Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften 1929 - 1930
Carl von Ossietzky

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Wahlkampf: die Revisionisten

Der Reichskanzler Doktor Brüning hat vor ein paar Tagen eine Rede gehalten, die als ein Dämpfer für Herrn Treviranus aufgefaßt wurde. Ebenso hat Herr Curtius fühlen lassen, daß der Minister eines seit zwei Monaten von jeder Arbeit geräumten Ressorts in seinem Gehege nichts verloren habe. Und schließlich hat das Kabinett neu bekundet, daß in Dingen der Außenpolitik volle Einmütigkeit herrsche.

Damit hat Herr Treviranus also seinen Wischer weg, und selbst sein unversöhnlichster Gegner muß zugeben, daß er ihn mit Würde trägt. Er hat auch keinen Grund zum Verzweifeln, denn von alters weiß man, daß solche beruhigenden außenpolitischen Erklärungen nicht viel wiegen, wenn eine große innenpolitische Entscheidung vor der Tür steht. Außerdem fällt noch die genfer Tagung in diesen Zustand von Ungewißheit. So lange nichts geklärt ist, muß auch alles vermieden werden, was unsre Delegation für die freimütigen Äußerungen des Herrn Ministers mit dem geräumten Portefeuille haftbar machen könnte. So wird dem treuherzigen Mariner bedeutet, sein geräuschvolles Schifferklavier einstweilen abzustellen, und der saure Herr Brüning quält sich pazifistische Lyrismen ab.

Warum wird das selbst von linken Republikanern mit so viel Genugtuung verzeichnet? Wir wissen, wer Herrn Treviranus stützt und wessen Autorität sein Dazwischenregieren möglich macht. Wir wissen auch, daß der mit ihm eng befreundete Kanzler viele seiner Anschauungen teilt. Mindestens außerhalb Deutschlands ist es nicht vergessen, daß Herr Brüning den blauen Freund ursprünglich zum Außenminister ausersehen hatte, und heute gilt er in manchen Kreisen bereits wieder als der designierte Außenminister des Hindenburgkabinetts nach den Wahlen, des Diktaturkabinetts. Vielen seiner eignen Parteigenossen erscheint Herr Curtius als zu sachlich und zu schwächlich. Wenn die geschlagene Partei Scholz noch engern Anschluß an die Rechte suchen muß, dann wird dort gewiß die Preisgabe des einzigen Mannes verlangt werden, der anständig aber kraftlos verwaltet, was von Stresemanns Nachlaß noch nicht verwirtschaftet ist.

Das bedeutet selbstverständlich nicht gleich Krieg nach Ost und West. Denn grade unsre heißesten Nationalisten haben immer auf gute Beziehungen zu Einzelexemplaren des Feindbundes gehalten. Hitler geht mit dem italienischen Erbfeind fremd, Mahraun mit dem französischen. Die Deutschnationalen, in ihrer unübertroffenen synthetischen Begabung, schäkern zugleich mit dem Foreign Office und seinem roten Widerpart im Kreml. Als Herr Kapp in die Wilhelm-Straße einzog, war seine erste Tat, den englischen und französischen Militärmissionen seine Ergebenheit und Vertragstreue versichern zu lassen. Wenn heute Hugenberg und Hitler zur Macht kämen, würden sie wahrscheinlich den Franzosen die Rheinlande, den Italienern Tirol und Bayern, den Engländern Hamburg und Bremen, den Tschechen Sachsen und die Lausitz anbieten, um nur im übrigen Deutschland ungestört herrschen zu können. Und nur gegen Polen würde das große Maul geführt werden, damit wenigstens ein Erbfeind à la suite gehalten bleibt.

Von der nationalen Trompete zur nationalen Tat ist ein weiter Weg. Die Gefahr besteht nicht darin, daß der Korridorstratege Treviranus morgen schon in den Kampf zieht sondern in der Veranstaltung außenpolitischer Hetze zu innenpolitischen Zwecken. Die Diktatur braucht viel Säbelgerassel, und unsre Diktatoren von morgen stellen schon heute die Revision der Friedensverträge als Hauptpunkt in ihr Programm. Natürlich nicht auf militärischem Wege: die deutsche Außenpolitik muß elastisch werden, bald dieser, bald jener Mächtekoalition gefällig sein, um auf diese Weise wieder ein Faktor in der Weltpolitik zu werden. So etwa sagen es Treviranus und seine Freunde, nicht viel anders aber auch die Herren weiter links. Der ganze Wahlkampf ist von einem Revisionsgeschrei erfüllt, bei dem sich keiner viel denkt, das aber außerhalb unsrer Grenzen bitter ernst genommen wird. Diese superkluge Vorstellung, mit allen und zwischen allen bindungslos spielen zu können, ist nicht weniger töricht als der Glaube an den Krieg gegen alle, wie ihn die Ganzwilden wollen. Mit solchen Kunststücken wird Deutschland nicht Subjekt der Außenpolitik sondern im Endeffekt Prügelobjekt für alle.

Daß Mussolini Satelliten braucht, ist bekannt. Die meisten von den Revisionisten sind zum Mitmachen bereit. Die militärische Liaison mit Moskau war gemeingefährlich und für beide Teile gleich wenig ehrenvoll. A propos, hat die russophile Haltung der Reichswehrgeneralität die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland gebessert oder der Kommunistenverfolgung in Deutschland ein Ende gemacht? Aber auch von französischer Seite kommen Offerten, die mit größter Vorsicht behandelt sein wollen. Herr Jules Sauerwein, zum Beispiel, hat am 7. Juli im ›Matin‹ ein Programm deutsch-französischer Annäherung entwickelt, dessen erster Punkt sehr vernünftig Bildung einer Einheitsfront fordert, um mit Amerika wegen besserer Regelung der Reparationsfrage verhandeln zu können. Das ist klug und richtig gedacht. Fatal ist schon der zweite Punkt: »Verständigung über die Erlaubnis für Deutschland, ein Heer zu unterhalten, dessen Stand eines großen Landes würdiger ist, um jede Verheimlichung möglichst überflüssig zu machen.« Welch eine Generosität! Sollte aber Frankreich wirklich aus reiner Menschenliebe dem problematischen Nachbarn eine neue Paradetruppe gestatten, nur um der deutschen Eitelkeit Futter zu geben? Es ist doch wohl nicht zu zweifeln, daß dieses Heer, »dessen Stand eines großen Landes würdiger ist«, im Ernstfall für Frankreich zu marschieren hätte. Nicht Freiheit würde das bedeuten sondern ein unwürdiges Mietlingtum für fremde Interessen. Deutschland würde die Schlachtfelder und die zum Siege erforderlichen Leichen zu liefern haben, und alles, um am Ende seine Fahne auf einem Fetzen zerstörten Landes aufpflanzen zu können.

Die Verträge von 1919 sind hart aber nicht ungerechter, als solche Verträge, die das Fazit einer eindeutigen Situation ziehen, zu sein pflegen. Es hat auch im Krieg bei uns niemanden gegeben, der geraten hätte, im Falle des Sieges die Andern zu pardonnieren. Schon die Wenigen, die nicht so viel annektieren wollten wie die Alldeutschen, waren wie Geächtete. Es gibt nicht viele unter uns, die mit gutem moralischem Recht eine Änderung der Verträge fordern dürfen. Und was wäre mit einer Änderung, mit einer Rückgabe verlorener Territorien auch gewonnen? In diesen elf Jahren ist in den abgetretenen Gebieten gearbeitet worden, fremde Kraft, fremdes Geld steckt darin; sie haben einen ganz andern Charakter als in der deutschen Zeit. Was jetzt Mehrheit ist, wird wieder Minderheit werden. Die Pulverfässer erhalten eine neue nationale Etikette. Das ist alles. Es kommt nicht darauf an, die Grenzen neu zu ziehen sondern ihnen ihre sakrale Bedeutung zu nehmen. Gute Wirtschaftsabkommen, Herr Sauerwein, nicht Militärpakte, schaffen ein besseres Europa. Militärische Allianzen fördern vielleicht das Rapprochement der Generale, aber sie trennen die Völker.

Dieses Europa ist gewiß fragwürdig konstruiert und voll von Gebresten. Aber ein Kindskopf nur kann annehmen, es würde gesünder werden, wenn Danzig, wenn Eupen-Malmedy wieder ans Reich zurückfielen. Ein sozialistisches Deutschland dürfte mit Recht die Zahlungen weigern, die Schuldscheine zerreißen, denn das Arbeiterdeutschland würde ein höheres Prinzip gegenüber den bürgerlich-kapitalistischen Siegermächten verkörpern, an keine Vergangenheit gebunden sein. Aber dieses bürgerlich-kapitalistische Deutschland hat kein sittliches Anrecht auf Vertragsbruch gegenüber Mächten, die aus dem gleichen Stoff gemacht sind, nicht einmal ein Recht auf das ewige moralische Lamento. Was ist denn geschehen? Die Generale der französischen Fabrikanten haben sich talentierter erwiesen als die der deutschen. Folglich müssen die deutschen Fabrikanten zahlen. Warum der fürchterliche Krakehl? Wenn einmal die rote Fahne über Europa aufsteigt, werden sie sich doch vertragen.

Die Weltbühne. 9. September 1930


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