und anderswo, über Briands Vorschläge indessen nicht hochmütig lächeln. Wenn man bedenkt, wie oft Frankreich seinen Nachbarn napoleonisch gekommen ist, wird man in seiner Geste sehr viel Resignation finden. Frankreich erklärt einem Europa, in dem es durcheinander amerikanisch, mussolinisch und sowjetistisch zugeht, mitten in einer Verwirrung, die seiner lateinischen Klarheit nicht wohltut, daß seine Arme nicht mehr viel taugen, daß aber sein Kopf noch sehr gut zu gebrauchen ist, und diesen klugen alten Kopf stellt es Europa zur Verfügung. Lächelnder Abschied von einer turbulenten Vergangenheit. Die Sonne von Austerlitz weicht einem mildern Licht. Der Mann im Invalidendom erhebt sich, um seine nächtliche Heerschar zu mustern. Aber er findet keinen mehr vor, denn der Letzte von der alten Garde ist davongehumpelt und steht als Portier vor dem Haus der europäischen Einheit.
Die Weltbühne, 27. Mai 1930