Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Boris und Seipel

Der König von Bulgarien ist nach Deutschland gekommen, um wegen eines Ohrenleidens Spezialärzte zu konsultieren. Es ist nicht bekannt, welcher Art das Übel ist. Ob er es sich zugezogen hat, weil er die Ohren zu lange verstopft hielt gegen die Klagen seines Volkes oder ob sie schließlich wund geworden sind beim Anhören des unsäglichen Jammers.

Die Organe der Republik begrüßen den König mit jener Gemessenheit, die Prokonsuln gut ansteht, wenn sie einer Krone die notwendige gesellschaftliche Hochachtung zollen müssen. Der König, erfahren wir, ist ein sehr liebenswürdiger Herr, einfach in Auftreten und Lebensweise. Er hat es sehr schwer zu Hause bei Politikern, die noch an autochthonen Ausdrucksformen hängen. Er kann eine Lokomotive führen, und das ist sein größter Spaß. Ein guter König.

Aber gleichzeitig mit dem Herrn aus Bulgarien gastieren ein paar seiner Untertanen in Berlin mit einer Ausstellung, die »Bulgariens Blutstrom« heißt und Bilder und Zahlen enthält, schreckliche Zeugnisse eines Regimes entfesselter Parteisucht. Seit Jahren wütet der Henker in Bulgarien, seit Jahren sind die konstitutionellen Garantien, die sich auf dem Papier nicht schlechter ausnehmen als die einer Republik, praktisch so gut wie nicht mehr da, und wo die Justiz zögert, hilft der Meuchelmord weiter.

In der bulgarischen Verfassung befindet sich ein § 61, der wohl als Überbleibsel der Türkenzeit zu erklären ist, aber trotzdem seinen eignen Klang hat: »Jeder Sklave, gleich welchen Geschlechts, welcher Religion und welcher Nationalität, wird frei, sobald er bulgarisches Territorium betritt.« Schön gesagt. Und es gibt auch einen so wahrhaft musikalischen Satz wie den im § 73: »Es dürfen unter keinem Vorwand und gleichgültig welcher Benennung Sondergerichte oder Untersuchungskommissionen gebildet werden.« Vielleicht um dieses löbliche Prinzip nicht zu verletzen, hat der politische Mord in Bulgarien solche Virtuosität erreicht. Du stehst in einer dichtgedrängten Menschenmenge, plötzlich ein Klick, etwas pfeift am Ohr vorbei, und einer deiner Vordermänner sinkt still zusammen. Das Blut verläuft im Sande wie die Untersuchung.

Doch wäre es ungerecht, mit Maßen zu messen, die nicht angebracht sind. Denn dieses Volk hat mehr und schlimmer gelitten als viele andre. Ausgeblutet in den zwei Balkankriegen, wird es durch eine verfehlte Spekulation seiner Regierung in den Weltkrieg gestoßen. An der Salonikifront bricht seine Armee zusammen und eröffnet damit die Katastrophen der Mittelmächte. Die Friedensbedingungen sind hart, lange verhalten sich die Sieger ganz einsichtslos. Jenseits der Grenze brennt Mazedonien, das Ziel sehnsüchtiger Patrioten, und dessen innerer Zwiespalt wird oft genug in Sofia ausgetragen. Ein begabter Bauerndespot, Stambuliski, will der Reformator werden. Er übernimmt sich, wird von seinen Feinden gestürzt und, wie ein wildes Tier, im Dickicht erlegt. Dann beginnt das »liberale System« Zankoff – Liaptscheff, und wir sind in der Gegenwart. Über einer breiten, bedächtigen Bauernnation erhebt sich die schmale Säule städtischen Bürgertums – Intellektuelle, die im Ausland geistigen Hochmut, Offiziere, die auf fremden Kriegsschulen Volksverachtung gelernt haben. Ein lächerliches Häuflein, das herrschende Klasse spielt. Tyrannis einer dünnen Minorität. Ausnahmezustand, Füsilierungen, Folter und Mord.

König Boris zeigte zunächst bessere Erkenntnis als seine Generale und Minister. Was es mit dem bolschewistischen Schrecken auf sich hat, das wird ein Mitglied der geschäftskundigen Familie Koburg am besten wissen. Der König suchte die Exzesse des »liberalen Kurses« einzudämmen. Nicht einmal Anschläge auf seine Person, nicht einmal das abscheuliche Dynamitattentat in der Kathedrale, das vielen unschuldigen Menschen das Leben kostete, trübte seine Einsicht. Er war sogar für die Begnadigung jener Männer, die man als Urheber jenes Attentats hingerichtet hat. Die Kommunistenangst seines Kabinetts konnte ihn nicht hindern, prüfende Blicke nach Moskau zu richten.

Das war 1925. Seitdem hat sich Liaptscheff dem Fascismus verbündet; Bulgarien bildet heute ein beachtliches Stück im fascistischen Block Europas. Der König aber ist sehr ruhig geworden. Man hört nichts mehr von Versuchen, seine Meinung zur Geltung zu bringen. Er wird von Reisenden als ein sehr freundlicher und vielunterrichteter Herr geschildert, der etwas einsam und ohne großen Aufwand lebt. Wenn er guter Laune ist, fährt er seine Lokomotive spazieren.

Es ist vielleicht nicht artig, einem Gaste Deutschlands vorzuführen, wie es bei ihm zu Haus aussieht. Aber König Boris hat bisher weder an seiner Rechtlichkeit noch an seiner Begabung zweifeln lassen. Auch daß er als Regent so streng sein Incognito wahrt, mag einem Zweck dienen. Vielleicht hofft er, das blutige Regime werde sich endlich müde laufen und damit eine gradweise Entbarbarisierung möglich werden.

Kann er es, nach allem, was geschah, noch hoffen? Es wäre töricht, etwa von dem armen Victor Emanuel zu verlangen, er möge seinem Duce Einhalt gebieten. Aber Boris ist bessern Formats und Liaptscheff kein Mussolini. Und wenn schon einmal ein König fiele ... im Kampfe gegen die Quäler seines Volkes –? Aber er würde gar nicht fallen. Die Koburger haben noch immer bessere Schutzengel gehabt als andre Dynastien, und, von den höhern Mächten abgesehen, hätte Boris alle Menschen für sich, die den weißen Schrecken verabscheuen.

*

Ein wiener Pressephoto zeigt den Herrn Prälaten Ignaz Seipel, wie er mit dem Lächeln der Entspannung nach seiner Demission das Ministerium verläßt. Er bekundet damit jene Heiterkeit, die so typisch ist für die geschlagenen Feldherrn unsrer Zeit. Herr Seipel ist ein Besiegter des innern Kriegs, obgleich er das Feld vor der Entscheidung verlassen hat.

Er war der einzige Staatsmann, der das neue Österreich wirklich repräsentiert hat. Der Seelenhirt wurde der berufene Wächter der großen Herde Staat, in der zwangläufig die Wölfe mit den Schafen blöken. Auch wenn der Hirte selbst schließlich wölfische Züge annahm, jetzt, wo er gegangen, bleibt ein großes Vacuum.

Es gibt Politiker, die ihr Ministeramt als orthodoxe Parteimenschen betreten und nachher milde und weitherzig werden. Und es gibt andre, die ganz tolerant beginnen und sich im Laufe der Zeit zu giftigen Doktrinären entwickeln. Es ist sehr merkwürdig, daß die erstere Sorte fast immer von den Sozialisten beliefert wird, letztere von Bürgerlichen. Der Priester Seipel, den Christlich-Sozialen zugehörig, stand am Ausgang der franzisko-josephinischen Ära im Gefolge des klerikalen Pazifisten Lammasch, der, in vielem Friedrich Wilhelm Förster ähnlich, durch seinen dunklen Stern dazu bestimmt war, das Haus Habsburg zu retten, als es schon fast gar nicht mehr da war. Seipel war in seinen Anfängen das Muster des politischen Geistlichen, nachsichtig und biegsam, der Mann der unendlichen Geduld, der das bittere Werk der Sanierung Österreichs endlich in Genf erreichte. Eine geringere Intelligenz und weniger ausgebildete Selbstzucht wäre wohl in den demütigenden Situationen dieser Jahre vor Kummer und Wut geborsten.

Doch dann, in den innern Auseinandersetzungen, wird aus dem verbindlichen Weltpriester ein sich verhärtender und verengender Parteikrieger. Aus dem sozial denkenden Kleriker ein bösartiger Bekämpfer des Sozialismus. Aus dem Retter des Staates dessen Gefahr. Gewiß sind die Gegensätze nicht gering. In Wien haben die Kapitalisten ewig streitsüchtige Kleinbürger gegen die rote Stadtverwaltung aufgeputscht. In der Provinz gärt es dumpf gegen die gottlose Hauptstadt. In Tirol und Graz schilt man es Verschwendung, daß für die Arbeiterschaft anständige Wohnungen gebaut werden. Es gibt keine Mittelparteien, den Zusammenprall abzuschwächen; die Großdeutschen zählen schon heute nicht mit. Faktisch besteht in Österreich das Zweiparteiensystem. Seipel nutzt dessen unbestreitbare Vorteile nicht aus, es wird in seiner Hand zum Bürgerkriegssystem. Er verschanzt sich hinter der übelsten Reaktion, päppelt die Schwarzgelben und verschmäht nicht einmal Konzessionen an die dümmsten Gassenantisemiten. Manchmal erscheint dieser kluge, geschliffene Kopf kaum besser als die münchner Dorfpolitiker. Dann kommt die Entladung des 15. Juli 1927. Nicht Seipel, Otto Bauer verhindert das weitere Blutvergießen.

Eine allgemeine Ermattungspause nachher verstreicht ungenützt. Im Gegenteil, der Bundeskanzler pumpt den lächerlichen Popanz der Heimatwehren auf. Durch Hintertüren schleicht der Fascismus ein und stellt auch heute noch Österreich vor eine recht ungewisse Zukunft.

Wenn Ignaz Seipel jetzt unerwartet den Kampfplatz verläßt, so liegt das nicht nur an gewissen Schwierigkeiten in der eignen Partei. Die wirkliche Ursache ist in dem gewaltigen Anwachsen der Kirchenaustrittsbewegung zu suchen. Dieser Priester mit dem Panzerhemd unter der Soutane mochte im Klassenkampf des Bürgertums eine starke weltliche Attraktion gewesen sein, eine geistliche war er nicht. Er mochte die Versammlungen füllen, die Kirchen hat er geleert, die ungezählten kleinen Leute, ohne die der Katholizismus nicht leben kann, in Massen vertrieben. Ein lehrreiches Exempel: macht eine klerikale Partei allzu rabiat reaktionäre Politik, so fällt das Odium auf die Kirche zurück. Diese Erfahrung aus dem Fall Seipel sei dem deutschen Zentrum und dem Herrn Prälaten Kaas angelegentlichst zum Nachdenken empfohlen.

Die Weltbühne, 9. April 1929


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