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Es ist nicht nur im Reichstag Sitte, einen Nachruf auf ein verstorbenes Mitglied stehend anzuhören. Als Herr Loebe ein paar Gedenkworte für Paul Levi sprach, erhoben sich zwei Reichstagsparteien und gingen geschlossen hinaus. Die eine hat Paul Levi mitbegründet und später geführt, die andre rechnet ihn seit je zum engsten Kreis der »Novemberverbrecher« und ließ Dreiundzwanzig in München seinen Namen als proskribiert erklären. Wenn noch an einer Totenbahre der Haß nicht schweigen will, wenn an die Stelle des »Requiescat in pace!« der Fluch tritt: »Deine Asche möge im Wind verwehn!«, dann weiß man, daß hier kein Durchschnittsmensch gestorben sondern ein außergewöhnliches Leben zu Ende gelebt ist und daß die Erregungen, die es ausgelöst hat, stärker sind als Konvention oder selbst als natürliches Gefühl.
Es gehört zur Problematik dieses Lebens, daß Paul Levi geliebt und gehaßt wurde wie ein großer Führer, daß er immer seine Enttäuschten und seine Hoffenden hatte und daß er trotzdem nur selten in den Mittelpunkt trat, daß er oft genug die Sprungstellung des Oppositionellen einnahm, ohne zu springen, daß er öfter noch, wenn von ihm Handlung erwartet wurde, mit einer Gebärde des Ignorierens abgewendet blieb. Deshalb wird er niemals in das allzu eilfertig zusammengestellte Pantheon der Republik kommen. Denn es ist wahr: er hat niemals, wie man so sagt, positiv gearbeitet. Er hat niemals, wie Ebert und die andern Helden der republikanischen Legende, an dem sogenannten Wiederaufbau mitgearbeitet, obgleich seiner Begabung keine Möglichkeit unausschöpfbar gewesen wäre. Er war am Ausgang der revolutionären Epoche Präsident der KPD, er stand später als Sozialdemokrat immer nur als Wortführer einer Minderheit und öfter noch neben dieser als Einzelgänger. Er hat kein Tipfelchen von dem, was die Partei sich als Tat und Leistung zubilligt, unkritisiert gelassen. Er war für Klassenkampf, wo die Partei praktisch für Klassenversöhnung war, er glaubte nicht an Demokratie, nicht an Pazifismus, nicht an den Völkerbund, er setzte ein Fragezeichen sogar hinter die Erfüllungspolitik – er war die verkörperte Negation, die rasante Skepsis zwischen behaglichen Jasagern. Und selbst seine letzte und berühmteste forensische Leistung ging nicht darum, eine Unschuld zu erweisen sondern einen vor Jahren verübten Mord zu sühnen, die gewaltige Offensivkraft seiner Beredsamkeit hatte nur das Ziel, einen gewissen Herrn Jorns schon ein paar Jahre vor der Erreichung der Altersgrenze ins Elysium der Pensionierung zu schicken. Diese entschlossene Negation war sein Charakteristikum und wird sein Ruhmestitel bleiben übers Grab hinaus. Denn sie entwickelte sich nicht aus einer giftigen thersiteischen Veranlagung sondern aus einer ganz großen intellektuellen Sauberkeit. Er tut nicht mit, schimpften die Genossen, er will keine Verantwortung auf sich laden! Nein, er wollte nicht Mitschuldiger sein, und wenn die Geschichte einmal das Fazit der ersten zehn Jahre Republik zieht, dann wird sie Paul Levi mit Ehren überhäufen, weil er nicht »mitgetan« hat, weil er die reinliche Negation für produktiver hielt als kleine Kompromisselei und staatsmännisch aufgetakelten Prinzipienverrat.
Die Kommunisten taten Unrecht, ihn einen Abtrünnigen, die Sozialdemokraten, ihn einen Bekehrten zu nennen. Er war internationaler revolutionärer Sozialist aus Rosa Luxemburgs Schule, hat es nie verleugnet. Er brachte in den Schrebergarten der Reichstagsfraktion ein Fünkchen moskauer Fegefeuer, den Brandgeruch der Oktoberrevolution. Er trug die Konzeption eines Weltbildes unter gutartige Spießer, deren Horizont günstigstenfalls bis ins Vorzimmer des Völkerbundes reicht. Daß er nach seinem Sturz in der Kommunistenpartei erst zu den Unabhängigen, dann mit ihnen zu den Sozialdemokraten ging, ist ihm oft zum Vorwurf gemacht worden. Aber er folgte nur dem Gesetz lebendigen Wirkens, er wollte seine Kraft nicht in einem selbstgeschaffenen Exil sauer werden lassen, nicht an einem Straßenrand reden, wo ihm der Weg zu einer Tribüne offen war. Gewiß war seine Stellung unbequem und oft zwitterhaft. Er hatte das Air des geborenen Führers und drehte der Führerschaft jedesmal den Rücken, wenn sie sich ihm zu nähern schien. Er wehrte mit lässiger Eleganz ab, anstatt fest zuzugreifen. Vielleicht hat sein Unglück in der Kommunistischen Partei ihn tiefer verwundet, als er jemals zugegeben hätte, ihn mit grundsätzlichem Zweifel gegenüber dem Begriff der Macht erfüllt. Sein jäher Tod schneidet die Frage ab, ob die Passivität seiner letzten Jahre nur eine vorübergehende war oder ob er nicht doch einmal das Signal zum Aufruhr gegeben haben würde.
Vielleicht brauchte er auch die Parteipolitik nicht mehr. Denn in diesen letzten Jahren hatte er eine neue Aufgabe gefunden: Er war zum besten Führer in den Kämpfen um die Justizreform geworden. Hier wurde ihm alles zum Vorteil, was in Parlament und Partei sonst nur Mißtrauen entzündet: sein Mut zur Logik, sein Wissen, seine Belesenheit und seine hinreißende Beredsamkeit. Da wo es nicht um Parteiinteressen und nicht um das Abrakadabra von Dogmen geht, bleibt freiere Wirkung möglich, kann sich der Zauber einer Persönlichkeit entfalten, ohne plumpe Vorwürfe fürchten zu müssen. Der Anwalt der Gerechtigkeit hat das schöne Amt, direkt an das beste Gefühl des Menschen, an das Rechtsgefühl appellieren zu dürfen, und er wird um so erfolgreicher sein, je mehr er, wie Paul Levi, es unrabulistisch tut. Levi wollte immer der Wahrheit zum Siege verhelfen, nicht einer juristischen Konstruktion. Die Juristerei, die er so glänzend beherrschte, war ihm immer nur Handwerkszeug, niemals Selbstzweck. Auch ein Andrer hätte wohl Herrn Jorns klein gekriegt, aber Dieser machte aus dem Termin vor einer Strafkammer den großartigen Sühnetag der geschändeten Gerechtigkeit. Dieser durfte mit Recht sprechen: »Hier treten diese Mauern und tritt diese Decke zurück. Hier ist ein Tag des Gerichtes gekommen!«, denn er selbst wuchs in dieser Stunde weit über sein gewohntes Maß hinaus, und so steht an der Grenze seines Lebens die mächtigste deutsche Rede seit Ferdinand Lassalle.
Was wird sonst noch von ihm bleiben? Ein paar kleine Broschüren zu aktuellen Fragen, durch weite Perspektiven ausgezeichnet, die knappe messerscharfe Studie über den Aufstand des Catilina und eine hoffentlich recht bald erfolgende Sammlung seiner Artikel, in denen sehr viel von der klugen Gradheit und dem Witz seiner mündlichen Reden enthalten ist. Die Partei, die ihn nicht verdient hat, wird ihn schnell vergessen. In Erinnerung bleiben wird er bei den paar hoffnungslosen Außenseitern, die sich von dem Gedanken nicht trennen können, daß auch die revolutionäre Politik starke, eigenwillige Individualitäten braucht und daß sie mit einem Manne wie Paul Levi noch immer besser fährt als mit den korrekten Bureauvorstehern des Radikalismus. Paul Levi war dem Sozialismus verschworen wie kaum ein Andrer, aber nicht der Partei, nicht ihren Buchstaben, nicht ihren Opportunitäten und Rücksichten. Deshalb bedeutet sein Tod mehr als der irgend eines Politikers, deshalb will an dieser Bahre die quälende Leere der Hoffnungslosigkeit nicht weichen. Er war eine eigne Macht, mit seinen Widersprüchen und Irrtümern seine eigne Fahne, und diese Fahne ist gesunken.
Die Weltbühne. 18. Februar 1930