Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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1930

900

Gibt es noch eine Opposition?

Es war ein paar Jahre vor dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreiches, als Henri Rocheforts ›Lanterne‹ an Napoleon III. das berühmt gewordene Wort richtete, daß von vierzig Millionen Franzosen alle bis auf einen Mißvergnügte wären. So sehr man geneigt ist, diese unfreundliche Feststellung auf deutsche Verhältnisse anzuwenden – es geht nicht: denn der eine Zufriedene würde schwerlich aufzufinden sein. Nicht ganz mißvergnügt, das ist vielleicht Herr Hjalmar Schacht, weil er, anstatt an die haager Front rücken zu müssen, inzwischen das für seine Vorgesetzten bestimmte Messer in Ruhe schleifen kann.

In der innern Politik, soweit solche noch vorhanden, überwiegt Ausverkaufsstimmung, nur melden sich keine Abnehmer. Die Unterhaltungen in den Mittelparteien über die Schaffung einer großen bürgerlichen Sammelgruppe sind inzwischen abgeebbt. Denn wer wäre imstande, sich von den Chancen irgendwelche klaren Vorstellungen zu machen? Herr Siegfried von Kardorff lockt zwar noch immer mit Schmeicheltönen, aber er besitzt keine Macht sondern nur einen gutbesuchten Salon. Bei aller Betriebsamkeit seiner ehrgeizigen Frau – das gastfreie Ehepaar Kardorff hat mehr Aussicht, in die berliner Kulturgeschichte zu kommen als in die deutsche Geschichte. Der liebenswürdige Herr von Kardorff ist kein Rufer im Streit, er hat bei aller Beliebtheit keine politische Gegenwart, er zehrt von einer Vergangenheit, von der auch niemand recht weiß, worin sie eigentlich bestanden hat. Nein, die bürgerliche Sammelparole ist vorläufig abgetan, nicht, weil sie so ganz hoffnungslos wäre, sondern weil sich keiner traut, mit einem verwegenen Schritt das Mandat zu riskieren. Nur in jungdeutschen Zirkeln schwadroniert man noch und möchte das ganze deutsche Vaterland auf Grund des legendären »Fronterlebnisses« neu möblieren. Der Kriegerverein als Staat aufgezogen. Soziale Gegensätze ausgeglichen durch gemeinsame Kegelpartien am Sonntagnachmittag. Gut Holz, meine Herrschaften!

Fünfzig Millionen Deutsche, in allem Wichtigen und Unwichtigen uneinig, immer bereit, sich um den albernsten Vereinsetikettenkram die Schädel einzuschlagen, sind sich doch in dem Einen einig, daß es so wie jetzt nicht mehr weitergehen darf. Gewiß, das ist eine alte Spießerparole, aus der Bierdunst von Generationen strömt, aber sie scheint plötzlich wie durch ein Wunder entalkoholisiert zu sein, sie hat eine zähe, fanatische Trockenheit bekommen, denn sie ist der Ausdruck einer Gemütsverfassung, die die Flucht in die Anarchie einer Ordnung vorzieht, die doch nicht mehr ist als eine von demokratischen Redensarten umbauschte Anarchie. Der Reichstag, der legale Verwalter der Volkssouveränität, erfreut sich einer Verachtung wie niemals in der Kaiserzeit, als er nur eine Drapierung des Absolutismus war. Jedermann in Deutschland ist heute oppositionell. Aber eine wirkliche Opposition, das heißt eine Partei, die alle Empörung, alle Hoffnungen und Wünsche magnetisch anzieht und über ihrem eignen Feuer zu einer neuen einheitlichen Masse umschmilzt, die gibt es nicht. Denn der vielverspottete Mann auf der Straße empfindet mit gutem Instinkt, daß die paar Parteigebilde, die das regierende System verlästern und ihm dreimal täglich ein Pereat ausbringen, von ihm nicht blutmäßig unterschieden sind. Andre Farben, gleicher Stoff. Eine starkwillige, begeisternde und Ausblicke gewährende Opposition ist nicht da. Das ist kaum in einem andern Lande denkbar, ist aber auch ein trauriger Beweis dafür, was für ein ungeheures Kapital an Vertrauen in diesen zehn Jahren von rechten und linken Parteien hirnlos verwirtschaftet worden ist.

Die Deutschnationalen mit ihrem so ungebärdig tuenden Führer sind trotzdem nur eine auf Wartegeld gesetzte Regierungspartei. Herr Hugenberg ist nur am Rednerpult oder im Schatten der Hermannsstatue ein Wirrkopf, nicht in seinem Geschäft. Da er es noch nicht für richtig hält, seine wirklichen wirtschaftspolitischen Prinzipien zu enthüllen, was dem nächsten Rechtskabinett überlassen bleibt, so läßt Hugenberg einstweilen die Nationalsozialisten als Sturmtruppe los, die als Kompensation für faktischen Arbeitermord geräuschvolles aber herzlich unschädliches antikapitalistisches Theater bieten. Die liberalen Blätter überschätzen die Bedeutung der Wahlverluste, die Hugenbergs Partei durch das Anwachsen der Nationalsozialisten erleidet. Hugenberg wird seinen Golem Hitler nicht zu selbständig werden lassen; wenn er ihn nicht mehr braucht, wird er ihm einfach die Bezüge sperren, und die nationalsozialistische Bewegung wird ebenso mysteriös hinschwinden wie sie in diesen beiden letzten Jahren mysteriös gewachsen ist. Mietlinge, die auseinandergejagt werden, wenn sie nach erledigtem Pensum nicht nur blanke Münze sondern auch Machtbeteiligung fordern.

Daß sich die Jugend des zerfallenden Bürgertums so lebhaft zu dem Gassenantisemitismus und konsequenten Knotentum von Agitatoren à la Goebbels hingezogen fühlt, ist zwar traurig, jedoch nicht grade verwunderlich. Das ergibt sich leicht aus dem Ressentiment einer zertrümmerten sozialen Vormachtstellung, und auch die Schule hat hier trefflich vorgearbeitet. Dazu waren auch die republikanischen Parteien viel zu sehr von überalterten Begriffen durchsetzt, um anziehend wirken zu können. Der republikanische Politiker hat kein Recht, über die von den Hitlerleuten ausgehende Verwilderung zu jammern. Er mag sich an die Brust schlagen: Mea culpa!

Viel ernster sind die Eroberungen zu werten, die die Nationalsozialisten neuerdings in der Arbeiterschaft machen. Es handelt sich hier natürlich nur um eine vorübergehende Erscheinung, denn die Nationalsozialisten verfügen nicht über genug eignen Geist, um den nötigen Bindestoff für klassenmäßig auseinanderstrebende Elemente zu produzieren, aber es liegt doch die bittere Warnung darin, daß beträchtliche Teile der Arbeiterschaft mit den beiden großen Arbeiterparteien nichts Rechtes mehr anfangen können. Daß die Sozialdemokratie, die ja noch immer sozusagen Regierungspartei ist, einen gründlichen und hoffentlich die Selbstbesinnung fördernden Rückschlag erfährt, braucht nicht zu verwundern. Schwerer fällt ins Gewicht, daß auch die Kommunistische Partei von der großen Mißtrauenswelle hin- und hergezerrt wird, die über alle Parteien der Mitte und der Linken hinweggeht. Das wirkt unnatürlich angesichts der Tatsache, daß die Kommunistische Partei sich streng abseits gehalten und zu allem Nein gesagt hat, was die Andern taten. Sie hat sich selbst als die Oppositionspartei par excellence gefühlt, und wo bleibt nun der Erfolg, der in Zeiten einer Mißregierung wie der gegenwärtigen schon schlechtern Parteien wie im Schlaf zugefallen ist –?

Jede sozialistische Partei segelt heute zwischen den Klippen der Dogmatik und des Opportunismus. Die Sozialdemokratie hat sich seit 1914 den wirklichen oder vermeintlichen Bedürfnissen des Moments verschrieben; sie hat dabei ihre Seele verloren aber ihr Körpergewicht gewahrt. Die Kommunisten sind der Dogmatik treu geblieben – oder wenigstens dem, was der moskauer Heilige Stuhl jeweils als Dogma verkündete – aber der Körper hat nicht viel gewonnen, und auch die seelische Kraft der Partei ist dabei nicht gewachsen. Es würde noch viel schlimmer stehen, wenn nicht behördliche Verfolgungssucht die Partei ständig eines verschwörerischen Carbonaritums verdächtigte, und wenn dieser Kampf nicht die Opferwilligkeit des treuen Mitgliederkerns aufs äußerste anspannte. So konnte die Partei die zeitweise ihren Bestand gefährdende Auseinandersetzung mit der Opposition überdauern. Aber die verschiedenen Säuberungsaktionen zur Wahrung des reinen Leninismus haben unendlich viel Blut und Geist gekostet. Beide Gruppen sind nicht sehr fein verfahren. Da man sich mit scholastischer Dialektik den Massen nicht verständlich machen konnte, mußte man eine dickere Terminologie wählen, und man bezichtigte sich gegenseitig des »Verrats«. Die Parteileitung hat gesiegt, wenn auch um einen hohen Preis. Wann wird es endlich dämmern, daß Menschen wichtiger sind als Lehrsätze?

So steht die Partei, der eigentlich die Ernte einer langen, tapfern und opfervollen Opposition zufallen müßte, als unduldsam und doktrinär abgestempelt da, und vergeblich sucht sie durch eine etwas primitive Radikalität zu beweisen, daß sie an Kraft nicht verloren habe, revolutionär sei bis zur letzten Faser und treueste Hüterin leninistischer Prinzipien. Es ist aber ein bösartiges Kriterium für den heutigen Zustand orthodoxer Erstarrtheit, daß es, zum Beispiel, den Nationalsozialisten so leicht fällt, Sprache und Exterieur der Kommunisten zu kopieren. Das zeigt, daß an die Stelle des lebendigen, der Zeit unterliegenden Fließens die feste Formel getreten ist. Die deutsche Kommunistenpartei ist nicht mehr bewegliche Apostelgemeinde sondern Kirche. Wir glauben aber nicht mehr an Kirchen, auch nicht, wenn sie Gott gestürzt und durch Karl Marx ersetzt haben.

Es kommt aber für die Partei darauf an, beweglich und offen für den Geist zu bleiben. Ihr Ehrgeiz müßte es sein, in der selbstgefälligen Langweiligkeit des deutschen Parteiwesens die Bewegungspartei zu werden. Statt weit geöffnet zu sein für alle, die für den Sozialismus wirken wollen, verlangt sie Lippenbekenntnisse. Alle noch so eifrige Zellenbildung kann nicht verhindern, daß sie exklusiv wirkt. Die russische Partei hat eine weltgeschichtliche Leistung hinter sich. Es ist kein Wunder, daß die deutschen Genossen davon fasziniert sind, aber die russische Wirklichkeit ist eine andre als die deutsche. Die Mehrheit der deutschen Arbeiter will die Wiederherstellung einer klaren Klassenfront, aber nicht durch einen brudermörderischen Krieg bis aufs Messer sondern durch Verständigung. Die beiden Richtungen des deutschen Sozialismus sind weit auseinandergekommen, sie werden sich in irgend einer Form einmal wieder finden müssen, wenn sie nicht beide getrennt geschlagen werden wollen. Die Sozialdemokratie wird dazu ihre etwas individuelle Auslegung des Begriffs Demokratie aufgeben müssen, die dahin geht, daß für alle Fälle die Arbeiterschaft nachgeben muß. Die Kommunisten dagegen werden die monotone Ruppigkeit ihrer Presse um ein paar neue Akzente bereichern müssen, vor allem aber um die Erkenntnis nicht herumkommen, daß die beste Theorie sich in ihr Gegenteil verkehrt, wenn sie die geistige Elastizität hemmt und Selbstdenken überflüssig machen soll.

Wer heute vorschlägt, daß sich Sozialdemokraten und Kommunisten endlich einmal wieder ohne entsicherten Revolver in der Tasche aussprechen sollten, hat von beiden Seiten keine Rosensträuße zu erwarten. Aber grade die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von Separationen und Wiedervereinigungen. Wie oft hat das harte letzte Wort, das unerbittliche »Niemals« nicht einmal für kleine Zeiträume Geltung gehabt. Beide Richtungen der Arbeiterbewegung haben Millionen von Anhängern. Daß die eine die andre einmal mit Haut und Haaren überschlucken wird, ist ein optimistischer Funktionärstraum und durch die Erfahrung von zehn Jahren widerlegt. Sind beide Parteien auch programmatisch und taktisch scheinbar himmelweit von einander entfernt, so groß ist doch der Raum zwischen ihnen nicht, wie er gestern noch war zwischen den Nationalisten und Reaktionären aller Länder, die heute trotzdem das neue internationale Glacis des Fascismus unbedenklich betreten. Die Arbeiterschaft weiß das weit besser als die in garantiert echter Parteiwolle Gefärbten. Aber sie kann wenig ausrichten, denn der Schlüssel liegt in den Händen der beiden Bureaukratien. So wird sie müde, so verfällt sie vorübergehend den primitiven Hitlerparolen; bei den Nationalsozialisten gibt es wenigstens keinen alles zermalmenden-ismus, dort wird man nicht täglich auf Rechtgläubigkeit hin katechisiert. Wann wird man endlich in beiden sozialistischen Zentralen begreifen, daß ihre hochwichtigen Auseinandersetzungen nur noch Hahnenkämpfe sind, denen niemand mehr zusieht als das Korps der Funktionäre, das für seine Geduld ja honoriert wird.

Die Weltbühne, 7. Januar 1930


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