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Als es der alte Herr Geheimrat von Goethe partout nicht mehr aushalten konnte, ging er zu dem wilmersdorfer Nervenarzt Doktor Felix A. Theilhaber. Mit einem durch keine altmodischen Respektgefühle geminderten Scharfblick erfaßte der Herr Doktor sofort den körperlichen Habitus des bekannten Patienten und schrieb nieder: Zyklothymiker. »Zu den seelischen Merkmalen, die wir an Zyklothymikern feststellen, gehören Überschwänglichkeit, Hang zum Pathos, elegische Schwärmerei, besonders in der sprachlichen Darstellung, Herzlichkeit gegenüber vereinzelten Menschen.« Also der ganze Goethe. Dann erzählte der Herr Geheimrat, an den besten Experten geschult, seine Biographie. Nach Art unverbesserlicher Neurotiker versucht er zwar seine irdischen Amouren in den Dunst des Sublimen zu hüllen, aber was ein richtiger Sexualarzt ist, der läßt sich keine mystische Ekstase für einen Coitus vormachen, und so wird Herr Goethe ausgeholt wie noch nie. Nur als er sich über Frau von Stein äußern soll, da antwortet er mit einer kleinen Tücke um die tragisch gesenkten Mundwinkel, daß diese Beziehungen ganz und gar platonisch gewesen seien. Obgleich die Herren Sexualspezialisten sonst in diesem Punkt nicht grade vertrauensselig zu sein pflegen, glaubt der Herr Doktor hier aufs Wort und notiert: »Liebe mochte es für die Stein geben, der Geschlechtsverkehr war ihr gründlich verleidet. Sie hatte einen Abscheu und eine Furcht vor allem Geschlechtlichen.« »Und was fehlt mir nun eigentlich?« fragte der Herr Geheimrat schließlich. »Ja, mein Lieber«, antwortet der Herr Doktor nachdenklich, »Sie laborieren an einem Kellnerinnenkomplex. Angefangen von dem Jugenderlebnis mit der offenbacher Wirtstochter bis zu der Sache aus dem Tagebuch von 1810 zeigen Sie immer den Hang zu naiven, etwas gewöhnlichen Kindern aus dem Volke. Sie suchten immer ihr Gretchenideal in der Wirklichkeit zu finden. Deshalb auch Ihre Liebe für Christiane Vulpius.« »Sie raten mir also ab, die Sache mit Ulrike fortzusetzen.« »Jawohl«, donnerte der Herr Doktor, dem endlich die Geduld riß, »bleiben Sie bei den Kellnerinnen, das ist für Sie das beste!«
Und nachdem der Patient gegangen war, setzte er sich hin und schrieb ein stattliches Buch: »Goethe. Sexus und Eros«, eine glänzende Detektivarbeit. Ich nehme an, daß alles stimmt, aber es ist sehr merkwürdig: die reichlich eingestreuten goetheschen Verse, und es sind die schönsten, haben nun mit einem Mal gar keinen Glanz mehr, sie sind, wie ein zartes Gesicht, das plötzlich voll von Pickeln und Pusteln ist, sie scheinen jetzt weniger Dichtung als vielmehr leibliche Ausscheidungen, die nachher zur Untersuchung auf der Spiritusflamme erhitzt werden. Was wird durch diese medizinische Entlarvungsliteratur bewiesen, was wir nicht schon wußten? Goethes Liebesspiele haben einen posthumen Teilhaber gefunden, gut. Der Herr Doktor hat sein Plaisier, aber uns bleibt das Mißbehagen an einem pseudo-psychologischen Apparat, in den oben ein Apollogott gesteckt wird und unten ein kleines Dreckschweinchen herauskommt.
Die Weltbühne, 24. September 1929