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In einem Artikel zum Metallarbeiterstreik hat K.L. Gerstorff vor zwei Wochen an dieser Stelle ausgeführt, daß 33 sozialdemokratische Abgeordnete für das Mißtrauensvotum gegen die Regierung Brüning stimmen wollten, und zwar mit Bekanntgabe ihrer Motive. Die Fraktionsmehrheit habe das nicht gestattet, sondern der Opposition mit Ausschluß gedroht und Fraktionszwang eingeführt, und schließlich, und auch das mit Drohungen, Abwesenheit von der Sitzung erlaubt. Dazu erfrischt uns das Sekretariat der sozialdemokratischen Fraktion mit einer Zuschrift, in der diese Angaben rundweg bestritten werden. Die Minderheit betrug nicht 33 Abgeordnete, sondern wesentlich weniger. Es gab auch keinen Fraktionszwang; Abwesenheit war weder erlaubt noch verboten:
»In Wirklichkeit sind angesichts der drohenden Gefahr des Fascismus alle Meinungsverschiedenheiten, die zuerst in der Fraktion bestanden haben, zurückgestellt worden. Die Minderheit gab ihre Bedenken gegen den von der Mehrheit vorgeschlagenen Weg auf und entschloß sich nach einer kameradschaftlichen Aussprache, mit der Mehrheit zu stimmen. Zu diesem Entschluß ist es ohne jeden Zwang, ohne jede Drohung und ohne jede sonstige Beeinflussung gekommen.«
Das Fraktionssekretariat ist so gütig anzunehmen, daß wir diese Darstellung auch ohne Berufung auf das Pressegesetz ... Es hätte dieses Hinweises nicht bedurft. Wir wissen, daß die sozialdemokratische Fraktion keine andern Publikationsmöglichkeiten hat und sind uns unsrer Verpflichtungen gegen die Stummen und Hilflosen wohl bewußt. Das enthebt uns jedoch nicht der Notwendigkeit, die Zuschrift so kritisch zu betrachten wie die Zuschrift jedes andern vollsinnigen Einsenders auch. Diese Richtigstellung ist keine, denn sie bestreitet nur die Zahl der Opponenten, sie bestreitet nur den ausgesprochenen Fraktionszwang, nur die ausgesprochene Drohung. Es handelt sich aber hier nicht um die letzte Genauigkeit der Zahl sondern um die Wahrheit der Situation. Wer diese angebliche Richtigstellung liest, gewinnt den Eindruck, die Opposition habe sich den bessern Argumenten der Mehrheit gefügt. Niemand aber lehnt das entschiedener ab als der Wortführer der Linken, der Abgeordnete Seydewitz, der im ›Klassenkampf‹ vom 1. November schreibt:
»Im Lande draußen ist nach der Reichstagsabstimmung vielfach die Meinung verbreitet worden, die Linke habe mit ihrer Abstimmung bekundet, daß sie sich zum Standpunkt der Fraktionsmehrheit bekehrt und erkannt habe, daß der von der Mehrheit eingeschlagene Weg der richtige sei. Zahlreiche Zuschriften von Genossen aus dem ganzen Reiche beweisen, daß von Vertretern der Fraktionsmehrheit die Bedeutung des Mitstimmens der Fraktionsminderheit, die nur den Geboten der Parteidisziplin folgte, ganz falsch ausgelegt wurde. Auch der ›Sozialdemokratische Pressedienst‹ schrieb in einem an die gesamte sozialdemokratische Presse geschickten Artikel u.a.: ›In voller Einmütigkeit und Geschlossenheit haben die 143 Abgeordneten der Sozialdemokratie ihre Stimmen abgegeben. Keine Meinungsverschiedenheit beeinträchtigte in diesem schweren Augenblick die Energie ihres Kampfes.‹
Diese Darstellung entspricht nicht den Tatsachen; die Linke hat kein Stück ihrer politischen Auffassung preisgegeben, sie ist nach wie vor der Meinung, daß die Fraktionsmehrheit einen falschen Weg geht, sie hat sich in dieser Situation nur der Fraktionsdisziplin gefügt und sie hat nicht geglaubt, daß nach der Diskussion in der Fraktion ihr Verhalten draußen in so entstellter Weise dargestellt würde.«
Und an andrer Stelle betont Seydewitz, daß die Opposition nichts aufgegeben habe sondern weiter dafür arbeitet:
»... daß in dem entscheidenden Augenblick eine Mehrheit in der Partei und in der Fraktion dafür ist, daß die Sozialdemokratie unerschütterlich an der Beseitigung der untragbaren Punkte der Notverordnungen festhält und die bedingungslose Tolerierung der Regierung Brüning ablehnt...«
Das heißt also, daß »die drohende Gefahr des Fascismus« die Opposition in Zukunft nicht mehr hindern wird, sich selbständig zur Geltung zu bringen. Die Opposition weiß, daß die Zeit für sie arbeitet, daß ihre Zahl sich bald vervielfachen wird.
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Die Sozialdemokratie ist am 14. September noch eine sehr kompakte Partei gewesen. Sie ist es nicht mehr seit dem 8. November, dem Tag, an dem der Schiedsspruch im Metallarbeiterstreik bekannt wurde. Auch für dieses Signal zum allgemeinen Lohndruck soll die Sozialdemokratie die Verantwortung übernehmen. Sie soll sich abnutzen, und wenn sie genügend kompromittiert ist, dann wird Herr Brüning seinen Pakt mit dem Marxismus plötzlich degoutant finden und sich nach einwandfreiern Bundesgenossen umsehen. Seit zwölf Jahren fungiert die Partei ausschließlich als Packesel schwachhüftiger Bürgerparteien und hat für diese Selbstlosigkeit nur Rippenstöße geerntet. Jetzt ist der Zeitpunkt nahe, wo auch dies geduldige Lasttier erklären muß, daß es von Stockschlägen allein nicht leben kann.
Es mutet tragikomisch an, daß die Fraktion noch versucht, einen wirklich nicht mehr zu verbergenden Prozeß vor der Öffentlichkeit zu verdunkeln, und daß sie unter Berufung auf das Pressegesetz eine Berichtigung durchdrücken will, während die Entwicklung grade unbarmherzig dabei ist, die Partei selbst einer erheblichen Korrektur zu unterziehen. Die sozialistische Linke ist nicht gewillt, die Partei weiterhin zur höhern Ehre einer dubiosen Bündnispolitik stumm zermahlen zu lassen. Sie bildet schon heute eine Fraktion in der Fraktion. Sie kann in ein paar Wochen schon im Reichstag selbständig auftreten, was nur der erste Schritt zur Trennung, zur Gründung einer neuen USP. wäre. Und sie dürfte zur Rechtfertigung dieses folgenschweren Schrittes sagen, daß es keine andre Möglichkeit mehr gibt zur weitern Erhaltung einer sozialistischen Arbeiterbewegung auf demokratischer Grundlage. Denn der offizielle Parteikurs macht die Arbeiter desperat und an traditionellen Überzeugungen irre; sie fühlen ihr Vertrauen getäuscht und werden bald scharenweise davonlaufen.
Im Mai 1928 schrieb ich in der Wahlnacht, daß der überraschend große Sieg der Sozialdemokratie ihr auch eine kolossale Last auferlege. Sie werde als Regierungspartei in der Großen Koalition die Gegensätze im eignen Lager erst recht verspüren, und es sei eine Spaltung in etwa zwei Jahren durchaus denkbar. Das war nicht als Prophetie gemeint, es war ein Ausdruck der Sorge um die Zukunft. Obgleich das ganz offensichtlich war, bin ich doch von der sozialdemokratischen Presse damals furchtbar ausgeschmiert worden. Wie ist es seitdem gekommen? Mai 1928: gewaltiger Wahlsieg. Zwei Monate später: Krach um den Panzerkreuzer; allgemeine Verdrossenheit; Prestigeverlust. Ende 1930: ernsthafte Diskussion, ob die organisatorische Einheit noch möglich und nützlich ist.
Sie ist heute noch beides. Aber die Voraussetzung zu ihrer Aufrechterhaltung ist, daß eine gründliche Erneuerung der Parteiführerschaft eintritt und daß die Abkehr von einer Politik erfolgt, die nur Opfer erfordert und nichts einträgt als das wohlwollende Kopfnicken einiger liberaler Blätter, die aber auch gleich ungemütlich werden, wenn die Vorsänger der Partei einmal den Takten des Herrn Brüning nicht ganz treulich zu folgen vermögen. Linke Sozialdemokratie, das war bisher ein vager Begriff. Auf den Parteitagen in die Ecke gedrückt, durch den Tod Paul Levis des geborenen Führers beraubt, so mußte sich die linke Opposition an den dicken Glaswänden der Parteidisziplin, ohne recht gehört zu werden, die Stirn blutig stoßen. Man wußte zwar, in welchen Landesteilen sie besonders starke Wurzeln hat, aber ihr wirklicher potentiel de guerre blieb unklar. Jetzt ist für sie die Stunde gekommen, in den Vordergrund zu treten. Wird ihr dieser Platz verweigert, dann ist die Entwicklung zur zweiten sozialdemokratischen Partei unaufhaltsam. Statt Sammlung also abermals Sezession. Eine sehr unerfreuliche Aussicht, aber das kleinere Übel noch immer, denn es bedeutet wenigstens die Rettung eines Kerns, einer Stammtruppe – die Wahrung einer Idee. Die Fortführung des jetzigen Zustandes jedoch bereitet nur einen ungeheuren Konkurs vor, in dessen Masse sich Hitler und Heinz Neumann teilen mögen.
Die Weltbühne, 18. November 1930